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ALMOGAREN XXVIII/1997MM3 ALMOGAREN XXVIII/1997 IC INSTITUTUM CANARIUM ICDIGITAL Separata XXVIII-1 4MMALMOGAREN XXVIII/1997 ICDIGITAL Eine PDF-Serie des Institutum Canarium herausgegeben von Hans-Joachim Ulbrich Technische Hinweise für den Leser: Die vorliegende Datei ist die digitale Version eines im Jahrbuch "Almogaren" ge-druckten Aufsatzes. Aus technischen Gründen konnte – nur bei Aufsätzen vor 1990 – der originale Zeilenfall nicht beibehalten werden. Das bedeutet, dass Zeilen-nummern hier nicht unbedingt jenen im Original entsprechen. Nach wie vor un-verändert ist jedoch der Text pro Seite, so dass Zitate von Textstellen in der ge-druckten wie in der digitalen Version identisch sind, d.h. gleiche Seitenzahlen (Pa-ginierung) aufweisen. Der im Aufsatzkopf erwähnte Erscheinungsort kann vom Sitz der Gesellschaft abweichen, wenn die Publikation nicht im Selbstverlag er-schienen ist (z.B. Vereinssitz = Hallein, Verlagsort = Graz wie bei Almogaren III). Die deutsche Rechtschreibung wurde – mit Ausnahme von Literaturzitaten – den aktuellen Regeln angepasst. Englischsprachige Keywords wurden zum Teil nach-träglich ergänzt. PDF-Dokumente des IC lassen sich mit dem kostenlosen Adobe Acrobat Reader (Version 7.0 oder höher) lesen. Für den Inhalt der Aufsätze sind allein die Autoren verantwortlich. Dunkelrot gefärbter Text kennzeichnet spätere Einfügungen und/oder Änderungen der Redaktion oder des Autors. Alle Vervielfältigungs- und Medien-Rechte dieses Beitrags liegen beim Institutum Canarium Hauslabgasse 31/6 A-1050 Wien IC-Separata werden für den privaten bzw. wissenschaftlichen Bereich kostenlos zur Verfügung gestellt. Digitale oder gedruckte Kopien von diesen PDFs herzu-stellen und gegen Gebühr zu verbreiten, ist jedoch strengstens untersagt und be-deutet eine schwerwiegende Verletzung der Urheberrechte. Weitere Informationen und Kontaktmöglichkeiten: institutum-canarium.org almogaren.org Abbildung Titelseite: Original-Umschlag des gedruckten Jahrbuches. Institutum Canarium 1969-2015 für alle seine Logos, Services und Internetinhalte ALMOGAREN XXVIII/1997MM5 Inhaltsverzeichnis (der kompletten Print-Version) Hans-Joachim Ulbrich: Sexualität und Scham bei den Altkanariern .................................................. 7 Werner Pichler: Der Streit um das Alter der kanarischen "Pyramiden". Eine Chronologie der Ereignisse. .........................................................................89 Friedrich Berger: Alte Darstellungen von Mühlebrettern in Deutschland ............................... 97 Carmen Díaz Alayón & Francisco Javier Castillo: Bethencourt Alfonso y los prehispanismos del habla de El Hierro ..........115 Hartwig E. Steiner: Brandopfer-Altäre in El Julán auf El Hierro II. Opferstätten im Umfeld von "Los Letreros". ................................................ 195 Friedrich Berger: Paviane im Fezzan ................................................................................................. 235 Werner Pichler: Neue Aspekte zum Thema "latino-kanarische Inschriften" ...................... 239 6MMALMOGAREN XXVIII/1997 Ulbrich, Hans-Joachim (1997): Sexualität und Scham bei den Altkanariern.- Almogaren XXVIII (Institutum Canarium), Vöcklabruck (Austria), 7-88 (PDF 2015 with an addendum on p. 88a-88c) Zitieren Sie bitte diesen Aufsatz folgendermaßen / Please cite this article as follows: Beachten Sie bitte die Nachträge (2015) ab S. 88a. ALMOGAREN XXVIII/1997MM7 Hans-Joachim Ulbrich Sexualität und Scham bei den Altkanariern Almogaren XXVIII / 1997 Vöcklabruck 1997 7 - 88 Inhalt: 1. Einführung 2. Die Quellenlage 3. Hinweise in der historischen und ethnologischen Literatur 4. Die Manifestation in Felsbildern 5. Die Manifestation in Artefakten 6. Ergänzende Betrachtungen und Zusammenfassung 7. Benützte Literatur Sowie zahlreiche Tabellen und Abbildungen am Schluss des Aufsatzes. 1. Einführung Wenn wir aus der Sicht des modernen, aufgeklärten Menschen des 20. Jahrhunderts alte Kulturen und speziell das Sexualleben dieser Völker be-trachten, so geraten wir schnell in Gefahr, diese Verhaltensweisen als Exotik-um anzusehen, das man nicht ohne eine Portion Voyeurismus und Herablas-sung allzu gerne als schamlos und unzivilisiert bezeichnet. Es ist die ver-meintliche Schamlosigkeit, die unsere Entrüstung und auch unser voreiliges Urteil auslöst. Auch bei der Betrachtung altkanarischen Sexuallebens geht es in nicht geringem Maße um Scham, da viele der zahlreichen Zeugnisse, die uns vorliegen, gerade mit dieser Verhaltenseigenschaft zu tun haben. Sigmund Freud sah das Schamgefühl als Teil einer uns innewohnenden sexuellen Selbstbeschränkung, die läuternd und verfeinernd wirkt und so den Menschen kulturfähig macht. Er stellte sich selbst die Frage, ob dies ein na-türlicher Bestandteil der Triebhaftigkeit sei oder das Ergebnis eines kulturel-len Prozesses. Schließlich gab er seiner Triebtheorie den Vorrang und stufte kulturelle Einflüsse und ihre historischen Veränderungen als weniger rele-vant ein. Ob zum Beispiel auf den vorspanischen Kanarischen Inseln über-haupt ein Klima für große kulturelle Entwicklungen bestand, wird uns noch zu beschäftigen haben. Der Soziologe Norbert Elias (1976) wollte nun diese ahistorische Ausrichtung der Freud'schen Psychoanalyse durch seine soziolo-gisch- historische Analyse erweitern. In seinen Forschungen versuchte er dar- Keywords: Canary Islands, North Africa, Berber, aborigines, religion, social behaviour, sexuality, rock art, archaeology, history, ethnology, research, sources 8MMALMOGAREN XXVIII/1997 zulegen, wie sich aus den gesellschaftlichen Beziehungen und Abhängigkei-ten der Menschen untereinander eine historisch verfolgbare Art und Weise ergibt, wie mit Scham und Nacktheit umgegangen wird. Für diese Interpreta-tion der Beziehungen spreche z.B., dass seit dem Mittelalter eine Verstärkung des Schamgefühls zu verzeichnen sei. Für die breiten Massen verfolgbar ist in unserer Zeit eher ein Rückgang zu verzeichnen: Pornographie, Exhibitionismus und Voyeurismus sind nicht mehr nur Privatsache, sondern haben im kommerziellen Fernsehen weltweit ihren Platz, ebenso im Internet. Viele weitere Anzeichen, wie totales Nacktbaden an normalen Nicht-FKK-Stränden (u.a. in restriktiven Kulturräumen) und die zu-nehmende Tendenz, sich öffentlich in Talkshows und Sexmagazinen über in-timste Sexualthemen zu "outen", verstärken diesen Eindruck. Es knüpft sich die Frage an, in welchem Umfang nicht nur beim Agierenden sondern auch auf Seiten der Medien und des Zuschauers überhaupt noch Scham existiert? Der Einschätzung von Elias ist bereits von dem Kulturanthropologen Hans Peter Duerr (1990, 1994) heftig widersprochen worden. In einer breit angeleg-ten Untersuchung konnte er aufzeigen, dass auch im Mittelalter sehr wohl Schamregeln und Schamschranken existierten. Von einer damals ausgepräg-teren Freizügigkeit könne keine Rede sein. Duerr bezieht hier ausdrücklich die sogenannten "Naturvölker" ein, und weist dabei eine Vergleichbarkeit der Kulturprozesse (Mittelalter→ Gegenwart, Naturvolk→ zivilisiertes Volk) zu-rück. Dies sei – sinngemäß – noch einer überholten Kolonialideologie verhaf-tet, die sich einen Herrschaftsanspruch über die Dritte Welt und ihre "primiti-ven" und "unzivilisierten" Völker zurechtlege, indem sie die moderne westli-che Kultur als nachahmenswertes Vorbild darstelle. Solche Denkweise kann schon bei den ersten Versuchen einer Systemati-sierung der Völkerkunde Mitte des 18. Jhs. festgestellt werden. Hier sind u.a. Adam Smith, Adam Ferguson, Jean Turgot und Denis Diderot zu nennen, die Kulturunterschiede nur aufgrund unterschiedlicher Evolutionsstufen rationa-ler Erkenntnis und nicht aufgrund unterschiedlicher angeborener Fähigkeiten oder individueller Lebensgestaltung mit bestimmten Vorlieben zu erkennen meinten (Harris 1989: 437). Auch diesen Gelehrten ging es also um den unzi-vilisierten Menschen, der sich dank einsichtiger Ratio zum höher zivilisierten Menschen entwickelt; dies betraf natürlich auch die Moral. Die Ausführungen Duerrs zeigen, dass wir bei den Naturvölkern von einer Nacktheit sprechen können, die offenbar auch ohne Kleidung durchaus festen Schamregeln folgt. Dies klingt zunächst paradox, wird aber verständlich, wenn wir bestimmte Blick- und Interaktionskonventionen voraussetzen. Eine sol-che Betrachtungsweise deckt sich mit Erkenntnissen der ethnologischen Feld- ALMOGAREN XXVIII/1997MM9 forschung seit der Jahrhundertwende. Auch heute noch finden wir in soge-nannten "primitiven" Kulturen, dieses schamkontrollierte Schauen in unter-schiedlichster Ausprägung. Ich erwähne dies besonders deshalb, weil wir ei-nige Berichte der ersten Konquistadoren der Kanarischen Inseln gerade unter diesem Gesichtspunkt zu bewerten haben. Wie sieht nun der bisherige Stand der Forschungen aus? Genau so unge-rechtfertigt wie die prähispanische Kultur der Kanarischen Inseln nicht-exi-stent in europäischen und internationalen Standardwerken der Prä- und Proto-historie ist, so taucht auch die Sexualität der Altkanarier in keinem dieser Werke auf. Parrinder (1991) beschreibt z.B. die Sexualität in den afrikani-schen Religionen, erwähnt aber die Kanarischen Inseln mit keinem Wort. In den Augen vieler Wissenschaftler aus dem Bereich Anthropologie und Ar-chäologie scheinen die Kanarischen Inseln nur als Touristenghetto zu existie-ren, das überhaupt keine Vorgeschichte oder Kulturgeschichte hat. Deshalb weitgehend unbemerkt von der internationalen und speziell euro-päischen Früh- und Vorgeschichtswissenschaft hat sich bei der Erforschung der prähispanischen Kultur der Kanarischen Inseln ein Wissensstand entwik-kelt, der die Altkanarier als überaus wichtiges Bindeglied im Reigen der me-diterranen und atlantischen Völker ausweist. Wo im europäisch-mediterranen Raum konnte noch im 15. Jahrhundert eine Gesellschaft mit zum Teil stein-zeitlichen Merkmalen beobachtet werden? Nicht zu Unrecht wird die altka-narische Kultur als eindrucksvolles "Museum" prähistorischer Zeugnisse be-zeichnet, das uns wertvolle Auskünfte geben kann. Neben nach wie vor offenen Fragen bezüglich der Herkunft dieses Inselvol-kes sind es einzelne Bereiche der Kulturanthropologie, die noch einer intensi-ven Untersuchung harren. Dazu zählt auch der Komplex Sexualverhalten/ Schamgefühl, der zwar immer wieder in Arbeiten über die einzelnen Insel-kulturen auftaucht, aber nie synoptisch behandelt wurde. Ansätze hierzu fin-den sich in der Kulturanalyse von Hess (1950), in der Untersuchung der alt-kanarischen Frauenrolle durch Pérez Saavedra (1989a) und bei Tejera Gaspar (1989). Auf der Basis des späten 19. Jhs. beschreibt Bethencourt Alfonso (1985) Geburt, Mutterschaft und Tod im Alltagsleben seiner kanarischen Landsleute; inwieweit sich in diesen Gebräuchen Prähispanisches widerspiegelt, soll bei den Betrachtungen in Kapitel 3 behandelt werden. Aspekte der Heirat und des Ehelebens werden in der vorliegenden Arbeit nur einbezogen, soweit sie für das Verständnis des Sexual- und Schamverhal-tens hilfreich sind; für weitergehende diesbezügliche Informationen – auch über Fragen der Geschlechterrolle, des Matriarchats, der Matrilinearität und der Matrilokalität – sei die Arbeit von F. Pérez Saavedra (1989a) empfohlen. 10MMALMOGAREN XXVIII/1997 Parallel zu den Erkenntnissen der kanarischen Archäologie können wir auch in der Kulturanthropologie des nordwestafrikanischen Archipels mit großer Wahrscheinlichkeit feststellen, dass sich zahlreiche Riten und Verhaltenswei-sen, die bei der europäischen Conquista festgestellt wurden, auf sehr frühe Kulturmuster zurückgehen und teilweise einen sehr archaischen Eindruck hin-terlassen. Dies dürfte u.a. auf die Insularität der altkanarischen Kultur zurück-zuführen sein, die – nach heutigem Wissensstand – zu allen Zeiten nur sehr geringe Rückkontakte zum Festland einschloss. Das heißt, die Besiedlung von iberischen und afrikanischen Küsten aus war weitgehend eine Einbahnstraße. Beziehungen zum Festland, wie wir sie für die Hochzeit der kanarischen Be-siedlung (ca. 300 v.Chr. - 400 n.Chr.) und für einzelne Abschnitte des Mittelal-ters feststellen können, dürften hauptsächlich auf die Initiative von Besuchern, Entdeckern und "Geschäftsleuten" zurückgehen, die über eine weiterentwi-ckelte Seemanns- bzw. Schiffsbaukunst und entsprechenden Unternehmungs-geist verfügten. Für die Moralvorstellungen der Altkanarier bestand demnach ein konservierendes Ambiente, das sich in einzelnen Zeitabschnitten ohne gro-ße Impulse von Außen über Jahrhunderte hinweg aufrecht erhielt, bis spora-disch eintreffende neue Siedler frische Ideen und Gepflogenheiten einbrach-ten. Zu letzteren gehören auch religiöse Einflüsse, vor allem im punischen, rö-mischen und christlichen Bereich, für die wir einige Hinweise besitzen. Wie-weit nun Zusammenhänge zwischen dem religiösen und sexuellen Verhalten feststellbar sind, wird im Detail zu klären sein. Auch Unterschiede zwischen den einzelnen Inseln sind zu erwarten und sollen herausgearbeitet werden. Der Begriff "Altkanarier" gilt im Sprachgebrauch des Institutum Canarium für die Gesamtheit der prähispanischen Bevölkerung der Kanarischen Inseln; im Gegensatz zu "Kanarier", was für die gesamte neuzeitliche Inselbevölke-rung steht, die sich aus Ureinwohner-Nachkommen, Spaniern, Portugiesen, an-deren Europäern und Angehörigen vieler weiterer Ethnien, z.B. Berbern, zu-sammensetzt. Mit "Canario" ist jedoch bei manchen älteren Autoren und auch in diesem Aufsatz nur der Ureinwohner von Gran Canaria gemeint. Als weitere Volksnamen mit vorspanischem Ursprung (jeweils span. Plural) kennen wir Majos/Mahos (Lanzarote), Majoreros (Fuerteventura), Guanches (Tenerife), Bim-baches (El Hierro), Auaritas (La Palma) und Gomeros (La Gomera). 