Herbert NOW AK, Hallein
SILBO GOMERO
Die Pfeifsprache der Kanareninsel Gomera
Auf der kleinen Kanareninsel Gomera erhielt sich bis zum heutigen Tag
eine aus der Ureinwohnerzeit stammende Pfeifsprache, die an Perfektion
kaum mehr zu übertreffen ist. Schon 1881 hat sie der kanarische Forscher
BETHENCOURT ALFONS0 1 beschrieben, 1887 setzte sich QUEDENFELDT
2 damit auseinander, wahrend mit der Studie von CLASSE 3 die wohl
beste Darstellung über den silbo gomero vorliegt. Allerdings unterlief
CLASSE hinsichtlich der Auswahl seines Interpreten ein nicht unwesentlicher
Fehler, da er einen Mann aus dem küstennahen El Molinito im Tal von
San Sebastian für seine Arbeit auswahlte. Eine gomerische Erfahrung ist
jedoch, daE Interpreten aus Talern und niedrigen Küstenstrichen bezüglich
ihrer Pfeifkünste gegenüber den Bergbewohnern weit zurückstehen, wie
spater noch begründet werden wird. AuEerdem soll gleich festgehalten werden,
daE in den verschiedenen Inselteilen die Pfeifsprache unterschiedlich
interpretiert wird. So pfeift man im schroffen und zerklüfteten Norden
harter und kürzer als in den weiten Gebieten des Südens, etwa um Alajeró,
wo der Silbo langgezogen üher die offene Landschaft streicht. Mir wurde von
einem Gewahrsmann in Hermigua erzahlt, daB dieser sehr ,,verschlüsselt"
und für die Leute aus dem Norden kaum verstandlich sei.
Ohwohl sich die Gomeros des ethnologischen Wertes der Pfeifsprache
vollauf bewuBt sind, beginnen die modernen Kommunikationsmittel (Telefon,
Motorrader, Autos, StraBen) die Pfeifsprache aus den Talern zu verdrangen.
GroE ist das Interesse der europaischen Rundfunkstationen an dieser
Raritat. Seit vor etwa zehn Jahren Radio Bern seine Aufnahmen machte,
kommen immer mehr Aufnahmeteams zur Insel. Dabei ist die gomerische
Pfeifsprache nicht die einzige dieser Welt. HASLER 4 berichtet von Pfeifsprachen
der Indianer Mittelamerikas; bis heute ,,pfeifen" die Berber der
Oase Siwah 5
, und TESSMANN 6 fand bei den Bayas in Kamerun eine gepfiffene
Verstandigung. AuEerdem sind wir üher eine gepfiffene Sprache von
Bewohnern der ehemaligen chinesisch-tibetischen Grenze unterrichtet, doch
fehlen darüher nahere Angahen.
Bei der gomerischen Pfeifsprache handelt es sich nicht um eine Verstandi-
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gung durch verabredete Pfiffe, sondern um die ,,übersetzung" der spanischen
Umgangssprache bzw. des jeweiligen Wortes in Pfife. In verschiedenen Tonhohen
und Tonlangen werden die Selbstlaute a, e, i, o und u gepfiffen. Die
Tonhohe des ,,a" liegt in der Mittellage, das ,,e" etwas hoher, das ,,i" sehr
hoch, wahrend das ,,o" etwas tiefer als das ,,a" liegt und auch langer als
dieses gepfiffen wird. SchlieBlich folgt noch das ,,u", das sehr tief und ebenfalls
langer gepfifen wird. Kaum pfeifhar, im ,,Gesprach" aber heraushorbar,
sind die Mitlaute, welche praktisch ,,übergangslaute" zwischen den Vokalen
darstellen und immer die Klangfarbe des nachfolgenden Selbstlautes haben.
Am einfachsten kann man sich die Pfeifsprache wohl so vorstellen, daB man
ein Wort erst einmal ílüstert und es dann in einer Mischung aus FlüsternLispeln-
Pfeifen leise wiedergibt. Für diese Versuche eignen sich besonders
die vokalreichen Worte wie etwa Gomera, Amigo, Agulo, Fernando, Domingo,
Hermigua. Mit diesen Ausführungen theoretischer Natur, die bei der
vorgenannten Studie von CLASSE ausführlich behandelt werden, wollen wir
auf die praktische Verwendung des ,,silbo" übergehen.
Für die Bewohner des gebirgigen und von machtigen Schluchten durchzogenen
Gomera stellt die Kenntnis der Pfeifsprache eine absolute Notwendigkeit
dar, da die gepfiffene Nachrichtenübermittlung stundenweite FuBmarsche
erspart. Ein alter Gomero sagte mir einmal: Je besser Du pfeifen
kannst, umso weniger weit muBt Du laufen! Dr. Alberto Trujillo, Arzt in
Vallehermoso, erzahlte mir, daB er einmal, über zahlreiche Pfeifstationen
gehend, innerhalb von zwanzig Minuten von einer Erkrankung im stundenweit
entfernten Dorf Taguluche verstandigt wurde; durch den erzielten Zeitgewinn
konnte der gefahrlich Erkrankte gerettet werden. Auch im Spanischen
Bürgerkrieg wurden Gomeros eingesetzt: Als vor der Madrider Front
durch kommunistisches Artilleriefeuer die Telefonleitung der nationalistischen
Batterien immer wieder zerstort wurde, entsandte man Gomeros als
Beobachter, die über mehrere Pfeifstationen die eigenen Geschütze so dirigierten,
daB schlieBlich die feindliche Stellung zerstort werden konnte.