2. Die Quellenlage Ich streife die zur Verfügung stehenden Textquellen nur kurz, da sie bei den Zitaten in Kap. 3 systematisch aufgezählt werden. Angaben zum Sexual-und Schamverhalten finden wir z.B. im "Canarien", einem Bericht der Kaplä-ne der französischen Eroberer Jean de Bethencourt und Gadifer de la Salle, in ALMOGAREN XXVIII/1997MM11 den Berichten der nachfolgenden spanischen Konquistadoren, von denen vor allem Alonso Jaimes de Sotomayor zu nennen ist, und bei den frühen kana-rischen und peninsularen Historikern, deren Angaben zum Teil auf den vor-genannten Quellen beruhen oder auf selbst gesammelten Überlieferungen und Dokumenten. Weitere interessante Quellen sind der Bericht des italieni-schen Ingenieurs und Architekten Leonardo Torriani, der die Kanarischen Inseln Ende des 16. Jhs. im Auftrag des spanischen Königs Felipe II. bereiste, und das Geschichtsbuch des Fray Abreu Galindo; beide verwenden u.a. ein Manuskript des Antonio de Troya, der 1530-1577 auf den Inseln lebte. Wert-voll sind auch Expeditionsberichte des 14. Jhs. (Recco, Mallorkiner, Andalu-sier), Reiseberichte des 15. und 16. Jhs. (Portugiesen, Italiener usw.) sowie Beobachtungen auf bestimmten Inseln, wie die von Fray Espinosa auf Tenerife. Nachrichten über das Sexualleben der Ureinwohner sind in diesen Texten nur in sehr knapper Form enthalten – besonders was Angaben zum Sexual-verkehr selbst betrifft. Eine weitere Quelle für Rückschlüsse bietet uns die Archäologie mit ihren Untersuchungen altkanarischer Artefakte und die Felsbildforschung (Kapitel 4 / 5). So kann aus den vielen verstreuten Infor-mationen und aus zahlreichen Sekundärerkenntnissen ein einigermaßen typi-sierendes, wenn auch in Teilen hypothetisches Bild gezeichnet werden. Damit der Leser eine möglichst genaue Vorstellung von der textlichen Quel-lenlage erhält, wird der Großteil der Zitate im original Wortlaut (in deutscher Übersetzung) wiedergegeben und kommentiert (Kapitel 3). Die zeitliche Nähe des Chronisten zur Eroberung der einzelnen Inseln und damit zur Beendi-gung des rein eingeborenen Lebens (siehe Jahr der Manuskripterstellung bzw. des Erstdrucks) erlaubt gewisse Rückschlüsse auf die Authentizität der Nach-richten. Hier die Jahreszahlen der endgültigen Eroberungen: Lanzarote 1404, Fuerteventura 1405, El Hierro um 1448, La Gomera um 1415 (letzte Rebellion 1489), Gran Canaria 1483, La Palma 1493, Tenerife 1496. Insel Beginn christlicher Missionierung El Hierro um 1305 (ohne nachhaltigen Erfolg; Geschichte des Yone) Fuerteventura 1404 (Taufe der beiden Könige Januar 1405) Gran Canaria 1342 (Mallorkiner ohne nachhaltigen Erfolg) La Gomera um 1305 ? (ohne nachhaltigen Erfolg; Geschichte des Eiunche) Lanzarote 1403 (Taufe des Königs und seiner Familie erst 1404) La Palma 1424 (Episode um Fernando de Castro und Amaluige) Tenerife 1462-65 (Fund der Madonna von Candelaria schon um 1445) Alle Inselbevölkerungen hatten schon vor 1400 Kontakte mit Europäern (Expedi-tionen, Kolonisten, Händler, Piraten, Missionare) und auch Mauren. Eine breite Akzeptanz des Christentums setzte jedoch auf sämtlichen Inseln erst im 15. Jh. ein. 12MMALMOGAREN XXVIII/1997 3. Hinweise in der historischen und ethnologischen Literatur Die Wiedergabe der Textstellen (kursiv) erfolgt in der alphabetischen Rei-henfolge der Autoren-Namen und innerhalb der Autoren nach Inseln geord-net. Vorrang wird dabei Primärquellen gegeben, oder Sekundärquellen, die in bezug auf unser Thema nachweislich auf Primärquellen oder zeitnahen münd-lichen Überlieferungen beruhen. Abreu Galindo, Fray Juan de (Ms. ca. 1602) Dieser König [Zonzamas von Lanzarote] hatte eine Frau, Fayna genannt, die mit Martín Ruíz de Avendaño [einem ca. 1377 gestrandeten Basken] eine Toch-ter hatte, die sie Ico nannten. (1977: 61) Nachdem der baskische Adlige die Gastfreundschaft des Königs genoss und anschließend mit seiner Mannschaft unbehelligt und mit frischem Provi-ant versorgt wieder absegeln durfte, kann mit großer Wahrscheinlichkeit von einem Fall von Gastprostitution ausgegangen werden. Dies wird dadurch un-terstützt, dass Gastprostitution auch von Gomera und Gran Canaria gemeldet wird. Hätte der Baske die Königin – mit ihrem oder gegen ihren Willen – verführt, dann hätte dies sicher ernste Konsequenzen für beide gehabt. [La Gomera] Sie gingen splitternackt. [Einige Zeilen später aber auch:] Sie trugen Lederumhänge ... und der ganze Körper [darunter] nackt. (1977: 74) Beides war offenbar möglich. [El Hierro] Sie heirateten die Frau, die sie wünschten, ohne auf Verwandtschafts-verhältnisse Rücksicht zu nehmen, ausgenommen die Mütter und Schwestern. Und sie zahlten an den Vater oder die Mutter des Mädchens eine gewisse Men-ge Vieh, damit man ihnen die Tochter gebe. (1977: 89) [Gran Canaria] Die Canarios heirateten nicht mehr als eine Frau, und diese eine hatten sie bis zu ihrem Tod; und auch die Frauen hatten nie mehr als einen Mann. Dies widerspricht dem, was Pedro de Luján in seinen Diálogos Matri-moniales [korrekterweise "Coloquios Matrimoniales", Sevilla 1550] erzählt, dass nämlich eine Frau fünf Canarios heirate und nicht weniger. (1977: 153-155) Sowohl Abreu als auch Torriani und Castillo bekräftigen, dass die Nachricht von Luján falsch ist. Die Meinung von Pérez Saavedra (1989a: 81), dass ein Kirchenmann wie Abreu Galindo ein derart unchristliches Verhalten wie Viel-männerei sicher nur sehr widerwillig korrekt behandelt haben dürfte, könnte zutreffen. Denkbar wäre allerdings eine Verwechslung mit den Sitten auf Lanzarote; Luján konnte von den Verhältnissen auf Lanzarote gehört haben, ohne die entsprechenden Nachrichten des "Canarien" zu kennen, der erst 1629 erstmals gedruckt wurde. Für einen zeitweiligen Männerüberschuss auf Gran Canaria (nach Àlvarez Delgado 1981: 47 zwischen 1405 und 1450) spricht jedoch die Tatsache, dass aus Gründen einer Hungersnot, die nur zum Teil mit ALMOGAREN XXVIII/1997MM13 schlechten Ernten zu erklären ist, der Infantizid weiblicher Neugeborener durchgeführt wurde (Abreu 1977: 154-155, 169 und archäologisch erhärtet; laut Diogo Gomes auch auf La Palma bei männlichen Neugeborenen). Als weiteren Grund für die Nahrungsknappheit auf Gran Canaria nennt Gómez Escudero (1993: 440) Überbevölkerung, die auf einen Frauenüberschuss (an-geblich 10 Frauen auf einen Mann) zurückzuführen war. Die von Luján er-wähnte Polyandrie dürfte nur in dieser Zeit nach dem Infantizid (anfangs der Conquista) ausgeübt worden sein, als der Frauenüberschuss in einen Männer-überschuss umsprang. In den letzten Jahren der Conquista hatte die Hungers-not auch soziale Ursachen: Normalerweise für die Feldarbeit eingeteilte Män-ner wurden als Krieger und Wachtposten eingesetzt und begünstigten so das Brachliegen der Äcker – ganz zu schweigen von den vielen Gefallenen. [Gran Canaria] Bei den hochrangigen und adligen Leuten pflegte man die jun-gen Mädchen, sobald sie heiraten wollten, dreißig Tage lang abgesondert zu halten und sie mit Milchgetränken, Gofio und anderen Speisen zu füttern, da-mit sie fetter würden. Das gleiche widerfuhr den übrigen Jungfrauen. In der Nacht bevor sie ihrem Bräutigam zugeführt wurden, gab man sie zuerst dem Guanarteme [Stammeshäuptling], damit er sie entjungfere. Dieser konnte sie auch an einen Priester [der zugleich Vizekönig oder Gebietsgouverneur war] oder anderen Adligen weitergeben, ob sie nun Jungfrau war oder nicht. Magere [Mädchen] wurden nicht geheiratet, weil man sagte, sie hätten einen [zu] klei-nen und engen Bauch, um schwanger zu werden. (1977: 155) Das ius primae noctis (Recht der ersten Nacht) ist in vielen Kulturen aller Zeiten dem Clanchef, dem Priester, dem örtlichen Adelsherrn oder dem regie-renden Oberhaupt vorbehalten gewesen – auch im frühgeschichtlichen Iberien und Nordafrika gab es solche Fälle. Hier spielt die archaische Furcht des Mannes vor dem "unreinen" Blut der gerade Entjungferten oder vor Men-struationsblut und vaginalen Absonderungen eine Rolle; die so mit der Ent-jungferung verbundenen negativen Auswirkungen heil zu überstehen, ver-mochte nur ein mit größeren magischen Kräften Ausgestatteter. Hinzu kam in vielen Fällen die Meinung, dass die Braut gleichzeitig auch positive magische Kräfte von dem sie Entjungfernden übertragen bekam – deshalb wahrschein-lich auch der Gedanke des ehrenvollen Beischlafs durch den Guanarteme bei den grancanarischen Bräuten und Gastgeber-Ehefrauen. Hess (1950: 95) sieht das ius primae noctis auf Gran Canaria als Ausdruck einer Überschichtung einer bereits bestehenden Vorbevölkerung durch eine stärkere Einwanderungs-gruppe – falls die soziale Schichtung nicht schon immanent war. Die Altkanarier (zumindest auf Tenerife und Gran Canaria) scheinen generell eine Abscheu vor Blut gehabt zu haben, denn ihre Viehschlächter waren eine unberührbare Kaste; bei den Berbern ist gelegentlich eine sehr niedrige soziale Stufe der Schlächter zu verzeichnen, aber nicht in der Form rigoroser Ausgrenzung. 14MMALMOGAREN XXVIII/1997 Fälle von sozusagen multipler Entjungferung sind auch bekannt: Bei den nordmarokkanischen Ghomara (nach El Bekri) und bei den libyschen Nasa-monen (nach Herodot) war die Braut sogar für alle Männer unter den Hoch-zeitsgästen freigegeben. Interessant ist die Mästung der zur Heirat vorgesehenen Mädchen, mit der die Canarios offenbar meinten, die Empfängnisfreudigkeit zu steigern. Nach Viera (1982 I: 167) glaubte man, ein kleiner Bauch könne kein robustes Kind empfangen. Es ging also vordergründig nicht um eine problemlose Schwan-gerschaft und ein gesundes Heranwachsen des Fötus, sondern um die irrige Annahme, Fleischansatz zeuge von großer Gesundheit und schaffe günstige Bedingungen für den männlichen Samen (unabhängig z.B. davon, ob ein Mäd-chen gesunde Sexualorgane und ein tatsächlich für die Schwangerschaft gut geeignetes Becken besitzt). Der Fruchtbarkeits- und Sexualbezug des schwan-ger gewölbten Bauches wurde demnach schon in die Zeit vor der Empfängnis transponiert. Archäologische Unterstützung für die ethnologischen Nachrich-ten erhalten wir in zahlreichen grancanarischen Statuetten, die fettleibige weibliche Personen darstellen. Wir haben es mit einem Fruchtbarkeitsritus zu tun, der seine Ursprünge eher im ostmediterranen Bereich hat als im berberi-schen (siehe auch Kap. 4/ 5). Brautmästen ist bei den Berbern des benachbarten Marokko ungebräuch-lich; lediglich bei mauritanischen Stämmen der Sahelzone und bei den südli-chen Tuareg (Iwllemeden) existiert es vereinzelt. Hier liegt vielleicht eine Ausstrahlung schwarzafrikanischer Kulturen vor, bei denen diese Sitte eben-falls anzutreffen ist. Nach L. Bertholon (in Hess 1950: 95) soll es auch auf der tunesischen Insel Djerba Brautmästen gegeben haben. Die 30 Tage dauernde Absonderung der jungfräulichen Bräute auf Gran Ca-naria dürfte nicht nur der Mästung gedient haben, sondern auch der Initiation in die Welt der erwachsenen Frau mit ihren erotischen und gynäkologischen Anforderungen. Bei den schwarzafrikanischen Xhosa wurden die Mädchen sogar mehrere Monate abgesondert und instruiert (Parrinder 1991: 169). [Gran Canaria] Ihre Gesänge waren schmerzvoll, traurig, liebevoll oder unheil-voll ... (1977: 157) Diese Gesänge waren von Wehmut, Melancholie und Katastrophenstim-mung geprägt und wurden von den Spaniern deshalb endechas ("Klagelie-der") genannt; natürlich war auch die Liebe zwischen Mann und Frau ein beliebtes Thema. Die Crónica Ovetense (1993: 112) erwähnt "abwesende oder verstorbene Geliebte", die auf El Hierro besungen wurden. [La Palma] Diese drei Brüder [Gebietshäuptlinge von Tedote-Tenibucar] ... amüsierten sich mit vielen jungen Mädchen, die sich mit ihnen [den Brüdern] verheiraten wollten. ALMOGAREN XXVIII/1997MM15 Dies ist eine der wenigen Nachrichten von La Palma; offenbar war auf dieser Insel der voreheliche Verkehr erlaubt bzw. üblich. Im übrigen waren die palmesischen Frauen sehr emanzipiert, was sich u.a. darin ausdrückte, dass sie neben den männlichen Kämpfern gleichwertige, wenn nicht sogar tapfere-re Kriegerinnen waren, die sich auch nicht scheuten, persönlichen Zwist mit Männern kämpferisch auszutragen. Ihre Körpermaße werden als für Frauen sehr groß angegeben. [Tenerife] Der König heiratete immer eine gleichwertige [Frau aus dem Adel] oder – wenn eine solche fehlte – seine Schwester, um nicht sein Blut zu be-schmutzen. Eine Heirat mit einer niedrigeren oder nicht-adeligen Frau war ihm nicht erlaubt. (1977: 293) ... Sie [die übrigen Inselbewohner] heirateten nur eine Frau, wobei sie nur darauf achteten, dass es nicht Mutter oder Schwester waren. Sie lösten eine Ehe auf, wann sie wollten; Kinder aus solch einer Ehe wurden als illegitim angesehen und konnten nicht erben. ... Es war Sitte, dass ein Mann, der eine Frau auf einem Weg oder einsamen Platz traf, sie nicht ansehen oder ansprechen durfte, wenn sie nicht selbst reden wollte oder etwas wünschte; und man musste sie passieren lassen. Man hatte sogar soviel Respekt, dass es schwere Strafen nachsichziehen konnte, wenn man unehrenhafte Worte zu ihr sagte. ... Wenn die Frauen geboren haben, war es Sitte, die Babys von Kopf bis Fuß zu waschen. Dafür gab es eine bestimmte Frau, die keine andere Aufgabe hatte; diese Frau unehrenhaft zu behandeln oder zu heiraten, war nicht erlaubt. (1977: 294) Die Heirat mit nahen weiblichen Verwandten, wie Nichten, Cousinen oder Tanten, war wohl erlaubt und gängig; dies entspricht auch dem Vorgehen auf El Hierro und Lanzarote. Espinosa und ihm folgend Viera (1982 I: 168) ergän-zen im Fall von Tenerife, dass nicht nur Jungfrauen, sondern auch Witwen und Verstoßene geheiratet wurden. Bruder-Schwester-Ehen in der obersten Herrscherschicht kennen wir auch von den alten Ägyptern, den Inkas und den Hawaiianern. Verbindungen zwi-schen Geschwistern und ihre Legitimierung in der Eliteschicht durch Heirat kamen offenbar weniger mit Vater-Mutter-Ehebruchsregeln in Konflikt als der Mutter-Sohn- oder Vater-Tochter-Inzest (Harris 1989: 169). Arribas y Sánchez, Cipriano de (Erstdruck 1900): Dieser Kompilator scheint – ähnlich wie sein Zeitgenosse Juan Bethencourt Alfonso – Zugang zu sehr alten Dokumenten und Überlieferungen gehabt zu haben; seine archäologischen und ethnologischen Nachrichten tauchen zum Teil bei keinem anderen Autoren auf. [Gran Canaria] Sie bestraften den Ehebruch mit einer Geldstrafe, die der Lieb-haber in [Form von] Ziegen an den beleidigten Ehemann begleichen musste. 16MMALMOGAREN XXVIII/1997 Dies ist weitaus weniger drastisch als die Todesstrafe in solchen Fällen auf Tenerife. [Lanzarote] Die Heiraten waren wie auf Gran Canaria. Bevor sie [die Frauen] sich vermählten, fütterten sie sich mit Milch und gofio [Mehlpaste], damit sie ihrer Ehemänner würdig waren. Sie pflegten die erste Nacht dem König anzu-bieten, so dass der Sohn, den man ihm zuschrieb, adlig war. [1993: 279] Arribas bringt dies als einziger von Lanzarote; eine Verwechslung mit Gran Canaria, die man gerne annehmen möchte, schließt er selbst aus. Barros, João de (Erstdruck 1552): Gran Canaria hatte einen König und einen Heerführer; außer durch diese ward die Insel von 190 Männern regiert, welche aus den vornehmsten Einwohnern gewählt wurden. Diese waren Lehrer und Gesetzgeber des Volkes. Ohne ihre Erlaubnis durfte kein Mädchen verheiratet werden. (1910: 25) Letzteres erinnert nicht nur an Gepflogenheiten in frühgeschichtlichen, patriarchalischen Gesellschaften sondern auch an mittelalterliche und selbst noch neuzeitliche Praktiken in europäischen Adelshäusern. [Gran Canaria] Den Oberleib hüllten sie in Tierhäute, und ihr Unterkleid be-stand in einem Schurze von Palmblättern. ... die Mütter säugten nicht gern selbst ihre Kinder, sondern ließen sie an den Ziegen saugen. (1910: 25; so auch Zurara Kap. 79) Hier bestanden möglicherweise ähnliche Probleme mit dem Milchfluss wie auf Lanzarote: hohe Schwangerschaftsraten durch Gastprostitution und Part-nerwechsel bei Fruchtbarkeitsriten (zeitweise auch Polyandrie). Ein anderer plausibler Grund könnte schlechte Ernährung während der Stillzeit sein – etwa aufgrund einer Hungersnot; schlechte Ernten durch Ausbleiben von Nie-derschlag waren zu allen Zeiten ein Problem für die Altkanarier und auch für die mittelalterliche und neuzeitliche Bevölkerung. Dies würde sowohl die Quantität als auch die Qualität der Muttermilch herabsetzen. Die Bewohner von Tenerife ... waren die streitbarsten. In ihren Sitten [unterei-nander] herrschte zugleich die wenigste Roheit. (1910: 26) Dies ist eine ganz bemerkenswerte Feststellung über ein Volk, das bei Nor-bert Elias unter die Rubrik "zivilisatorisch unentwickelt" gefallen wäre. Benzoni, Girolamo (Erstdruck kanarisches Kapitel 1572): Der Italiener besuchte die Kanarischen Inseln 1541 auf seinem Weg nach Südamerika. Die Nachrichten über die Insulaner selbst sind sehr dünn, wäh-rend die geografische Beschreibung etwas ausführlicher ist. [Gran Canaria] Diese Kanarier sind im allgemeinen Heiden; sie bedecken sich mit Fellen von Ziegen, von denen sie jede Menge haben. ... Sie stellen Palm-wein her, wie es die Äthiopier machen. (Lib. III) Alkohol war bekannt, nicht nur in Form von Palmwein, sondern auch als berauschendes Getränk aus Mocán-Früchten (Visnea mocanera). Die Nach- ALMOGAREN XXVIII/1997MM17 richt von Recco, sie würden Wein nicht kennen, kann sich nur auf Wein aus Weintrauben beziehen. Von Trunkenheit oder Saufgelagen ist nichts überlie-fert, was nicht ausschließt, dass bei bestimmten Festen und Riten alkoholi-sche Getränke konsumiert wurden. Bernáldez, Andrés (Ms. um 1500): [Alle Inseln?] Und was das Heiraten betrifft, so hat jeder seine Frau oder Frau-en; sie können jedoch aus leichtfertigen Gründen die Ehe auflösen; und jeder und jede geht mit wem sie wollen Verbindungen* ein. (1993: 510) [*Das span. Verb comunicar hat hier wohl nicht die Bedeutung von "verbal kommunizieren".] Obwohl sich Bernáldez sehr allgemein ausdrückt, dürften sich seine Anga-ben auf Gran Canaria beziehen. Bevor sie das Christentum annahmen, gingen sie auf allen [Inseln] nackt umher, wie sie geboren waren, er wie sie, außer auf Gran Canaria, wo sie als Zierde eine Art Pluderhosen aus [zerfransten] Palmblättern trugen, die die Schamzonen nicht gut bedeckten, da sie unten nicht geschlossen waren. (1993: 509) [La Palma] Die Leute von dieser Insel gingen nackt umher, außer Ziegenfellen, mit denen sie sich anstatt Tüchern und Leinen bekleideten. (1993: 517) Dies deckt sich mit Zeichnungen von Torriani, der die Bewohner der Nach-barinseln El Hierro und La Gomera nackt unter ihrem Fellumhang darstellt (Abb. 1). Bernáldez präzisiert noch (1993: 509f), dass diese Fellumhänge (ta-marcos), meist nur getrugen wurden, wenn sie vor der Sonne oder vor dem Wind schützen sollten. Dies würde den günstigen Klimaverhältnissen auf den Kanarischen Inseln entsprechen, die eine Kleidung nur erfordern, wenn tat-sächlich die Sonneneinstrahlung zu intensiv und der Wind zu kalt ist. Abb. 1 - Eingeborenes Paar von La Gomera (Zeichnung Leonardo Torriani ca. 1590) 18MMALMOGAREN XXVIII/1997 [Gran Canaria] ... dort haben sie eine Abbildung auf einem Holzstab ... ein-geschnitzt eine nackte Frau mit all ihren Schamteilen äußerlich [sichtbar] und darunter eine Ziege in empfängnisbereiter Haltung und ihr gegenüber ein Zie-genbock, dargestellt als wolle er sie bespringen. (1993: 510) Die Szene ist eindeutig und kann als Allegorie der weiblichen Fruchtbar-keit interpretiert werden. Dass Ziegen dargestellt sind, erklärt sich aus der vornehmlichen Haltung dieser Weidetiere (weniger Schafe, keine Rinder). Die-se Statuette ist wie viele andere altkanarische Artefakte in privaten Kanälen verschwunden. Ziegen sind in allerlei magische Riten der Berber eingebun-den gewesen (Abb. 18b und Joleaud 1933). Eine Anspielung auf zoophile Prak-tiken wie im ostmediterranen Raum, wo sich Frauen beim Widderkult oder auch im profanen Bereich von Ziegenböcken bespringen ließen, möchte ich hier nicht annehmen, da keinerlei andere Hinweise solcher Art existieren. Bernáldez gibt uns noch eine Information über die Folgen des jus prima noctis auf Gran Canaria, die sonst bei keinem anderen Autoren zu finden ist; war die Braut nämlich von einem Adeligen besessen worden, musste abge-wartet werden, ob sie schwanger wurde, denn im Gegensatz zu den gewöhn-lichen Kindern, die sie im Anschluss von ihrem Ehemann bekommen würde, war ein Kind aufgrund einer Entjungferung durch den Häuptling oder ein anderes Mitglied der Adelskaste ebenfalls adelig: [Gran Canaria] Und um zu sehen, ob sie [nach der Nacht mit dem Häuptling] schwanger geworden war, durfte sich der Ehemann ihr nicht nähern, bis man sich auf dem Weg der Menstruation[sbeobachtung] sicher war. (1993: 516) Die Beziehungen zwischen Menstruation und Schwangerschaft waren dem-nach bekannt. Bethencourt Alfonso, Juan (posthum 1985) Der kanarische Ethnologe (1847-1913) gibt als einziger (neben Lanzarote) auch für das vorspanische Fuerteventura Männerüberschuss und Polyandrie an (1985: 49). ... im restlichen Archipel ... verfügten die Priester und der Adel über das Privi-leg, Konkubinen zu halten, neben der legitimen Ehefrau. (1985: 49) Bethencourt Alfonso bezeichnet damit die praktizierte Polygynie als Kon-struktion aus Haupt- und Nebenfrauen. Dort, wo noch im 19. Jh. endemische kanarische Pflanzen zur Empfängnis-verhütung oder Abtreibung verwendet wurden, können wir zumindest teil-weise eine bis in Zeiten der Ureinwohner zurückreichende Tradition anneh-men. Ein Beispiel dafür ist möglicherweise: [Lanzarote 19. Jh.] Um den Abort herbeizuführen, wurde eine Pflanze verwen-det, die man in den Bergen von Haría findet und die unter dem [eingeborenen] Namen Tanjosé [Thymus origanoides] bekannt ist. (1985: 51) ALMOGAREN XXVIII/1997MM19 Ein weiterer Endemismus ist Artemisia thuscula (altkanarisch mol), dessen Verwendung als Tee ebenfalls abortiv sein soll (1985: 51). Die gleiche Pflanze wurde auf El Hierro sórame genannt; Frauen legten vor dem Anziehen kleine Zweige davon in die Schuhe und erhofften sich ebenfalls eine abtreibende Wirkung (1985: 52). An die ritualisierten Waschungen im Meer und an die Mästung der einge-borenen Jungfrauen auf Gran Canaria erinnert folgende Methode der Ehe-frauen, fruchtbar zu werden: [Tenerife 19. Jh.] Man bedecke die Hüfte mit einem gut zusammengepressten Umschlag; man achte darauf, nicht zu arbeiten, nicht zu gehen, sich nicht gera-deheraus hinzusetzen sondern nur seitlich, sich gut zu ernähren, sich des Ehe-verkehrs zu enthalten, die Scheide [im Text "Gebärmutter"] zu waschen und auf nüchternen Magen zwei Esslöffel Bienenhonig zu nehmen, gemischt mit Ziegenmilchbutter. (1985: 52) Vielleicht ist dies eine Abwandlung der grancanarischen Sitten, denn Ein-geborene von dieser Insel kämpften auf Seiten der Spanier bei der Eroberung von Tenerife. An prähispanischen Naturgeisterglauben erinnert folgendes: [Tenerife 19. Jh.] Es ist allgemein bekannt, dass die Fischer [der Gemeinde Arona] derart sagen, wenn sich der Sommer nähert und das Meer sich unruhig zeigt: "Jetzt ahnt das Meer, dass sich die Frauen zu ihm herunter begeben" [weil sie besonders in der Badesaison oft zum Strand kommen und das als weibliches Wesen angesehene Meer eine kurz bevorstehende oder schon ein-getretene Menstruation spürt]. (1985: 55) [Tenerife 19. Jh.] Um einen Sohn zu zeugen richte man den Kopfteil des Bettes auf das Meer aus. ... Um ein Mädchen zu zeugen richte man den Kopfteil des Bettes auf die Berge [des Inselinneren, oder] ... vollziehe den Koitus außerhalb der Gezeiten. (1985: 56) Ungeklärt beim sogenannten Zorrocloco ist die Herkunft des Wortes und der Sitte: Früher und auf Fuerteventura und Lanzarote noch bis in das begin-nende 19. Jh. hinein pflegten sich kanarische Ehemänner wie die frischen Mütter in das Wochenbett zu legen und mit kräftigenden Speisen verpflegen zu lassen (1985: 128). Dieses archaische Verhalten der Väter ist in vielen Kul-turen aller Kontinente zu beobachten; u.a. auch bei gewissen Iberern. Boutier, Pierre & Leverrier, Jean (Ms. ca. 1405): Nach Álvarez Delgado (1977: 60-63) enthält der Bericht der beiden Kaplä-ne auch Informationen aus einem anonymen andalusischen Leitfaden für See-leute ("Rotero Andaluz de 1404"); so z.B. die hier zitierten Angaben. [Gran Canaria] Sie gehen [fast] ganz nackt, außer einer Art Pluderhose aus Palmblättern, und der größte Teil von ihnen trägt ganz unterschiedliche Zei-chen auf der Haut, jeder nach seinem Gusto. ... Ihre Frauen sind sehr schön, bekleidet mit Fellen, um ihre Schamzonen zu bedecken. (1980: 66) 20MMALMOGAREN XXVIII/1997 Dass es sich bei der Körperbemalung nicht um die bei Berbern praktizierte Tätowierung handelt, bestätigt Ca da Mosto, der ebenfalls klar von Bemalung spricht. Arribas y Sánchez (1993: 34) bezeichnet es jedoch als Bemalung und Tätowierung; Motive sollen jene Muster gewesen sein, die man auch bei den pintaderas (Tonstempel) verwendete. Denkbar wäre es, dass man sich diese geometrischen Motive auf die Haut stempelte – aber nicht unbedingt eintäto-wierte. Vielleicht meint Arribas y Sánchez auch "wie tätowiert aussehend"? [Fuerteventura] Die Leute gehen ganz nackt, vor allem die Männer, die nur ein Fell um die Schulter tragen, wo es verknotet ist. Die Frauen tragen das gleiche Fell, in der gleichen Art, sowie zwei Felle mehr, eines vorne und eines hinten. ... Auf dieser Insel ernähren sie die Kinder [Säuglinge] mit der Brust. (1980: 68) "Nackt" bedeutete hier, dass sie unter diesen Fellen nackt waren. Bei den Männern wurde offenbar der Unterleib und damit auch die Genitalien wie auf Lanzarote nicht bedeckt, während bei den Frauen ein Blick auf ihre Scham-zonen, etwa bei Wind oder bestimmten Bewegungen oder Körperstellungen, nur oberflächlich verhindert wurde. Doch dies muss nicht bedeuten, dass man einen solchen Blick in Kauf nahm oder sogar herausforderte; vielmehr könnte es sein, dass solch ein Blick gar nicht zu erwarten war. [Lanzarote] Die Männer gingen nackt, außer einem Umhang hinten bis zu den Kniekehlen. Und sie zeigten sich nicht verschämt wegen ihrer Glieder [Penis-se]. ... Die Frauen waren sehr schön und gingen dezent gekleidet umher mit großen Fell-Tuniken, die bis zum Boden reichten. (1980: 70) Den lanzarotischen Männern kam es offenbar mehr darauf an, die Schul-ter- und Rückenpartien vor Sonnenbrand zu schützen, als das Geschlecht zu verbergen. Da auf Lanzarote ein Männerüberschuss herrschte, wäre es sogar denkbar, dass die Manneskraft bewusst zur Schau getragen wurde, um Frau-en anzuziehen; dies bekommt insofern archäologische Unterstützung, als vier Phallus-Objekte, die auf Lanzarote gefunden wurden, möglicherweise eine besondere Betonung des Phallischen im täglichen Leben andeuten. Doch auch der Penis dürfte bei den Maho-Frauen kein Objekt des ungenierten Drauf-starrens gewesen sein. Die dezentere Kleidung, die Abreu und Torriani schil-dern, stammte aus späterer Zeit; dies gilt auch für Fuerteventura. [Lanzarote] Der größte Teil von ihnen hat drei Ehemänner, die monatsweise Dienst haben; und der, der sie [die Ehefrau] danach haben wird, dient beiden den ganzen Monat ... sie machen es immer so, jeder wenn er an der Reihe ist. Die Frauen gebären viele Kinder ... (1980: 70) [siehe Abb. 21] Die hohe Bedeutung der Frau zeigt sich auch im weiblichen Oberhaupt der lanzarotischen Königsfamilie, das vermutlich auch die spirituelle Überbrin-gerin der Herrscherwürde war, wie die Episode der Königstochter Ico (wie-dergegeben bei Abreu 1977: 62) andeutet. Hier treten matrilineare Züge zuta-ge, die durch demografische Gegebenheiten verstärkt sein mochten. Álvarez ALMOGAREN XXVIII/1997MM21 Delgado (1981: 62) sieht den Grund für den Männerüberschuss in den Raub-zügen von Piraten, die Ende des 14. Jhs. vorrangig weibliche Sklaven nach dem maurisch-afrikanischen und andalusischen Festland verschleppt hätten. Dies würde jedoch nur einen maximalen Zeitraum von 10-12 Jahren vor dem Eintreffen 1402 von Gadifer de la Salle und Jean de Bethencourt auf Lanzarote bedeuten. Ob sich ein so relevantes gesellschaftspolitisches Verhaltensmuster in so kurzer Zeit entwickeln kann und dabei einen breiten moralischen und familienorganisatorischen Konsens mit detaillierten Regeln findet, wage ich anzuzweifeln. Dass althergebrachte Regeln keinesfalls schnell und leichtfer-tig aufgegeben wurden, zeigt das Fortleben der eingeborenen lanzarotischen Sozialstruktur parallel zu jener der europäischen Einwanderer bis etwa 1500. Was könnte dann für diese Entwicklung bereits zu einem früheren Zeitpunkt ausschlaggebend gewesen sein? Die Schilderungen weisen möglicherweise auf Inzuchtprobleme in einer abgeschlossenen, endogamen Inselgesellschaft, da die Frauen bei aller Gebär-freudigkeit offenbar wenig weiblichen Kindern das Leben schenkten. Ein dominantes Chromosom konnte die Mädchengeburten herabgesetzt haben und führte so zu einer demografisch bedingten Polyandrie. Die normalerweise stattfindende Auffrischung des Blutes durch Gastprostitution konnte in einer kleinen Gesellschaft von nicht mehr als tausend Menschen ausgeblieben sein bzw. zur Verstärkung dieser mädchenreduzierten Situation beigetragen ha-ben. Unsicherheitsfaktor für diese genetische Theorie ist das Fehlen von demo-grafischen Informationen wie Kindersterblichkeit pro Geschlecht und Zahl der Generationen, die bereits in diesem Zustand lebten. Für den von Cabrera Pérez (1989: 99-100) auf Lanzarote angenommenen weiblichen Infantizid als Grund für den Männerüberschuss gibt es keine Hinweise. Der Männerüber-schuss scheint sich sogar in spanischer Zeit fortgesetzt zu haben, wie Be-thencourt Alfonso (1985: 49) berichtet. Diese Polyandrie hatte wiederum andere Folgen: [Lanzarote] Die Frauen hatten keine Milch in ihren Brüsten ... und ernährten ihre Kinder über den