AuBerdem tauschten die im Stellungskrieg auf beiden Seiten kampfenden
Gomeros oftmals Mitteilungen aus, wenn Post von der kleinen Heimatinsel
kam.
Theoretisch kann jedes gesprochene W ort übermittelt werden, selbst der
Text des ,,Don Quijote". Es wird jedoch von den einfachen Menschen nur
das verstanden, was den Wortschatz ihrer normalen Umgangssprache umfaBt.
über die Entstehung der Pfeifsprache vermag kaum etwas ausgesagt zu
werden. Bine antike Sage berichtet, daB die Romer von ihnen unterworfene
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Afrikaner für eine Erhebung mit dem Herausschneiden der Zunge bestraften.
Man vermutete eine dadurch entstandene Sprachanderung, und Herodot
berichtet van einem afrikanischem Volk, dessen Sprache dem Schwirren der
Fledermause glich. J edoch bestatigen meine Erfahrungen, die ich auf Gomera
machen konnnte, daB die Pfeifsprache ohne Zunge nicht moglich ist, da es ja
gerade diese ist, welche durch Vergr6Berung bzw. Verkleinerung des Mundraumes
die Tonhohe der Pfife formuliert. Wohl konnten der Zunge beraubte
Menschen eine Schrei-Sprache entwickelt haben, die auf dem Prinzip der
Pfeifsprache aufgebaut ist, um dadurch eine Verstandigung über weite Entfernungen
herzustellen, doch handelt es sich dabei um einen durch nichts
gestützten Gedanken. Wir konnen auch heute kaum mehr feststellen, oh nur
die Gomera besiedelnden Stamme vor der spanischen Eroberung eine Pfeifsprache
kannten, oder oh dies auch für jene der anderen Inseln des Archipels
zutrifft. Wenn nun Gomera durch seine landschaftliche Form mit seinen
weiten und tiefen Talern, welche bestgeeignete Echoraume darstellen, für die
Pfeifsprache geradezu ideal ist (Voraussetzungen, die auf den anderen Inseln
in einer solchen Einheitlichkeit meist fehlen, da sie durch ihre vulkanischen
Manifestationen eine gr6Btenteils zu sehr schallschluckende Landschaft
haben) so konnte man darin eine Ursache dafür sehen, warum in den vergangenen
J ahrtausenden auf den anderen Inseln eine Pfeifsprache hatte in
V ergessenheit geraten konnen. V on einer Isoliertheit des Altgomerers kann ja
dank der Studien SCHWIDEZTKY s 7 keinesfalls gesprochen werden, da
eindeutige Relationen zwischen Gomera und Tenerif e, und auch zwischen
Gomera und den anderen Inseln wie Hierro, La Palma und Gran Canaria, in
anthropologischer Sicht festgestellt wurden.
Die Reichweite des Silbo Gomero ist van verschiedenen klimatischen
Umstanden abhangig, denn Witterung und Windverhaltnisse spielen bei der
überbrückung groBer Distanzen eine entscheidende Rolle. Die maximale Entfernung
zwischen zwei ,,Sprechern" dürfte im Tal van Hermigua, bei absoluter
Windstille und zur Nachtzeit, mit einer Distanz van 4-5 km erzielt
worden sein, Alle anderen Entfernungen, welche fallweise angegeben werden,
sind ertraumt.
Man darf ohne übertreibung festhalten, daB nahezu die gesamte Bergbevolkerung
Gomeras heute noch die Pfeifsprache beherrscht, wahrend in
den Talsiedlungen infolge Telefon und moderner Verkehrsmittel mit einem
Rückgang um mehr als 50% gerechnet werden muB. So kann vor allem die
heranwachsende Jugend in den Talern mit der Tradition nichts mehr anfangen
und betrachtet die Pfeifsprache als ein attraktives - aber kaum be-
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herrschtes - Hobby, wahrend sie in den Bergen, in denen es wenig fahrbare
StraBen gibt und das Telefon einen nicht erschwinglichen Luxus darstellt,
eine unumgangliche Notwendigkeit darstellt. Hier erlebt man auch stündlich
die praktische Anwendung dieser Sprache. Man bestellt sich zur übernachtung
ein Bett; bespricht, was im Tal eingekauft werden soll; verstandigt sich,
wenn ein Fremder auftaucht; regelt die Bewasserungszeiten; fragt an, wann
ein Priester kommt, um die Messe zu lesen oder ob und wann am Sonntag
zum Tanz aufgespielt wird.