Mund [von Mund zu Mund], wodurch die Unterlippe größer als die Oberlippe war, was eine sehr abstoßende Sache ist. (1980: 70) Álvarez Delgado (1981) sieht diese Nachricht als unglaubwürdig an und verweist auf die altkanarische Sitte, Kleinkinder neben der Muttermilch mit guamames (Happen aus Mehl, Schafs- oder Ziegenbutter und Wasser) zu er-nähren. Auch die Meldung von Fuerteventura, wo man die Brust geben würde, wäre sonst ein zu starker Kontrast zu der Nachbarinsel Lanzarote. Dem kann ich nur entgegenhalten, dass Boutier & Leverrier dies bewusst als Gegensatz gemeint haben konnten: auf Lanzarote so – ohne Brust – und dagegen auf Fuerteventura so – mit Brust. Wahrscheinlich herrschte ein Teufelskreis, denn 22MMALMOGAREN XXVIII/1997 die berichtete Gebärfreudigkeit und Milcharmut kann mit einer minimalen Amenorrhöe zusammenhängen und mit der häufigen Befruchtung durch den monatlich wechselnden Ehegatten. Nicht zuletzt spricht auch die auf Lanzarote gepflegte Gastprostitution für eine hohe Empfängnisrate. Das heißt, die lanzarotische Maho-Frau dürfte in einem Zustand der Dauerschwangerschaft gewesen sein, der nur durch kurze Phasen der Mutterschaft unterbrochen wurde, so dass der Milchfluss erheblich herabgesetzt war. Polyandrie ist weltweit nur selten zu beobachten, auf dem afrikanischen Kontinent z.B. bei manchen nigerianischen Stämmen. Eine Quasi-Polyandrie wurde bei den arabischen Frauen der vorislamischen Dschahiliya-Zeit prakti-ziert: Eine Frau konnte ganz offen mehrere Liebhaber gleichzeitig haben; wurde daraus ein Kind geboren, konnte sie unabhängig von der tatsächlichen Vaterschaft einen ihr genehmen Vater aus dem Kreis der Liebhaber bestim-men, der dann dem Kind seinen Namen gab (Heller & Mosbahi 1994: 26). Ca da Mosto, Alvise da (Ms. 1455-57): Der Italiener besuchte die Kanarischen Inseln selbst, jedoch nicht alle, so dass seine ethnologischen Kenntnisse von Gran Canaria und Tenerife von Bewohnern der schon eroberten Westinseln stammen mögen. [Gran Canaria] ... dass keiner daselbst ein Weib nimmt, die Jungfrau ist, so sie nicht zuvor eine Nacht bei dem Fürsten geschlafen ... und das halten sie für große Ehre. [Gran Canaria] ... Ihre Weiber sind nicht gemein [nicht für alle verfügbar], aber ein jeglicher mag nehmen soviele er will. Ob Mitte des 15. Jhs. noch Vielweiberei auf Gran Canaria herrschte, ist fraglich; vielmehr könnten die sehr liberalen Scheidungssitten gemeint sein. Dies erinnert an manche Berbergruppen, bei denen eine hohe Scheidungsrate und zahlreiche aufeinanderfolgende Heiraten quasi auf eine "Vielehe in der Zeit" hinauslaufen, wie sich Neumann (1983: 144) ausdrückt. Wir kennen ähnliche Situationen aus dem vorislamischen Arabien, wo es verschiedene Formen eheähnlicher Partnerschaften gab, die ohne großes Zeremoniell sehr locker eingegangen und gelöst werden konnten (Heller & Mosbahi 1994: 27). [Tenerife] ... und [die Krieger/Männer] gehen allzeit bloß und nackt. Die strengere Kleiderordnung bei Fray Espinosa stammt frühestens aus der Zeit kurz vor der Conquista (1496) und könnte schon unter dem Einfluss des Christentums gestanden haben, mit dem Tenerife ab ca. 1462 in engeren Kontakt kam. [Alle Inseln, möglicherweise aber nur Hierro und Gomera, die Ca da Mosto persönlich besuchte] ... und lassen sich an ihrem Leibe bemalen, die Männer und Frauen, mit dem Saft der grünen, roten und gelben Kräuter. ... und achten es in der gleichen Weise, wie wir es mit unseren schönen Kleidern tun. ALMOGAREN XXVIII/1997MM23 Cairasco de Figueroa, Bartolomé (Erstdruck 1602-1615): Der gebildete Grancanario geht bei seiner Beschreibung der Heiligen und Kirchenfeste natürlich auch auf die Kanarischen Inseln ein und erwähnt kurz die Eingeborenen. [Gran Canaria] Die Frauen waren von großer Grazie, etwas dunkelhäutig, schön und warmherzig; [mit] ehrlichen Augen, dunkel und mandelförmig. Ihre Klei-dung bestand aus Fellen und Geflechten aus Palmblättern, kunstvoll gearbeitet. (Abschnitt "La Fama de Canaria" t. 1) Die kanarischen Ureinwohnerinnen werden bei den Berichterstattern in den meisten Fällen als schön bezeichnet. Als Ehefrauen waren sie deshalb sehr beliebt bei den europäischen Siedlern (so u.a. Frutuoso 1964: 95, 96, 108), was zu einer schnellen ethnischen Verschmelzung führte. Das Verschwin-den der eingeborenen Bevölkerung ist nicht nur auf ihre Vernichtung während der Conquista und ihre Verschleppung als Sklaven zurückzuführen, sondern auch auf dieses Aufgehen in allen – sogar adligen – Schichten der Eroberer und Kolonisten. Casas, Fray Bartolomé de las (Ms. ca. 1559): Der Geistliche bestätigt die Angaben der anderen Beobachter über die ka-narischen Ureinwohner und ergänzt: [La Gomera] Sie verbringen ihre ganze Zeit damit zu singen und zu tanzen und die Frauen zu benutzen, und dies sehen sie als ihr Glück an. (1989: 231) Castillo y Ruiz de Vergara, Pedro Agustín del (Ms. 1686-1737): Castillo ist wie Viera ein später Kompilierer, bringt aber die eine oder andere unabhängige Nachricht. [Gran Canaria] Luxán ist schlecht informiert, wenn er sagt, dass die Kanarier-innen sich mit fünf Männern verheirateten. Ehebruch war unter ihnen ein Ver-gehen, das sie mit dem Leben bezahlten. (1950: 173) Espinosa beschreibt ebenfalls die Abscheu vor dem Ehebruch, erwähnt aber nicht die Todesstrafe. Castillo (1950: 517-531) und vor ihm schon Espinosa (1980: 47-83) schil-dern ausführlich den Beginn des Marienkultes auf Tenerife (1440-1450, nach manchen Quellen schon ab 1388), der bei den Guanchen auf fruchtbaren Bo-den fiel und bereits vor der Conquista ein günstiges Klima für den christli-chen Glauben schaffte. Díaz Tanco de Frexenal, Vasco (Erstdruck ca. 1520): Die ethnologischen Angaben dieses Autors und Dichters sind bezüglich unseres Themas sehr spärlich und etwas poetisch verbrämt. 24MMALMOGAREN XXVIII/1997 [Gran Canaria] ... und wenn sie heiraten, tragen sie als Kleidung Tamarcos aus Fellen oder hübsche Roben [vermutlich Umhänge aus Binsen]. (1934: 23) Meint der Autor nur wenn sie heiraten bzw. danach? Dies erinnert an die Information von Recco, wonach die eingeborenen Frauen auf Gran Canaria erst ab der Heirat Kleidung tragen. Crónica Ovetense (basiert auf einem Urmanuskript von ca. 1500-1510, das Alonso Jaimes de Sotomayor zugeschrieben wird): [Gran Canaria] Auch unterhielten diese Guanartemes [Gebietskönige] [internat-artige] Häuser [und Höhlen], in denen Jungfrauen, die Maguadas genannt wur-den, abgeschirmt lebten. ... Diese waren sehr beliebt bei den Häuptlingen und wurden von den Adligen bedient; und es war Sitte, dass wenn sich eine verhei-raten wollte, der Häuptling sie zuerst genießen durfte, oder auf seine Anord-nung hin einer der Adligen; und nachdem er mit ihr geschlafen hatte, wurde sie dem Bräutigam zugeführt. Von da ab betrachteten sie diesen Adligen als ihren Paten. Die Ehen dauerten, solange sich beide einig waren; und sie trennten sich, wenn einer von beiden den Wunsch hatte. ... Alle gingen unbekleidet, nur die Scham war von einem Binsengewebe bedeckt. (1993: 162) Möglicherweise war die Zahl der Schülerinnen festgelegt, denn sobald eine durch Heirat ausschied, konnte eine andere nachrücken; diese Möglichkeit des Nachrückens und der Aufnahme in die Initiationsgemeinschaft war für den sozialen Status und die Heiratschancen der jungen Mädchen sehr wichtig. Espinosa, Fray Alonso de (Erstdruck 1594): [Tenerife] ... Diese Art von Kleidung, Tamarco genannt, war allgemein unter den Männern und Frauen; außer dass die Frauen, aus Gründen der Schamhaf-tigkeit, unter dem Tamarco ein Ziegenlederwams bis zu den Füßen trugen, ... denn es war unehrenhaft Busen und Füße zu zeigen. Dies allein war die Tracht sowohl der adligen wie niederen [Frauen – nach der Berührung mit dem Chri-stentum]. (1980: 37) Ihre Art zu heiraten war folgende: Wenn irgendeine Frau einem Mann gefiel, sei sie Jungfrau, Witwe oder Verstoßene eines anderen [Mannes], fragte er ihre Eltern (so sie welche hatte), und wenn sie einverstanden waren, waren beide ohne Zeremonie verheiratet, mit beiderseitigem Einverständnis. Und so hielten sie [die Männer] sich die Frauen, die sie wünschten und ernähren konnten. Und so leicht die Heirat war, so leicht war die Scheidung; denn, war ein Mann unzufrieden mit einer Frau, oder umgekehrt, schickte er sie aus dem Haus und sie konnte sich ohne Strafe mit einem anderen verheiraten und er mit einer anderen, so oft sie Lust hatten. Und die Kinder aus solch einer aufgelösten Ehe waren illegitim und der Sohn wurde deshalb Achicuca und die Tochter Cucaha genannt. Bezüglich der Zeugung [der Berücksichtigung von Verwandtschaft bei der Partnerwahl] hatten sie nicht mehr Respekt als vor Müttern und Schwestern (außer die Könige), denn Tanten, Nichten, Cousinen und Schwägerinnen scher- ALMOGAREN XXVIII/1997MM25 ten sie alle über einen Kamm, ohne irgendeinen Unterschied zu machen: Ob-wohl sie dieser schlechten Sitte verfallen waren, verabscheuten sie die schänd-liche Sünde [des Ehebruchs] aufs höchste. (1980: 40) Die Angaben von Espinosa können als sehr zuverlässig gelten, da er Tene-rife bereits aus der Zeit vor der endgültigen Eroberung persönlich kannte. Die erwähnte Freiheit in der Wahl der Frauen ist als Polygynie zu verstehen, wie es bei Zurara deutlich wird. Polygynie war jedoch kein gesellschaftliches Muss sondern ein Dürfen, je nach persönlicher wirtschaftlicher Situation des Ehemannes. Der hohen Achtung der Frau tat dies keinen Abbruch. Frutuoso, Gaspar (Ms. ca. 1590): [La Palma] Die Frauen sind sehr hübsch, hellhäutig, zurückhaltend, höflich und wohlerzogen. ... Sie [die Männer] sind nicht eifrig; sie kümmern sich um nichts außer der Frau, den Töchtern und Schwestern. (1964: 108f) Die fehlende Sonnenbräune würde eine entsprechend komplette Beklei-dung voraussetzen. Die Zurückhaltung und die Körperbedeckung der einge-borenen Frauen von La Palma dürfte schon stark christlich beeinflusst sein, denn bei Abreu haben wir ja von einer gewissen Freizügigkeit der jungen Mädchen gelesen. Die Männer waren zwar sehr sportlich, scheinen aber für den Haushalt nicht viel geleistet zu haben; die Frauen der Großfamilie stan-den aber offenbar unter ihrem besonderen Schutz. Gomes de Sintra, Diogo (Ms. 1463): [Gran Canaria] Und wenn ein beliebiger Fremder kommt, um bei irgendwem Gast zu sein, gibt der Hausherr seine Frau dem Gast, damit er mit ihr schlafe. Und wenn der Gast nicht mit ihr schlafen wollte, wurde er als Todfeind angese-hen. (1845: 35) Interessant ist, dass Gomes diese Sitte nicht nur auf den König anwendet (wie Sedeño), sondern auf jeden Gast. Die Zurückweisung der Gattin muss eine schwere Beleidigung gewesen sein. Die Glaubwürdigkeit des Portugie-sen Diogo Gomes kann als hoch eingeschätzt werden, da er Gran Canaria 1450 persönlich besucht hatte, also lange vor der endgültigen Eroberung durch die Spanier 1483. [Gran Canaria] Und wenn ein Mann seine Frau einige Zeit verstoßen wollte, und [dann] wieder zu ihr zurückkehren wollte, machte er es ihr angenehm, in dem er ihr 10 Ziegen gab. Gómez Escudero, Pedro (Ms. um 1500): Auf Gran Canaria unterhielten die Häuptlinge besondere Häuser für Fest-lichkeiten und Zeitvertreib, wo sich Männer und Frauen versammelten, um zu tanzen, zu singen und zu essen (Crónica Lacunense 1993: 224, Gómez Escudero 1993: 435). 26MMALMOGAREN XXVIII/1997 [Gran Canaria] Nach dem Tanzen und Essen gingen sie zum Meer, um zu schwimmen, die Frauen mehr noch als die Männer, und zusammen hatten sie viel Spaß; und von da zog sich jeder einzelne zu seiner Wohnung zurück. Hier scheint es ich um ein institutionalisiertes, mit Kultischem verbunde-nen Stammesfest zu handeln (wie das beñesmer-Erntedankfest auf Tenerife), bei dem die sonst restriktiven Badesitten aufgehoben waren und ein orgiasti-sches Finale Tradition war (so auch Pérez Saavedra 1989a: 89). Ein Tanz der Eingeborenen, der "canario", fand sogar Eingang in das europäische höfische Leben (Siemens Hernández 1977: 23). In bezug auf das Meeresbad der Harimaguadas ergänzt Escudero: [Gran Canaria] Es gab dafür einen bestimmten Tag, und ob ein Mann dies wusste oder nicht, erhielt er die Todesstrafe, wenn er sie ansah, traf oder an-sprach. (1993: 435) Verschiedenen Quellen können wir entnehmen, dass dieses Bad ritualisiert war und bestimmte Waschungen umfasste. Dies erinnert an die Waschvor-schriften im Hammam der islamischen Frau, die besonders auch den Genital-bereich betreffen. Auch bei den schwarzafrikanischen Xhosa-Jungfrauen, die in Meeresnähe lebten, gab es rituelle Waschungen (Parrinder 1991: 169). Wie ernst die sexuelle Unschuld und Unantastbarkeit der Harimaguadas und der Schutz ihrer Riten genommen wurden, zeigen nicht nur die drasti-schen Strafen für Männer, die dies verletzten, sondern auch das Gemetzel, dass die Eingeborenen Gran Canarias 1393 unter mallorkinischen Kolonisten und Mönchen anrichteten. Während letztere versuchten, sie durch Verkün-dung des Evangeliums von ihrem alten Glauben und wahren Recht abzubrin-gen, scheuten sich (nach Marín de Cubas 1986: 257) einige der katalanischen Siedler nicht, adlige Jungfrauen einer Schule bei Agaete zu belästigen und in einem Fall sogar zu entführen (zu den verschiedenen Varianten in der Schil-derung des Gemetzels siehe Ulbrich 1990: 114-117). Hemmerlin, Felix (Ms. ca. 1444): Der Informant des Schweizer Geistlichen Hemmerlin (oder Haemmerlein) hatte offenbar Kontakt zu katalanischen bzw. aragonesischen Kirchenkreisen, von denen er Nachricht über eine mallorkinische Expedition erhalten hatte, die 1343 zu den Kanarischen Inseln unternommen worden war (zu weiteren Details siehe Ulbrich 1990: 89-92). Als sie sich ihr nähern [der Insel Gran Canaria], erkannten sie Menschen bei-derlei Geschlechts, eingehüllt in rohe Tierhäute. ... Auch trafen sich Männer und Frauen an jedem [beliebigen] öffentlichen Ort und vereinigten sich in na-türlichem Beischlaf und die Frauen waren Allgemeingut ohne dass sie einem bestimmten Mann angehört hätten. Dies ist die drastischste Schilderung des eingeborenen Sexuallebens auf ALMOGAREN XXVIII/1997MM27 Gran Canaria und zugleich die einzigste, die außerehelichen Beischlaf in die-ser Form beschreibt. Kein anderer Chronist erwähnt auch nur annähernd sol-che Beobachtungen. Anknüpfend an meine Ausführungen in Ulbrich (1990: 91) möchte ich hier einige verschiedene Möglichkeiten zur Bewertung dieser Nachricht anbieten: • Die Nachricht ist in der Informationskette von den Seeleuten bis zu den heimatlichen Kirchenkreisen aufgebauscht und verfälscht worden; ein wie immer geartetes heidnisches Verhalten dürfte vor allem bei mittelalterli-chen Geistlichen zu Abscheu, Vorurteilen und Übertreibungen geführt ha-ben. Eindeutig ist die Formulierung in dem lateinischen Text bezüglich des Ortes ("in omni loco publico"), der eigentlich keinen Zweifel an der Unge-niertheit lässt. Doch auch dies könnte eine Übertreibung sein, die dadurch zustande kommen konnte, dass man eine künftige Eroberung der Inseln und die Konvertierung ihrer ach so heidnischen Bewohner zum Christen-tum rechtfertigen wollte. • Die Nachricht stimmt und betrifft die von Torriani erwähnte Zeit vor den ersten christlichen Kontakten, in der angeblich auf Tenerife ähnlich freizü-gige Verhältnisse geherrscht haben. Harris (1989: 151) weist auf die generel-le Eigenart von Dorfbewohnern und Horden hin, Geschlechtsverkehr häu-fig auch außerhalb der Schlafunterkunft im Wald oder Gebüsch auszuüben (was nicht heißen muss, dass man dabei eine Beobachtung zu fürchten hatte). • Die Vorgänge sind missverständlich beschrieben und betreffen eine Art von Prostituierten, die neben rechtmäßigen Ehefrauen existierten. Dies könnte die Formulierung "ohne dass sie einem bestimmten Mann angehört hätten" nahelegen. Bis in jüngste Zeit zogen z.B. die Mädchen der berberi-schen Uled Nail als Prostituierte herum (Wölfel 1961: 203). Im vorisla-mischen Arabien zogen Prostituierte mit Zelten umher, die durch eine rote Fahne als Bordell gekennzeichnet waren (Heller & Mosbahi 1994: 27). Und die Tempelprostitution war im antiken Nordafrika ebenso verbreitet wie im restlichen Mittelmeerraum. Auch von den Marquesas-Inseln im Pazifik werden umherziehende Prostituierte beschrieben (Duerr 1994: 197). • Die Nachricht ist etwas verzerrt wiedergegeben und betrifft die oben bei Gómez Escudero beschriebenen orgiastischen Feste, die vermutlich nur an bestimmten Tagen im Rahmen von Fruchtbarkeitsriten stattfanden, welche bei den stark ichthyophagen Canarios fast zwangsläufig mit dem Meer zu tun hatten. Solche bestimmten Tage der Promiskuität gab es auch bei den nordafrikanischen Völkern: In der Nacht des Untergangs der Plejaden herrschte z.B. bei einem Libyerstamm (nach Nicolaus Damascenus, um 600) und bei einem marokkanischen Berberstamm (nach Leo Africanus, 28MMALMOGAREN XXVIII/1997 16. Jh.) wahlloser außerehelicher Geschlechtsverkehr. Verbreitet bei ver-schiedenen Berbergruppen war auch die "Nacht der Verwirrung" (bianu / bennayo), bei der sich immer mehrere Frauen und Männer im Rahmen eines Fruchtbarkeitsritus sexuell vereinigten. Für letzteres gibt es auch in Südmarokko Beispiele. Beim Höhepunkt des Neujahrsfestes an den Küsten Ghanas ist außerehelicher Verkehr, der früher sogar teilweise öffentlich stattfand, in großem Umfang üblich (Parrinder 1991: 177). Ich sehe die zuletzt aufgezeigte Interpretationsvariante, dass ein nicht all-täglicher kultischer Vorgang von den mallorkinischen Beobachtern verallge-meinert und missverstanden wurde, als die wahrscheinlichste an – so wie der rituelle oder prostitutive Charakter öffentlicher Koitus-Szenen bei manchen Südseevölkern als allgemeinübliche Sitte missverstanden wurde (Duerr 1994: 192f). Der Katholizismus des 14. Jhs. kannte nur drei Gründe für Geschlechts-verkehr: Zeugung von Kindern, Erfüllung eines Ehevertrages und die Ver-meidung, ein sündiges Verlangen außerhalb der Ehe zu befriedigen (Flandrin 1984: 148). Was wie pure, ungezügelte Lust mit beliebigen Partnern und gera-dezu misogam aussah, musste demnach größte Empörung auslösen. López de Gomara, Francisco (Erstdruck 1552): [Alle Inseln] Sie gehen nackt, oder höchstens mit einem Ziegenleder auf jeder Seite, [und sind] langhaarig. ... Sie heiraten viele Frauen, und die Herren und Kapitäne zerstören die Jungfrauen als Ehre oder aus Tyrannei. (1979: 319) Der Autor scheint hier mehrere Inseln durcheinander zu bringen. Die sexu-elle Willkür der adligen Schicht unter den weiblichen Untertanen wird bei keinem anderen Chronisten angesprochen, kann aber bei einzelnen Inseln (vielleicht La Gomera) nicht ausgeschlossen werden. Ein Passus bei Hem-merlin könnte so interpretiert werden, dass die Gomeros eine sehr große Wild-heit besaßen, was selbst von ihren eingeborenen Nachbarn so gesehen wurde. López de Ulloa, Francisco (Ms. 1646): López de Ulloa (1993: 314), der u.a. das Manuskript von Jaimes de Sotoma-yor verwendete, ergänzt, dass die Maguadas von Gran Canaria beim Baden im Meer sogar von (adligen) Wächtern begleitet wurden und dass normale Män-ner sie weder sprechen noch sehen durften. Einem Mädchen, dem von einem Adligen anlässlich ihrer Hochzeit die Jungfernschaft genommen worden war, durfte sich dieser Adlige nachher ohne schwere Strafe nicht mehr nähern. Bei der Kleidung erwähnt López de Ulloa (1993: 315), dass einzig die Häupt-linge Gran Canarias – im Gegensatz zum Volk (einschließlich der Adligen) – von Kopf bis Fuß in Gewänder aus Palmfasern gehüllt waren; dies entspricht den Beobachtungen von Recco. ALMOGAREN XXVIII/1997MM29 Marín de Cubas, Tomas Arias (Ms. 1694): [Gran Canaria] Die befleckte Jungfrau verliert zusammen mit dem Verführer das Leben; sie wird in einen Steinhaufen eingemauert bis sie stirbt. ... Die Ehebrecherin wird lebendig ins Meer geworfen oder lebendig begraben. (1986: 263; siehe auch Núñez und Sedeño) Dies sind keine christlich beeinflussten Strafen, sondern viel rigorosere vorchristliche oder nicht-christliche. Sehr strenge Sitten bezüglich sexueller Moral und Unantastbarkeit der Jungfrau herrschten bei den berberischen Kabylen, wo die uneheliche Schwangerschaft eine äußerst gravierende Schan-de war; konnte nicht abgetrieben werden und wurde der Skandal öffentlich, dann verlor – zumindest früher – die Tochter das Leben, meist von der Hand des Bruders oder Vaters. Große Sittenstrenge herrscht auch bei den algeri-schen Mozabiten. Beide Fälle sind Beispiele für einen sehr orthodoxen Islam, was für Berber nicht unbedingt typisch ist. Im Gegensatz gibt es bei den Tuaregs das ahal-Fest, bei dem unverheiratete, verwitwete und geschiedene Frauen sehr wohl freizügigen Sexualverkehr haben können. Sollte auch hier islamischer Glaube bei den Canarios durchschimmern (siehe auch S. 32)? [Tenerife] Die Männer schliefen getrennt von den Frauen. ... Wenn ein Kind geboren war, wurde der ganze Körper mit Wasser gewaschen, Mädchen durch Frauen, Jungen durch Männer; und sie [diese externen Männer und Frauen] traten damit in eine neue Verwandtschaft mit den Eltern ein. (1986: 279) Nebrija, Elio Antonio de (Ms. 1509-1513) Der königlich-spanische Chronist hat seine Kenntnisse über die Kanari-schen Inseln vermutlich durch Aufenthalte in Sevilla, wo Seefahrer und im Sklavenhandel Tätige die entsprechenden Informationen liefern konnten: [Alle Inseln] ... Was die Ernährung und die Kleidung betrifft, so haben sie große Mäßigung bei Speisen und Getränken, und völlige Nacktheit all ihrer Gliedma-ßen, und zwar so, dass sie mit Leichtigkeit alle Sachen griffbereit haben, die die Zerbrechlichkeit des Menschen benötigt, um sich vor den Unbillen der Natur zu schützen. [2. Dekade, 2. Buch, 1. Kapitel] Núñez de la Peña, Juan (Erstdruck 1676) Dieser Autor aus La Laguna (Tenerife) weist die Harimaguadas auch Tene-rife zu, wo sie offenbar unter starkem christlichen Einfluss die Bedeutung von Novizinnen und Nonnen angenommen hatten. In bezug auf die Pseudo- Verwandtschaft, die sie durch die Taufe von Neugeborenen erlangten, bringt er eine weitere Information: [Tenerife] ... dadurch erlangten sie Verwandtschaft mit dem Vater des neugebo-renen Kindes, wodurch sie sich nicht mit diesem verheiraten konnten [wenn er sich scheiden ließ oder Witwer wurde]. (1676: 27) 30MMALMOGAREN XXVIII/1997 Núñez hat hier wohl aus Espinosa (1980: 35) geschöpft, der dieses spezielle Heiratsverbot für die Taufenden zuerst berichtete. [Tenerife] Die jungfräuliche Frau die beschädigt [perforiert] und in Wollust verfallen war, bekam lebenslanges Gefängnis; wenn der Beleidiger [Verführer] sie jedoch heiratete, bekam sie ihre Freiheit zurück. Den Ehebrecher begruben sie lebendig. (1676: 28) Nach Arribas y Sánchez wurden Ehebrecher bei den Guanchen lebendig verbrannt (1993: 154); auf jeden Fall war es eine Todesstrafe. Man sehe Marín de Cubas zum Schicksal der Ehebrecherin auf Gran Canaria. Recco, Niccoloso da (Ms. 1341): [Fuerteventura] Männer und Frauen liefen nackt umher, rauh in ihrer Religion und ihren Sitten. [Gran Canaria] ... sahen wir eine große Menge Volk an den Strand kommen, Männer und Frauen fast nackt. Einige, die höherrangig erschienen, trugen gelb und rot bemalte Ziegen-Felle ... 25 Bewaffnete gingen an Land, die untersuch-ten, wer in den Häusern sei; in einigen entdeckten sie rund 30 nackte Männer, die angesichts der Bewaffneten eingeschüchtert waren und auf der Stelle flüch-teten. ... Sie entdeckten auch ein Bethaus, einen ihrer Tempel, in dessen Inne-rem weder ein Bild noch ein Schmuck war, außer einer aus Stein geformten Statue, die einen Mann mit einer Kugel in der Hand darstellte, nackt, die Scham in Landesart mit Palmwedeln bedeckt. ... Die vier gefangen genommenen Män-ner ... gingen nackt umher, sie trugen jedoch eine Art Lendenschurz, der mit einer Schnur an der Hüfte befestigt war, hergestellt aus Palmblättern oder Bin-sen, ... der ihre Scham voll bedeckte, in einer Art, dass weder der Wind noch ein anderer Zufall ihn anheben konnte. Letzteres widerspricht etwas der Beschreibung bei Andrés Bernáldez; die Beobachtung von Recco, der im Gegensatz zu Bernáldez Augenzeuge ist, dürfte authentischer sein und weist darauf hin, dass auch bei den Männern Scham existierte. [Gran Canaria] Ihre Frauen verheiraten sich, und [erst] wenn sie geheiratet haben, gebrauchen sie den Lendenschurz wie die Männer; während die Jung-frauen komplett nackt umherlaufen, ohne deshalb irgendeine Scham zu zeigen. Torriani berichtet im Gegensatz, dass die grancanarischen Frauen eine Art Lederkleid trugen, das den ganzen Körper vom Hals bis zu den Füßen be-deckte; ich halte dies jedoch für eine späte Nachricht (über 100 Jahre nach der Eroberung Gran Canarias), die möglicherweise nur auf einer Beobachtung im Winter basiert und/oder schon aus christlich beeinflusster Zeit stammt. Die Beschreibung der Jungfrauen mag durchaus den tatsächlichen Sitten entsprochen haben; aufgrund der Beschreibungen bei anderen Chronisten, die den rigorosen sittlichen Schutz der Jungfrauen auf Gran Canaria hervor- ALMOGAREN XXVIII/1997MM31 heben, möchte ich gerade hier schamkontrolliertes Schauen in hohem Maße vermuten. Ich führe dies darauf zurück, dass bei den Ehefrauen und Harima-guadas allein das Beobachten von ferne ihrer nackten Körper beim Baden schon strafbar war; ein Zustand also, in dem die Frauen eine unbeabsichtigte Zurschaustellung ihres Genitals nicht verhindern konnten. Die Frage ist, wie-weit bereits bei der Kindererziehung schambesetztes Schauen eine Rolle spiel-te. So wissen wir von den Kwoma im nördlichen Neuguinea, dass schon den kleinen Buben streng verboten war, den völlig nackt umherlaufenden Frauen auf den Genitalbereich zu starren (Duerr 1994: 140). Begegneten die Frauen auf einem Urwaldpfad einem Mann, so mussten sie sich wortlos abwenden, damit die Vulva nicht den Blicken preisgegeben war. Letzteres erinnert an die Verhaltensrolle des tinerfenischen Mannes, der sich ebenfalls wortlos an der Frau vorbeidrücken musste; ja, es scheint sogar verschiedene Pfade für Män-ner und Frauen auf Tenerife gegeben zu haben. Ob die katalanischen, spanischen und anderen europäischen Beobachter wirklich genau registriert haben, ob die nackt umherwandelnden kanarischen Mädchen und Frauen schamvoll waren oder nicht, wage ich zu bezweifeln. Das flüchtige Aburteilen wird zum Beispiel an den Beschreibungen der Klei-dung deutlich, die je nach Autor etwas mehr oder weniger genau ausfallen; die Spannweite der Einstufungen reicht von primitiv bis elegant, kunstvoll und handfertig. Die Sitte der Frauen, erst bei der Heirat oder spätestens nach der Geburt des ersten Kindes die Scham zu bedecken, begegnet uns auch bei dem ostafri-kanischen Stamm der Nuer. Befanden sich die völlig nackt laufenden heirats-fähigen Mädchen dieses Stammes auch im Zustand der Bräutigamsschau, so war es den jungen Burschen doch untersagt auf die Scham zu schauen und auch die Mädchen bewegten sich so, dass die Vulva nicht exhibitionistisch präsentiert wurde, u.a. durch Zusammenpressen der Oberschenkel (Duerr 1994: 140). Ich frage mich dann allerdings, warum die Jungfrau einerseits attraktieren möchte, andererseits aber streng darauf achtet, dass das, womit sie wirbt, nicht gesehen wird. Ist es das uralte Katz- und Mausspiel der Koket-terie? Ein noch so winziger Lendenschurz hätte allen Beteiligten das Leben sehr viel leichter gemacht – wie etwa die mit zunehmendem Alter der Mäd-chen wachsende Zahl der vorgebundenen Schamstreifen bei den schwarz-afrikanischen Lango. Die aufgeworfene Frage lässt sich mit einigen Aussagen von Duerr (1994: 257) vielleicht so beantworten: Die (Jung-)Frau geht mit der Aussendung ihrer Reize sparsam um und verwendet sie gezielt bei einem genehmen Partner; damit reduziert sie auch die sexuelle Rivalität unter ihren männlichen Stammesgenossen, was Konflikte vermeiden hilft; die Partner- 32MMALMOGAREN XXVIII/1997 beziehung kann fester werden, was die Kinderpflege und die Sozialisierung des Nachwuchses vereinfacht; und schließlich kann sich der Mann sicherer sein, dass das Kind von ihm stammt. Auch der generelle Wunsch des Men-schen, sein gesellschaftliches Auftreten in eine öffentliche und eine private Sphäre zu trennen, dürfte eine Rolle spielen. Sedeño, Antonio (Ms. um 1495): [Gran Canaria] ... es gab [bestimmte] Personen für alles, ... wie Kinder unter-richten, wobei die Lehrer für Mädchen Frauen und für Jungen Männer waren. (1993: 373) [Gran Canaria] Die Canarios durften sich ein Leben lang nur mit einer beliebi-gen Frau verheiraten. Sie waren sehr eifersüchtig und unterdrückten sie [die Frauen] sehr; ohne Erlaubnis des Ehemannes durften sie nicht ins Meer baden gehen und zwar an einem abgetrennten Ort, wohin kein Mann bei Todesstrafe gehen durfte. (1993: 377) Dass es nur für Frauen reservierte Strandabschnitte gab, beschreibt auch Sosa (1994: 307); nach Castillo (1950: 173) mussten auch immer Frauen aus der Familie oder aus der gleichen Kaste dabei sein. Tatsächlich gibt es heute noch einen grancanarischen Ortsnamen, der auf solch spezielle Badestrände hinweist: die "Costa de Bañaderos" bei Arucas. Bei den westafrikanischen Mandingos war die Strafandrohung etwas weni-ger hart: Versuchte früher ein Mann, einen Blick auf die Genitalien einer badenden Frau zu ergattern, so musste er damit rechnen, als Sklave verkauft zu werden (Duerr 1994: 419). Die Eifersucht und moralische Strenge der grancanarischen Männer ge-genüber ihren Frauen, besonders beim Meeresbad, weckt Assoziationen mit der islamischen Welt und der rigorosen Abgeschlossenheit des Hammam (Badehauses) der Frauen. Tatsächlich hatten die Kanarischen Inseln im 9.