Es ist sicher, daB diese Pfeifsprache nicht im Zeitraum nach der Eroberung
der Insel, also vor rund 500 Jahren, von den eingewanderten Spaniern
erfunden wurde. Vielmehr zeigt uns eine Episode aus der Eroberungsepoche,
dem Jahre 1488, eindeutig, daB die Pfeifsprache aus der vorspanischen Zeit
stammt. Die schone Eingeborene Iballa war die Geliebte des ersten rechtmaBigen
Grafen Gomeras, Hernán Peráza. Als er wieder einmal bei ihr, in
einer Hohle nahe Guahedun weilte, horte sie aus den Pfiffen ihrer Stammesgenossen,
daB diese ihren graílichen Liebhaber verfolgten und ermorden
wollten. Dieser Plan der Altgomerer hatte seine Berechtigung, denn Peráza
und seine angetraute Gattin, Beatrix de Bobadilla, beherrschten die Insel mit
Grausamkeiten und Gewalt. Iballa teilte dem Grafen das aus der Pfeifsprache
Gehorte mit und riet ihm zur Flucht. Peráza floh in den Kleidern
Iballas, doch wurde er erkannt und Iballa rief ihm jenen schon klassischen
altkanarischen Satz nach ,,ajeliles juxaques aventamares" 8
, was wir etwa mit
,,Eile, sie sind hinter dir her" übersetzen wollen. Um das Drama abzuschlieBen,
sei noch festgehalten, daB die Flucht des Grafen miBlang - der
Tyrann wurde erschlagen, und ein furchtbares Strafgericht kam über die
Insel 9
•
All dies zeigt deutlich, daB der heutige ,,silbo gomero" - der die spanische
Sprache in Pfeiflaute umsetzt - nichts anderes als eine Adaption eines
vorspanischen silbo in der Eingeborenensprache darstellt, die durch ihren
Vokalreichtum für die Umsetzung in artikulierte Pfiffe ebenso geeignet war
wie das Spanische.
Wir kennen heute auf Gomera verschiedene Arten, wie die Pfife hervorgebracht
werden. Es werden meist ein oder zwei Finger an den Mund angelegt
oder es wird auch der gebogene Zeige- oder Mittelfingerknochel zur
Hervorbringung des Pfifes verwendet. Sobald nun eine Hand für die Interpretation
verwendet wird, dient die freie Hand meist als Schalltrichter. Die
klarste Artikulation ergibt sich bei der Pfeifart ohne Finger oder Knochel,
also nur unter Verwendung der Zunge und Zahne. Diese Methode erlaubt es,
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beide Hande als Schalltrichter einzusetzen, doch geht das Fehlen der Finger
angeblich auf Kosten der Lautstarke. Aus groBerer Entfernung gleicht die
gomerische Pfeifsprache einem vielfach verstarkten Vogelgezwitscher. Sie
klingt melodisch und schon. Es bleibt nur zu wünschen, daB alles getan wird,
um dieses Erbe der steinzeitlichen Ureinwohner zu erhalten.
ANMERKUNGEN:
1 BETHENCOURT ALFONSO, Juan: El silbo articulado en la Gomera, Revista de
Canarias, Nr. 71, 8.11.1881, Santa Cruz de Tenerife.
2 QUEDENFELDT, M.: Pfeifsprache auf,.der Insel Gomera, in: Verhandlungen der
Berliner Anthropologischen Gesellschaft, S. 731-741, Berlín, 1887.
3 CLASSE, Andre: La fonética del wbo gomero, in: Revista de Historia, Nr. 125-128,
La Laguna/Tenerife, 1959.
4 HASLER, Juan A.: El Lenguaje Silbado, in: La Palabra y el Hombre, Nr. 15, JuliSeptember
1960, Jalapa.
5 WÓLFEL, D. J.: Leonardo Torriani, Die Kanarischen lnseln und ihre Urbewohner,
Koehler-Verlag, Leipzig, 1940, Seite 60.
6 siehe Anmerkung 5.
7 SCHWIDETZKY, Use: Die vorspanische Bevolkerung der Kanarischen lnseln, Beiheft 1
zu HOMO, Musterschmidt-Verlag, Gottingen, 1963.
8 WÓLFEL, D. J.: Monumenta Linguae Canariae, Akademische Druck- u. Verlagsanstalt,
Graz, 1965, Seite 395.
9 WÓLFEL, D. J.: Los Gomeros vendidos por Pedro de Vera y doña Beatrix de Bobadilla,
in: El Museo Canario, Band 1, Las Palmas de Gran Canaria, 1930. Gekürzte
Übersetzung in diesem Jahrgang ,,ALMOGAREN"!
SUMMARY
The author describes his own experiences in regard to the whistle speech
in the island of Gomera by which messages can be conveyed in rugged
territory over distances of up to three miles (about 5 kilometers). Gomerian
"Silbo" is obviously an adaptation of an aboriginal whistle language to
modern Spanish which also abounds in vowels.
RESUMEN
El autor describe sus experiencias personales con el lenguaje silbado de la
isla de Gomera, con el que se pueden transmitir mensajes a distancias de 4 y
5 kilómetros. Este "silbo gomero" es una clara adaptación de un lenguaje
silbado prehispánico al no menos rico en vocales lenguaje de los españoles.
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© Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017
Foto: H. Nowak Foto: H. Nowak
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