-12. Jh. immer wieder vereinzelten Kontakt mit maurischen Expeditionen. Für die Zeit um 1200 ist sogar der Besuch des islamischen Mystikers und Predigers Abu Yahya al Sa'ih überliefert (al-Tādilī [13. Jh.], Rabat 1958/1985; auch Ulbrich 1990: 62-71). Sollte er auf die Canarios eingewirkt haben? Für islami-schen Einfluss auf die Altkanarier gibt es ansonsten wenig Hinweise. [Gran Canaria] Wenn der Guanarteme [König] ... sein Haus verließ, war die Ehre, ihn beherbergen zu dürfen, so groß, dass der Hausherr dies damit vergolt, dass er seine Frau oder eine seiner jungfräulichen Töchter anbot. Und wurde sie schwanger und gebar Kinder, welche auch immer, wurden sie als [adlige] Ba-starde des Königs angesehen, und sie [die Mutter] blieb ehrenhaft. (1993: 377) Aus der Zeit der Conquista wird von dem guanarteme Tenesor Semidan "El Bueno" aus Gáldar, dem späteren Don Fernando Guanarteme d.Ä., berichtet, ALMOGAREN XXVIII/1997MM33 der 42 oder nach Arribas y Sánchez (1993: 237) sogar 115 uneheliche Kinder hatte; legitim war einzig nur eine seiner Töchter. [Gran Canaria] Sie [die Könige] durften sich [neben nicht-verwandten Frauen auch] mit der Cousine und der Witwe des Bruders verheiraten; die Adligen und anderen [Untertanen] mit Cousinen zweiten und dritten Grades. (1993: 377) In den Ergänzungen zum Sedeño-Text (1993: 378f) lesen wir über Tenerife, dass nur für einen Witwer oder eine Witwe eine zweite Heirat möglich war (dies im Gegensatz zur vorchristlichen Zeit). Eine entehrte Jungfrau erhielt die Todesstrafe, oder wenigstens – wenn für die Entjungferte kein noch so gewöhnlicher Ehemann gefunden werden konnte – Dauerarrest. Die in der 2. Hälfte des 15. Jhs. schon stark christlich beeinflussten Harimaguadas von Tenerife, die sich anders als auf Gran Canaria mehr zu Ordensschwestern entwickelt hatten, durften ohne Heiratsversprechen das Kloster nicht verlas-sen, was im Einzelfall eine lebenlange Zurückgezogenheit bedeuten konnte. Sosa, Fray José de (Ms. 1678) Sosa gibt uns Informationen über die Altersstruktur der Harimaguadas: ["Gran Canaria" - richtigerweise in diesem Fall aber Tenerife] Diese Jungfrau-en waren eine Art Nonne ... seit dem zarten Mädchenalter. ... [Sie lebten in] Klausur ab dem achten bis zwölften Lebensjahr, denn der König erlaubte nicht ein späteres [Eintritts-]Alter, damit man sie bis zum 25. oder 30. Lebensjahr im Kloster behalte. (1994: 285) Damit liegt auch das früheste Heiratsalter der tinerfenischen Harimaguadas fest, das zwischen 25 und 30 lag. Für ihre Unterrichtung und Führung gab es eine erfahrene ältere "matrona", also eine Art Äbtissin (Sosa 1994: 295). Marín de Cubas (1986: 257) begrenzt den Klosteraufenthalt auf das 14. bis 30. Jahr; Castillo (1950: 171) auf das 8. ("poco más o menos") bis 20. Jahr. Neben diesen Quasi-Nonnen muss es auf Tenerife aber auch Männer gege-ben haben, die in einer Art Ordensgemeinschaft lebten, wie Castillo berichtet (man denke an die Missionierung des Fray Alfonso de Bolaños ab ca. 1462). Torriani, Leonardo (Ms. 1590) [Lanzarote] Sie heirateten so viele Frauen, als sie wollten, und schlossen nur die Schwestern aus. (1940/1979: 79) Die von Torriani berichtete Polygynie auf Lanzarote ist bei Boutier & Le-verrier eine Polyandrie; die Beobachtung von letzteren fand über 180 Jahre früher statt als die Niederschrift von Torrianis Informationen, und dürfte authentischer sein. Entweder hat sich Torriani geirrt oder seine Angaben be-treffen – was ich eher glaube – die Nachbarinsel Fuerteventura. Die Existenz von "Geliebten" auf Fuerteventura geht aus einem kurzen Hinweis bei Bestrafungspraktiken hervor (1940/1979: 95). Und: 34MMALMOGAREN XXVIII/1997 [Fuerteventura] Sie waren den Weibern sehr zugetan. (1940/1979: 93) Die von Torriani für Fuerteventura gemeldete Promiskuität sagt nichts über eventuell damit verbundene Regeln aus. Da Promiskuität eine Angele-genheit beider Partner ist und die eingeborenen Frauen auf Fuerteventura hohes soziales Ansehen hatten – auch in moralischer Hinsicht – möchte ich gewisse Regularien annehmen. Die hohe Achtung der grancanarischen Frau, deren Beleidigung sogar zu einem Krieg führen konnte, wie Torriani (1940/1979: 107) berichtet, lässt uns bei den Beschreibungen von Hemmerlin doch sehr vorsichtig in unserer Be-urteilung sein. Sogar bei Stammeskriegen (meist aus Streit über Viehraub und Weiderechte), bei denen andere Dörfer geplündert wurden, verschonte man Frauen, Söhne und Bethäuser der Feinde (1940/1979: 121). Der von Norbert Elias propagierte Zivilisationsprozess hat es bis heute nicht geschafft, solch eine Verhaltensweise herbeizuführen, wie wir jüngst erst im bosnisch-serbi-schen Bürgerkrieg erfahren mussten. [Gran Canaria] Der Kanarier verband sich nur mit einer einzigen Frau; nicht aber nahm eine Kanarierin fünf Gatten, wie Diego de Lujan, ein spanischer Schriftsteller, schreibt ... (1940/1979: 121) [Siehe dazu S. 12f] Ein Phallus-Symbol waren möglicherweise jene dicken Baumstämme, die auf den Berggipfeln von Gran Canaria aufgestellt wurden (1940/1979: 121). [El Hierro] Sie verheirateten sich mit so vielen Frauen, als sie wollten, die Mutter ausgenommen. (1940/1979: 189) [Geschwisterehe war also möglich.] Torriani (1940/1979: 197) berichtet weiterhin von einer Begebenheit auf El Hierro, die darauf schließen lässt, dass die Bimbaches trotz Polygynie keine Vergewaltigung und Hurerei duldeten: [El Hierro] Dieser Kapitän [Lázaro Vizcaino, der von Maciot de Bethencourt eingesetzte Gouverneur] verfiel aber durch das Gift Amors in Nachlässigkeit und begann, da ihm die Weiber schön und einfältig erschienen, mit zügelloser Gier jene zu vergewaltigen, die ihm am besten gefielen. Dies war der Grund, dass die Inselbewohner sich ein zweites Mal erhoben ... [Tenerife] Man glaubt, vor dieser Zeit [der ersten christlichen Kontakte] habe es unter den Inselbewohnern keinerlei Religion gegeben, und sie hätten ge-meinsam die Frauen gebraucht, ausgenommen die Mutter ... (1940/1979: 167) Diese Angaben müssen nicht den Schilderungen der strengen Sitten auf Tenerife widersprechen, da sie offenbar eine frühere Zeit betreffen. Anderer-seits darf man als heutiger Betrachter nicht den Fehler begehen, aufgrund des zunehmenden Alters einer Kultur auf ein um so "heidnischeres" Verhalten schließen zu können. Eine bestimmte Richtung der Völkerkunde, die eine Entwicklung des Menschen hin zum Besseren postulierte, ging fälschlicher-weise von einer Art Urpromiskuität unserer frühesten Vorfahren aus, die an- ALMOGAREN XXVIII/1997MM35 geblich weder durch anhaltende sexuelle Beziehungen noch durch eine Inzest-scheu geprägt war (Dunde 1992: 193). Was auf Tenerife von den mittelalterli-chen, vorschnell urteilenden Beobachtern als schändliche Hurerei angesehen wurde, könnte in Wirklichkeit eine streng geregelte Polygamie gewesen sein, die zudem freiwillig war oder nur zeitweise bei bestimmten sozialen Verhält-nissen angewendet wurde – quasi als bevölkerungspolitisches Regulans. Schließlich könnte es sich auch um orgiastische Riten anlässlich der auf Tenerife bekannten Erntedankfeste gehandelt haben. [Tenerife] Sie durften außerhalb der Häuser bei Todesstrafe mit keiner Frau sprechen, und wenn sie heiraten wollten, wurde ihnen die Frau, die sie begehr-ten, zugestanden, aber ohne Mitgift. Wenn der Mann dann ihrer überdrüssig war, konnte er sie nach Hause zu ihrem Vater schicken und behielt die Söhne, die aber durch die Scheidung von Vater und Mutter zu Bastarden wurden. Man sagt, dass sie ihre Verwandten heiraten durften, ausgenommen Mutter und Schwestern. (1940/1979: 167) Dies deckt sich mit Schilderungen von Abreu Galindo. [La Gomera] Ihre Kleidung bestand in der Bedeckung der unanständigsten Körperteile und in der Umwicklung des Kopfes mit einer Binde aus roter Farbe, die sie aus den Wurzeln eines Tajinaste genannten Baumes [Echium-Art von max. Busch-Größe] gewannen, der auch die Schminke für die Frauen lieferte. Zuweilen verhüllten sie sich auch in einen Tamarco [Umhang] nach Art des von Canaria oder Tenerife, der aus drei Fellen hergestellt war. (1940/1979: 181) Viera y Clavijo, José de (Erstdruck 1772-83): Das für unsere Zwecke sehr späte Geschichtswerk von Viera basiert in vielen Details auf älteren Autoren und Quellen, so dass es sinnvoll erscheint, ihn nur dort zu zitieren, wo er Abweichungen oder Präzisierungen bringt, die er mit Hilfe eigener Nachrichtensammlungen wiedergibt. [El Hierro] Auf der Insel El Hierro war keine andere Bedingung erforderlich, um eine Heirat einzugehen, als eine Braut liebzugewinnen und die Eltern mit ein paar Stück Vieh zu beschenken. ... Die Herreños kannten auch keine ande-ren Arten von Verwandtschaft, als Mutter und Schwestern; und ihre Führer können auch dieses [Ehe-]Hindernis noch aufheben, wie es die Könige in Per-sien und einige Ptolemäer in Ägypten tun konnten. Die von Abreu erwähnte Sitte auf Tenerife, Neugeborene rituell am ganzen Körper zu waschen, stellt Viera (1982 I: 168) nur als ein Benetzen des Kopfes dar; also eine Art Taufe, die er nicht – wie Torriani (1940/1979: 167) – auf eine frühe Christianisierung Tenerifes durch Sankt Brandan und andere Missiona-re zurückführt, sondern als uralte Eingeborenenpraxis bezeichnet. Núñez (1676: 27) sieht die Ursprünge dieser Taufe ebenfalls als vorchristlich, vermu-tet aber wie Espinosa (1980: 35) eine Verfeinerung (z.B. die damit verbundene Namensgebung) durch den Besuch christlicher Missionare vor den Spaniern. 36MMALMOGAREN XXVIII/1997 Auch in den Beifügungen zu dem Manuskript von Sedeño (1993: 378) lesen wir vom Benetzen des Kopfes eines Neugeborenen. In dem Sedeño-Text ist es die Zuständigkeit der tinerfenischen harimaguadas (maguadas bei anderen Chronisten), die damit sogar eine Quasiverwandtschaft mit den Eltern erlang-ten. Letzteres beschreiben Espinosa, Torriani und Núñez de la Peña ebenfalls für Tenerife. Gómez Escudero (1993: 438) betont ausdrücklich, dass diese Sitte auf Gran Canaria und Tenerife üblich war. Und Marín de Cubas (1986: 279) schreibt unmissverständlich, dass "es [auf Tenerife] Frauen gab, die in Gemeinschaft lebten, in einer Klausur wie die Harimaguadas von Gran Canaria". Die Konfusion über die verschiedenen Harimaguadas auf Tenerife und Gran Canaria soll Thema eines späteren Aufsatzes sein. Zurara, Gomes Eanes de (Ms. 1448): [Tenerife] Sie haben [heiraten] viele Frauen. (Kap. 81) Der Portugiese bingt zuverlässige Nachrichten, so dass seine Angabe über Polygamie die ähnlich lautende von Torriani unterstützt. Sie betrifft eine Zeit vor der Conquista bzw. vor der Christianisierung. [La Gomera] Sie gehen total nackt und haben wenig Scham dabei. Über Kleider spotteten sie sogar, da sie nur Säcke seien, in die die Menschen sich selbst hineinstecken. ... Die Frauen sind Allgemeingut. ... Eine der ersten Pflichten der Gastfreundschaft dieses Volkes ist es, ihre Frau dem Gast anzubieten; ihre Zurückweisung wurde als Beleidigung angesehen. (Kap. 80) Über angeblich mangelnde Scham wird Zurara genau so voreingenommen geurteilt haben wie andere Zeitgenossen. Die Kleidung, die Abreu und Torriani schildern, dürfte aus späterer Zeit stammen. Die Gastprostitution entspricht den Sitten auf Gran Canaria und Lanzarote. Die Vielweiberei auf Gomera wird auch von der ersten spanischen Inselherrin, Beatriz de Bobadilla, in einem amtlichen Dokument bestätigt (Aznar Vallejo 1981: 68): "... sie leben nackt und haben acht bis zehn Frauen". [La Gomera: Die Gastprostitution hatte zur Folge] ... dass die Kinder nicht vor den Neffen erben. (Kap. 80) Die mutterrechtliche Erbfolge über Schwesternsöhne (Neffen des Verstor-benen) auf Gomera entspricht Sitten, wie sie zum Teil bei Altlibyern und Kelten zu beobachten sind (Wölfel 1951). Bei den Libyern der Antike scheint Polygynie nur unter den Fürsten ge-herrscht zu haben. Die Berber Nordafrikas haben die im Islam erlaubte Poly-gynie weitgehend nicht übernommen. Laoust (1921: 52) berichtet jedoch von Šil -Hirten im Süden Marokkos, die bei einer bestimmten Haushaltsgröße oder bei Unfruchtbarkeit der ersten Frau (tam art) manchmal eine Zweitfrau (takna) genommen haben. Für altlibysche Promiskuität bringt Herodot Bei- ALMOGAREN XXVIII/1997MM37 spiele: Bei den ehelosen Machlyern und Auseern der Kleinen Syrte, ebenso bei den Gindanen und Nasamonen. 4. Die Manifestation in Felsbildern Sexuelle und erotische Bezüge in der prähispanischen Felsbildkunst des kanarischen Archipels sind von Insel zu Insel sehr unterschiedlich. Während auf El Hierro und Gran Canaria ein relativ hoher Anteil der Ritzungen, Gra-vuren und Punzierungen sexuellen Inhalt hat (die Betonung von Sexual-organen in Abbildungen von Menschen eingerechnet), sind solche Darstellun-gen auf den restlichen Inseln weitgehend ein Randthema. Dies muss jedoch mit Vorbehalt konstatiert werden, da z.B. die kanarischen Spiral-, Sonnenrad-und Radnetz-Motive noch nicht eindeutig und abschließend geklärt sind. In allen sexuell interpretierbaren Fällen können wir davon ausgehen, dass ein Teil dieser Felsbilder mit Fruchtbarkeitsriten und potenzsteigernder Magie zusammenhängt, dass aber auch ein nicht kleiner Teil normale Graffiti sein dürften, wie sie etwa ein Hirte oder Wachtposten aus Langeweile und eroti-scher Träumerei in den Fels ritzte. Auffallend sind die vielen Parallelen zu Schamdreiecken und Vulvensym-bolen in Europa (Abb. 13, 14) und Nordwestafrika (Abb. 6, 15a), was bezüglich der Abstraktion und künstlerischen Variation von sexuellen Symbolen auch auf ein universelles Ideengut deutet und nicht ausschließlich auf lineare Ver-wandtschaften. Einige der von Leroi-Gourhan² für Westeuropa zusammenge-stellten Entwicklungssequenzen (Abb. 14) können auch auf den Kanarischen Inseln beobachtet werden. Da diese europäischen Entwicklungsfolgen das Jungpaläolithikum betreffen, kann eine solche Chronologie keinesfalls auf die prähispanischen Kanarischen Inseln übertragen werden, die wahrscheinlich erst im mittleren bis späten Neolithikum erstmals besiedelt wurden. Nicht in allen Fällen müssen meines Erachtens zwischen verschiedenen Entwicklungs-stufen der altkanarischen Vulvensymbole große Zeiträume gelegen haben. Ich meine vielmehr, dass die Variationsbreite und individuelle künstlerische Aus-gestaltung von sexuellen Organen in der Felsbildkunst der altkanarischen In-selgesellschaften zu allen Zeiten immer wieder in der einen oder anderen Form aufs neue ablaufen konnte. Dass heißt, die Abstraktionsidee, die der eine auf ganz individuelle Weise gehabt haben kann, konnte von anderen des Clans relativ schnell aufgegriffen und abgewandelt worden sein; sie konnte aber auch ² Der Versuch einiger Autoren, manche der von Leroi-Gourhan in mehreren Publikatio-nen sexuell gedeuteten Zeichen als Sinnbilder mit anderem Inhalt zu interpretieren, scheitert meines Erachtens an der eindeutig sexuellen Aussage dieser Zeichen in den Phallus-/Vulva-Kombinationen (siehe Leroi-Gourhan 1971: Abb. 812). 38MMALMOGAREN XXVIII/1997 aufgrund der Isolation der Menschengruppen für einen bestimmten Zeitraum keine Fortentwicklung erfahren haben. Isolation bestand auf den Kanarischen Inseln nicht nur weitgehend zum Festland, sondern auch zwischen den Inseln (reduzierte Seemannskünste, unterschiedliche Ethnien) und sogar innerhalb einer Insel (Verkehrs- bzw. Kommunikationsprobleme durch stark zerklüfte-te Berglandschaften, geringe Besiedlungsdichte, Stammes- bzw. politische Grenzen, Trennung der Hirten von der Großfamilie durch Transhumanz, Ka-sten). Die in mehreren kleinen Schüben eintreffenden Neusiedler aus verschie-denen Regionen konnten für weitere Varianten und/oder Ausgangsformen ge-sorgt haben. Darüber hinaus ist nicht auszuschließen, dass einzelne neolithi-sche Formen der Genitaldarstellung in den Felsgravuren erhalten blieben und sogar bis in frühgeschichtliche Zeit tradiert wurden. Der Meinung von O'Shanahan (1979), wonach die auf der Spitze stehenden Dreiecke der kanarischen Felsbilder und Dekorationen (auf Pintaderas und Keramik) einen tiefenpsychologischen, "unschuldigen" Zusammenhang zu der Triade Vater-Mutter-Nachkommenschaft haben, einem "archetypischen Bild der Fortpflanzung", und nur einen sekundären Bezug zu körperlicher Sexualität oder Fruchtbarkeitsriten, kann ich nicht folgen. Der Autor über-sieht meines Erachtens, dass das reine Dreieck in vielen Fällen die Vereinfa-chung eines komplexeren Zeichens ist, das keine anatomischen Zweifel an der Darstellung eines weiblichen Genitals lässt. Lanzarote: Auf dieser Insel sind mehrere Vulven-Zeichen (Beispiele Abb. 16e, 25a-d, 30) und Phallus-Symbole (Typ 17/18/20 in Tabelle 12; Abb. 45 und vielleicht auch in Abb. 25d) zu finden. Hervorzuheben ist eine Kombination von Strahlen und Vulva in einem Paneel der Peña de la Fecundidad (Abb. 8.27, 30a). Dass es sich bei den ringsum angefügten Linien möglicherweise um Sonnenstrahlen und nicht um Schamhaare oder Sperma handelt, leite ich aus der Tatsache ab, dass die Religion der Mahos auch einen Sonnenkult umfass-te. Die neue Fundstelle im Valle de Fuente Salada (Orzola) erbrachte u.a. eine klare Phallus-/Vulva-Kombination (Abb. 16e). Abb. 16e ist ein Detail von Abb. 30b (große Wiedergabe in Ulbrich 1998: 124-126). Fuerteventura: Auf der Nachbarinsel von Lanzarote sind Felsbilder mit se-xuellem Inhalt relativ rar (nicht berücksichtigt, weil [1997] noch nicht veröf-fentlicht, sind hier die von W. Pichler in den Jahren 1992-94 aufgezeichneten Felsbilder). Die Kombination aus Vulva und Phallus in Abb. 16d birgt kaum Unsicherheiten in sich; eine Entwicklung von aus ist problemlos möglich (siehe Abb. 6). Letzteres Zeichen im inschriftfreien Kontext als Vulvensymbol anzusehen, erlauben die Beispiele des nahen Festlandes und der Insel El Hierro, wo der sexuelle Bezug eindeutig gegeben ist. Nun eine zweite Ent- ALMOGAREN XXVIII/1997MM39 stehungsmöglichkeit für : Wir wissen, dass Altkanarier einen Punkt in Fels-gravuren gerne als überkreuzende Linien darstellten, nicht nur weil ein Kreuz auf Fels besser zu erkennen ist, sondern auch weil ein Kreuz leichter zu ritzen ist als ein fetter Punkt; damit könnte man ein in Osteuropa und Kleinasien weit verbreitetes Fruchtbarkeitssymbol des Neolithikums in die Betrachtun-gen einbeziehen, nämlich die Raute mit zentralem Punkt ( → → ). Die Raute mit Punkt taucht auf vielen Statuetten der schwangeren Urmutter über ihrem Unterleib auf und symbolisiert nach Gimbutas (1975: 134) die Saat im Feld. Auch auf Gran Canaria finden wir die Raute mit Punkt in einer weibli-chen Statuette (Abb. 40a); hier sogar mit 5 Punkten, was die oben angedeutete Entwicklung zum Rechteck mit diagonalem Innenkreuz unterstützt. Demnach könnte die Entwicklung auch wie → → abgelaufen sein. Der Punkt oder kurze Strich (einzeln / mehrfach) scheint sehr oft die Bedeutung von Samen zu haben – menschlichem (Abb. 3-7, 13.10), tierischem und pflanzlichem. Die Bedeutung der Herzformen von Fuerteventura (Abb. 32a/b) ist unsicher. Sie muten modern an, könnten aber sehr wohl als prähispanische Schamdrei-ecke interpretiert werden, wie die Beispiele von El Hierro (Abb. 8.61, 8.62, 8.64, 32c), NW-Afrika (Abb. 15a.17, 15a.18, 15a.55) und Europa (Abb. 13.21, 13.22, 13.23, 14.B1) nahelegen. Die "Herz"-Kerbe befindet sich mal oben und mal unten, je nach Auffassung des Künstlers (und bei horizontalen Flächen auch je nach Position des Betrachters). Die Patina der "Herzen" von Fuerte-ventura ist relativ dunkel und die Formen z.T. ungewöhnlich ( ). Auf den gleichen Paneelen befinden sich einige neuzeitliche Inschriften (die Buchsta-ben ER zweimal), deren Patina aber heller ist und die vermutlich später einge-fügt wurden. Man beachte, dass das lanzarotische Vulven-Symbol in Abb. 30b einen ähnlichen Fortsatz hat, wie eines der "Herzen" in Abb. 32a. Gran Canaria: Die petroglyphische Besonderheit dieser Insel sind zahlrei-che, bezüglich unseres Themas sehr ergiebige Fundkomplexe; zunächst der Barranco de Balos mit seinen Symbolen und Menschendarstellungen, und dann über 10 Höhlen, mit unterschiedlichen Vulven- und Schoßdreieck-Abbil-dungen in Form von linearen Gravuren und Tiefenreliefs (Abb. 16g, 16j, 37a-c). Herausragend unter letzteren ist die Cueva de los Candiles mit alleine über 320 Vulven (Cuenca Sanabria & Rivero López 1994). Unter den Menschen-darstellungen des Barranco de Balos fallen einige männliche Figuren auf, die mit stark betonten Penissen ausgestattet sind (Abb. 34b-h). Dies muss nicht immer eine Verbindung zu Fruchtbarkeitsriten oder eine Potenzdemonstration bedeuten, sondern kann im Einzelfall auch mit dem Problem zusammenhän-gen, mit einem Stein als "Malgriffel" eine anatomisch realistische Länge des Gliedes besonders bei kleinen Figuren nur ungenau eingravieren zu können. 40MMALMOGAREN XXVIII/1997 Nichtsdestoweniger dürfte bei einigen dieser Figuren eine bewusste Überbe-tonung des Genitals vorliegen. In diesem Zusammenhang fällt eine Figur in Grußhaltung auf (Abb. 35c), bei der als einzige Kleidung angedeutet ist; hier könnte es sich um einen Guanarteme (Häuptling) handeln, der den Berichten zufolge deutlich mehr und kunstvollere Kleidung trug als der gewöhnliche Canario. Der extrem lange Penis der Figur könnte eine Anspielung auf das ius primae noctis des Oberhaupts sein. Eine andere merkwürdige Figur des Bar-ranco de Balos (Abb. 35a) ist umstritten: Beltrán Martínez (1971: 24f) sieht eine männliche Figur mit großem Penis und deutlichen Hoden. Der Vergleich mit einigen Koitusdarstellungen des marokkanischen Festlandes (Beispiele Abb. 36), bei denen die Partner gegenüberliegen, zeigt jedoch klar, dass es sich um ein kopulierendes Paar handelt; die vermeintlichen Hoden sind die Brüste der Partnerin, die beiden Beinpaare sind zeichnerisch zu einem Paar verschmol-zen. Auch die Abb. 35b kann in diesem Sinn gedeutet werden. Tenerife: Diese große Insel ist relativ arm an sexuell deutbaren Felsbildern. Dies mag damit zusammenhängen, dass noch längst nicht alle Felsbilder Tene-rifes entdeckt sind und nur teilweise veröffentlicht wurden. Das Paneel vom Risco Marrubial (Abb. 2) mit einer Vulva und zwei Kombinationen von Vulva und Phallus gehört zu den wenigen, die klar zu unserem Thema passen. Als weitere Felsbildstationen mit einigen mehr oder weniger sicheren Sexualsym-bolen sind vielleicht Morro Grueso (Adeje), Montaña Ifara (Granadilla) sowie Fustín und Aripe (Abb. 31a) bei Guía de Isora anzusehen. Zwei Mauersteine, die bei La Laguna gefunden wurden, enthalten Darstellungen von Vulven (Abb. Abb. 2 - Paneel mit Sexualsymbolen vom Risco Marrubial, Sta. Cruz de Tenerife. Ausschnitte davon siehe Abb. 16f und 16i (Foto: J.J. Jiménez González). ALMOGAREN XXVIII/1997MM41 31b-c). Auffallend ist eine Felsgravur von Aripe (Abb. 16k), die vermutlich eine Kombination von Schamdreieck und Phallus darstellt; letzterer erinnert an ei-nige Phallus-Symbole des afrikanischen Festlandes (Abb. 4c, 15b.46-48; u.a. ) und an die sogenannten "hantelförmigen" Symbole ( ) der Iberischen Halbin-sel, die meines Erachtens zum Teil sexuell zu deuten sind (also nicht immer als Abstraktion einer menschlichen Figur, wie H. Breuil meinte). Zwei alteuropä-ische Formen weisen laut Leroi-Gourhan ebenfalls stark vereinfachte bzw. nur mit zwei Halbkreisen dargestellte Hoden auf: (siehe auch Abb. 44A). La Gomera: In den Felsbildern dieser Insel findet man nur wenige Motive wie Dreiecke, Winkel, Striche, aufgeteilte Rechtecke und Ovale, die mögli-cherweise (mit einiger Unsicherheit) einen sexuellen Bezug haben; man sehe in der Spalte "La Gomera" in Tabelle 8 und Tabelle 12. El Hierro: Meines Wissens der erste, der in den Motiven der Fundstelle Los Letreros, El Julan, auch sexuelle Symbole erkannte, war U. Topper (1977: 319). Tatsächlich ergab eine Analyse der in vielen Publikationen verstreuten Abbil-dungen und zahlreicher freundlicherweise von H. & C. Steiner zur Verfügung gestellter Dias einen sehr hohen Anteil an Darstellungen von weiblichen und männlichen Geschlechtsorganen; darunter Kombinationen von Vulva und Phal-lus (Beispiele siehe Abb. 16a/b/c/l, Abb. 43a-d). Der Stil von El Julan ist überall auf Hierro zu finden: u.a. La Restinga (Abb. 16h), La Caleta (Abb. 43e), Bar-ranco de Tejeleite, Barranco de Candia, Barr. del Cuervo, Hoyo de los Muertos, Cueva del Agua. Auffallend sind auch einige Kreise und Ovale, bei denen ent-weder ein Strich oder eine kurze Wellenlinie außen angefügt ist ( ); ich meine, dass es sich hier um Vulven mit eindringendem Sperma handelt. Dies erscheint zunächst sehr hypothetisch, wird aber weniger spekulativ, wenn wir Abb. 3 betrachten, die eindeutig ejakulierende Penisse darstellt; zur Gewiss-heit wird es, wenn wir die marokkanischen und kanarischen Felsbilder betrach-ten, in denen voneinander unterscheidbar Vulva, Sperma und Penis dargestellt werden (Abb. 4, 16j). Diese Interpretation der samenempfangenden Vulva könn-te auch auf die eine oder andere ähnliche Gravur von Gran Canaria und der Iberischen Halbinsel zutreffen; bei manchen Autoren werden solche Motive "lakiform" (see-/trogförmig) genannt, ohne dass damit in allen Fällen eine zu-friedenstellende Deutung gegeben wäre (siehe auch Abb. 5). Leroi-Gourhan Abb. 3 - Phallus-Darstellun-gen mit Ejakulat in marok-kanischen Felsbildern (a-c aus Malhomme 1959-61) und in Felsbildern der Letreros, El Julan, El Hierro (d / e). 42MMALMOGAREN XXVIII/1997 (1971: Abb. 812d) sieht das jungpaläolithische Zeichen als Kombination von Vulva und Phallus. Diese Interpretation mag bei geraden Strichen auch auf die weitaus jüngeren Symbole der Kanarischen Inseln anwendbar sein, meines Er-achtens aber nicht auf die Kombinationen mit Wellenlinien. Spiralen in Fels-bildern von El Hierro und den anderen Inseln haben als feminin besetztes Wiedergeburtssymbol nur indirekt mit Fortpflanzung und Eheleben zu tun. Abb. 7 Kombinationen von Phallus und po-tenzierter Vulva. a)-b) Lalla Mina Hammou, Hoher Atlas, Marokko (aus Malhomme 1961: Ausschnitte aus den Abb. 548, 711). c) El Julan, El Hierro. a) b) c) Abb. 4 a-e Kombinationen von Phallus, Sperma und Vulva in marokkanischen Felsbildern (Zeichnungen: Malhomme 1959-61); f-g dito in Felsbildern von El Hierro (El Julan). a) b) c) d) e) f) g) Abb. 5 - Zwei der sogenannten lakiformen Motive von der Cueva de Tito Bustillo, Ribadesellas, Asturias (jungpaläolithisch; Adaption einer Zeich-nung von F. Jordá Cerda). Ohne große Phantasie kann man sie meines Erachtens als Vulven mit ein-dringendem Sperma interpretieren. Abb. 6 - Entwicklung einiger Vulven-Symbole des Hohen Atlas (Marokko); zum Teil mit Samen-Zeichen kombiniert. ↓ ← ↔ ←→ ↓ ↓ ↓ ? → → → ↑ ↑ ↑ → → → → → → → ↓ ↓ ↓ ↓ ↓ ↓ ←→ → → ↓ ALMOGAREN XXVIII/1997MM43 Es muss offen bleiben, ob die Formen in Abb. 8.67b und 8.68 auf El Hierro Vulven darstellen oder die sonst auf den Inseln zu beobachtenden Abstrahie-rungen von menschlichen Füßen bzw. Fußpaaren. Die sexuelle Bedeutung zahlreicher Symbole der Fundstelle El Julan und die fragmentarische Ausführung anderer Zeichen dieser Region lassen die von D.J. Wölfel und ihm folgend von H. Biedermann (1970) postulierte Ähnlichkeit zu altkretischen Schriftzeichen als überholt erscheinen. Einige libysch-berberische Inschriften, die es in El Julan (Los Letreros) gibt, sind als solche zweifelsfrei erkennbar und werden von der sexuellen Interpretation vieler Zeichen nicht berührt. Dort wo auf El Hierro Patina und Gravurtechnik benachbarter Inschrif-ten und Sexualsymbole dieselben sind, ist eine (ansonsten noch unsichere) zeit-liche Parallelisierung natürlich erlaubt. Doch wann entstand die libysch-ber-berische Schrift und wie alt ist sie auf El Hierro? [Letzteres evtl. 300 v.Chr.] La Palma: Eine sexuelle Interpretation innerhalb der vielen Felsbilder ist schwierig, da zahlreiche Motive noch nicht geklärt sind oder – vorläufig – auch einem Wasser- und Regenkult zugerechnet werden können (z.B. Spira-len und Mäander). Nicht eindeutig zu interpretieren sind auch einige "Spiele"- Darstellungen (Abb. 8.15). Spiele-Abbildungen: Unter den Felsbild-Motiven der Kanarischen Inseln findet man immer wieder aufgeteilte Rechtecke ( ), die stark an die Felder von antiken Würfelspielen erinnern und auch als Adaptionen solcher Formen angesehen werden; auch ich vertrete diese Meinung. Dies lag aufgrund der grafischen Form nahe, obwohl sie sich in den meisten Fällen an unbespielbaren vertikalen Felswänden befinden. Hier scheint eine Wandlung zum Glücks-symbol stattgefunden zu haben. Unter den marokkanischen Beispielen dieses Typs sind auffallend viele mit Phallus- und Samen-Symbolen kombiniert, so dass sich z.T. auch eine Interpretation als weibliches Sexualsymbol anbietet (siehe Abb. 4e und 7a/b). Abb. 6 zeigt die mögliche Entwicklung dieser Zeichen. Alle Symbole der Abb. 6 können aufgrund ihres Kontextes in den berück-sichtigten Paneelen als Vulven-Zeichen gedeutet werden. Auf den Kanaren und auf der Iberischen Halbinsel dürften die Prozesse ähnlich abgelaufen sein – aber auch hier gilt, dass nur ein Teil der "Spiele" sexuell erklärt werden kann. Im Einzelfall ist schwer zu entscheiden, ob , und ein Vulven-Symbol oder ein "Spiel" (besser Glückssymbol) anzeigen, solange nicht eine Kombi-nation mit einem Phallus- oder Samen-Zeichen vorliegt (wie bei Abb. 16d). Potenzierungs-Magie: Einige der männlichen und weiblichen Sexual-Sym-bole im kanarischen, iberischen und marokkanischen Raum weisen Abwand-lungen und Variationen auf, die zum Teil als künstlerische Ausschmückung und z.T. als bewusste Verdoppelung oder Vervielfachung angesehen werden kön- 44MMALMOGAREN XXVIII/1997 nen (Abb. 6 teilw., 7, 8.15, 8.19c, 8.20, 8.30, evtl. 8.31b, 8.50, 8.58, 9.3b, 12.18- 20, 13.33, 14 teilw., 15a.3, 15a.8, 15a.52, 15b.60, 16l, 21b, 22c-e, 25e, 30b, 31b-c, 40.d, 43c-e, 44B-D, 45). Ich deute letztere Formen als Potenzierung der magi-schen Kraft einer solchen Felsgravur – sowohl kultisch (was Fruchtbarkeitsriten im Zusammenhang mit Herden, Ernten und menschlichem Nachwuchs betrifft) als auch rein erotisch. Diese bereits im Jungpaläolithikum ausgeübte Praxis hat auch in den folgenden Jahrtausenden immer wieder neue Varianten erfahren; bezüglich der Kanarischen Inseln kann nur vermutet werden, dass potenzierte Sexualsymbole vom späten Neolithikum bis in antike Zeiten eingraviert und vielleicht auch noch darüber hinaus kopiert bzw. nachgeahmt wurden. 5. Die Manifestation in Artefakten Für unser Thema interessante Artefakte finden wir nur auf Lanzarote, Fuer-teventura und Gran Canaria. Lanzarote: Weitgehend unbemerkt von der Fachwelt wurden auf Lanzarote zwei längliche Phalli aus Stein gefunden (Größe unbekannt, Grabungsstelle Zonzamas; Sanz Aranda 1974). Beide weisen Besonderheiten auf, die sie ge-genüber anderen Phallus-Artefakten des atlantisch-mediterranen Umfeldes (Abb. 18b-f) etwas herausheben: Das ist zum einen die abstrahierte Wiederga-be des Schwellkörpers (die senkrechte Linie in Abb. 18a) und zum anderen die Einbeziehung des Hodensacks (Abb. 19a). Letzteres erfordert eine etwas ge-nauere Betrachtung: Sanz Aranda (1974: 354) spricht von einem Doppelpenis (also von der Wiedergabe von zwei Eicheln), M. Almagro Basch folgend, und bringt dazu ähnliche Felsbilder aus der Westsahara. Ich meine aber, dass gera-de eine dieser Zeichnungen (Abb. 19c) und viele andere Beispiele aus Nord-westafrika (Abb. 15b) andeuten, dass die vermeintliche zweite Eichel in Wirk-lichkeit ein stilisierter Hodensack ist – dies wäre meines Erachtens ein plau-sibler Interpretationsansatz, obwohl ein Doppelpenis nicht auszuschließen ist. Für die Fundstelle Zonzamas liegen keine datierten Schichten vor. Die beiden Stein-Phalli und die drei kleinen Steinobjekte in Abb. 21 haben vermut-lich ein unterschiedliches Alter, wobei der terminus post quem das mittlere bis fortgeschrittene Neolithikum sein dürfte. Die kleinen Objekte (inkl. hier nicht abgebildeter Chalcedon-Plaketten, Dug Godoy 1988: 58) können gut als erotische Amulette gedeutet werden, wie der Vergleich mit Abb. 22/23 zeigt. In bestimmten antiken Kulturen, etwa der griechischen oder römischen, war der Gebrauch von künstlichen Phalli (Olisbos, Dildo) durchaus üblich. In bezug auf die lanzarotischen Phalli (Abb. 18a/19a) möchte ich jedoch eine praktische Anwendung zur Selbstbefriedigung oder Stimulierung ausschlie-ßen und einen kultischen Zweck annehmen, da die Objekte unter einem altar- ALMOGAREN XXVIII/1997MM45 ähnlichen Gebilde gefunden wurden. Auch der profane Gebrauch von künst-lichen Phalli aus Holz (Abb. 18c) oder Stein durch die Ägypterin ist nicht klar belegt; Manniche (1988: 71) deutet sie im wesentlichen als Votivgaben. Von Relevanz für unser Thema ist eine Statuette (Abb. 27), die man in den 80er Jahren ebenfalls bei der Ausgrabungsstätte Zonzamas (Lanzarote) fand. Die Ausgrabungsleiterin (Dug Godoy 1988: 54) sprach von einer "sehr sche-matisierten menschlichen Figur mit Krone". González Antón et alii (1995: 31- 33) bringen die Figur mit der ägyptischen Göttin Opet / Ipet / Ipy / Taweret / Taurt / Reret (griech. Thoeris, Thueris) in Verbindung, der spanischen Ägyp-tologin M.C. Pérez Díez folgend. Thoëris, eine Erscheinungsform der Großen Urmutter, war u.a. die Schutzgöttin der werdenden Mütter, gebärenden Frau-en und Wöchnerinnen. Ich selbst hatte die lanzarotische Statuette in einer ersten oberflächlichen Beurteilung ebenfalls dem Kreis der mediterranen Ur-mutter zugerechnet (Ulbrich 1991: 10). Zur Interpretation als Thoëris ist anzumerken: Die Göttin wird in Reliefs, Dekors und Statuetten durchwegs als stehendes, meist trächtiges Nilpferd-weibchen wiedergegeben (siehe Abb. 28), oft mit Krokodilrücken und Löwen-klauen. Eine hockende oder knieende Stellung wäre völlig untypisch. Auch das Gesicht der lanzarotischen Figur entspricht keinesfalls dem eines Nilpferds; sie als Thoëris anzusehen, erscheint mir daher unmöglich. Bei näherer Betrachtung der lanzarotischen Figur fallen zwei Eigenarten auf, die zu einer völlig anderen Interpretation führen: Der modiusförmige Kopfschmuck wurde vom Künstler nicht massiv herausgearbeitet, sondern hohl; dieses Detail ist in der Zeichnung von Dug Godoy (1988) nicht deutlich erkennbar, sondern erst in der Zeichnung bei González Antón et alii (1995). Eine weitere wichtige Erkenntnis ist die Ähnlichkeit der Gesichtszüge weder zu einem Nilpferd, noch zu einer Frau, sondern zu einem Affen. Auch die lan-gen Arme deuten auf eine Affenfigur. Aus Ägypten (Neues Reich und Spät-zeit) kennen wir zahlreiche Figurinengefäße in Affenform, die zum Beispiel als Salbgefäße in Gebrauch waren (Abb. 29b). Auch die Figur der Göttin Tho-ëris mit hohlem Kopfschmuck gibt es als Salbgefäß, aber eben als stehendes Nilpferdweibchen mit Nilpferdkopf, Krokodilrücken, menschlichen Brüsten und schwanger gewölbtem Bauch – alles Merkmale, die die lanzarotische Sta-tuette deutlich nicht aufweist. Affenförmige Salbgefäße tauchen auch in der etruskischen Kultur auf. Ihre stilistischen Vorbilder hatten sie in den griechischen, speziell in den korinthi-schen Aryballoi (Ölflakons), die ebenfalls in Form von Affen und anderen Tierarten modelliert waren. Etruskische Varianten des 7. und 6. Jhs. v. Chr. (Abb. 26) zeigen jedoch den schwanzlosen nordafrikanischen Makaken, den 46MMALMOGAREN XXVIII/1997 sogenannten "Berberaffen" (Macaca sylvana). Besonders zu diesen Aryballoi weist unser lanzarotisches Stück eine ganz verblüffende Ähnlichkeit auf. Die entsprechenden Handelsbeziehungen zwischen Etrurien und Nordafrika ge-hen auf phönizische Händler zurück, was eindrucksvoll eine tierförmige Elfen-beinplakette belegt, die auf der Rückseite das Wort "Karthago" in etruski-scher Schrift enthält (6. Jh. vor Christus, Nekropole von Karthago). Durch diese Beziehungen mag ein etruskischer Aryballos zu phönizisch akkulturierten Berbern gelangt sein, die wiederum auf die Kanarischen Inseln auswanderten oder zumindest Kontakt zu dieser Inselgruppe hatten. Etrus-kische Händler hatten aber auch Beziehungen zur iberischen Levante, so dass offen bleiben muss, ob die Statuette über Südspanien (vielleicht Fischerei be-treibende Tartessier) oder Nordwestafrika (eventuell phönizische Purpur-Händ-ler) nach Lanzarote gelangte; oder ob eine Kombination von beidem vorliegt, wenn wir an den Handel über die Straße von Gibraltar hinweg denken. Neben den Ägyptern und Etruskern kommen aber auch Karthager in Frage, die solche Aryballoi selbst herstellten (Abb. 29a) und die der Insel von atlantischen Nie-derlassungen aus einen Besuch abgestattet haben konnten. Besondere Beachtung verdient der Umstand, dass das lanzarotische Stück laut Dug Godoy (1988) aus "vulkanischem Sandstein" herausgearbeitet ist, also nicht aus Ton gebrannt ist, wie andere uns bekannte Aryballoi. Man muss sich fragen, was die Autorin mit "vulkanischem Sandstein" meint, da Sand-stein normalerweise ein nicht-vulkanisches Sedimentgestein ist. Der auf Lan-zarote vorkommende Kalksandstein ist weitgehend biogen, also fossilen Ur-sprungs; lediglich die auf der Nachbarinsel Fuerteventura vorkommenden submarinen Vulkanite enthalten gelegentlich Quarzsandstein und Marmor. Vielleicht meint die Autorin aber auch die auf den Inseln tosca blanca (oder caliche) genannten Kalkkrusten, die sich sowohl auf karbonatischen Sedi-menten als auch (vulkanischen) Basalten gebildet haben. Diese petrologischen Unsicherheiten werfen Fragen auf, die den geografischen Ursprung des Arte-fakts betreffen. Stilistisch würde ich eine Affinität zu etruskischen, karthagi-schen und ägyptischen Salbgefäßen konstatieren wollen, vielleicht auch zu einem erotischen Glücksbringer solcher Herkunft; lediglich die affentypische Hockstellung wurde bei dem lanzarotischen Stück im unteren Teil vertikal verkürzt. Petrografisch lässt sich keine genaue Aussage machen. Eine Herstel-lung der Figurine direkt auf Lanzarote würde ich als am wenigsten wahrschein-lich ansehen. Da es ein absoluter Einzelfund ist, können wir nicht von einem typischen Artefakt der altkanarischen Kultur sprechen. Dies schließt jedoch einen tatsächlichen Gebrauch nicht aus, denn wir wissen (z.B. konkret von La Gomera), dass sich die altkanarischen Frauen mit roter Farbe schminkten. ALMOGAREN XXVIII/1997MM47 Auch wenn die Kleinplastik als Salbgefäß interpretiert werden kann und damit dem Bereich der alltäglichen Gebrauchsgegenstände zuzurechnen wäre, führt uns die affenähnliche Gestalt der Figur wieder zum Thema Sexualität zurück: Affen tauchen in der Antike nicht selten in erotischem Zusammen-hang auf. Im Mittelalter war der Affe – insbesondere der weibliche – ein verbreitetes Symbol für Geilheit, Schamlosigkeit und Ehebruch (Duerr 1990: 279ff). Manniche (1988: 38, 60-64, 70-71, 173) beschreibt die Beziehungen des Affen zur Sexualität der frühgeschichtlichen Ägypterin. In einigen Dar-stellungen des Geschlechtsaktes hat die Partnerin ein Affengesicht. Kleine Affen tauchen in allerlei erotischen Graffiti auf. Der ägyptische Zwerggott Bes, der das Intimleben der Frauen und auch die Wöchnerinnen beschützte, wurde in Abbildungen manchmal durch einen Affen ersetzt. In ägyptischen Traumbüchern wird die Kopulation von Frauen und Pavianen abgehandelt. Ägyptische Kosmetikgefäße sind nicht selten mit einem Affen-Dekor verse-hen. Auch bei unserem lanzarotischen Salbgefäß können wir einen Zweck annehmen, der im Bereich Schönheitspflege oder Aphrodisiakum gelegen haben mochte. Die Menge Hautöl, Parfum oder Schminke, die in dem Hohl-raum des Kopfschmuckes Platz hätte, ist relativ gering und kann grob mit einer Daumenspitze bemessen werden. Fuerteventura: Insgesamt wurden sechs menschliche Figuren mit betonten Genitalien in der Cueva de los Ídolos (La Oliva) gefunden, die als Veranstal-tungsort für Fruchtbarkeitsriten und Regenzauber interpretiert wird (Cabrera Pérez 1993: 98). Die Nacktheit der abgebildeten Beispiele (17a/b) könnte aber nicht nur einen kultischen Hintergrund haben, sondern mag auch ein Indiz für die Bekleidungssitten sein, wie sie in den schriftlichen Quellen beschrieben werden. Bei der weiblichen Figur ist nur ein Schmuckband um die Taille erkennbar (wie bei einer der Figuren in 17c). Figur 17a ist eine der ganz weni-gen männlichen Figuren, die überhaupt auf den Kanarischen Inseln entdeckt wurden und nicht nur aus einem Kopf bestehen; auffallend ist die Berücksich-tigung der Hoden. Eines der schönsten Stücke unter den altkanarischen Arte-fakten ist ein Steinfries, das bei La Oliva gefunden wurde (Abb. 17c); es zeigt eine Gruppe von nackten Frauen und Männern, die auf mich eher einen pro-fanen, familiären Eindruck machen als einen kultischen. Gran Canaria: Diese Insel weist ein beeindruckendes Inventar von Statuet-ten, Gefäßen, Tonsiegeln und anderen Artefakten auf, die zum Teil sehr deut-lich mit Sexualität und Fruchtbarkeitsriten tun haben. Lezteres kommt in zahlreichen weiblich deutbaren Figurinen zum Ausdruck, die entweder einem ostmediterranen bzw. kleinasiatischen Idolstil zuzurechnen sind (Abb. 40a,c) oder einem eher alteuropäischen Stil (Abb. 41). Die Überbetonung der Be- 48MMALMOGAREN XXVIII/1997 cken, die auch als Schwangerschaft deutbar ist, kann in engen Zusammen-hang mit bäuerlichen Fruchtbarkeitsriten gebracht werden. Die Vorstellung, weibliche Fruchtbarkeit eng mit landwirtschaftlichem Erfolg (d.h. mit dem Aufgehen der Saat) zu assoziieren, ist universell (man sehe in diesem Zusam-menhang auch die Ausführungen zu Figur 40a auf Seite 39). Die Mästung der grancanarischen Jungfrauen noch im 15. Jh., die primär nicht einem Schön-heitsideal entsprang, sondern dem Wunsch nach möglichst gesunder und si-cherer Empfängnis, ist ein spätes Abbild dieser archaischen Glaubenswelt. Aus den Berichten wissen wir sogar, dass die gemästeten Mädchen einige Tage vor der Hochzeit wieder etwas abnehmen mussten. Stilistisch schwer einzuordnen sind einige Statuetten, die nur aus Becken mit betonter Vulva, angedeutetem Oberkörper und Oberschenkeln bestehen (Abb. 38a-c). Die Zugehörigkeit zu einer lokalen Weiterentwicklung des ost-mediterranen Stils wäre denkbar; quasi eine Reduzierung auf die für die Fort-pflanzung wichtigste Körperpartie unter Weglassung von Brust, Schultern, Armen und Kopf. Letzterer ist in vielen Fällen sowieso gesichtslos und mit dem Hals eine Einheit bildend dargestellt worden (wie bei Abb. 38c und 40c). Das relativ spitz und groß ausgewölbte Gesäß der Figur 41 kann als Fett-steiß angesehen werden. Ungeklärt ist die hängende Darstellung des Gesäßes bei einer anderen weiblichen Figur (Abb. 42): Dieser Fortsatz könnte als Stüt-ze für das Einstecken der Figur im Erdboden oder als überdimensionaler Fettsteiß gedeutet werden. Bei einer dritten Figur (Abb. 39c) vermuten Cuenca Sanabría & León Hernández (1983: 103) eine bisexuelle zoomorphe Figur mit Penis und Vulva. Hier könnte der Penis in Wirklichkeit ebenfalls ein herun-terhängendes Gesäß sein (die kleine Öffnung an der Spitze also nicht die Harnröhrenmündung sondern der Anus). Bei diesen drei Fällen handelt es sich vermutlich nicht um echte Steatopygie, sondern um Fettsucht des Gürtel- Typs. Es dürfte schlicht eine übertriebene Darstellung der Mästung der Jung-frauen sein, kurz bevor sie wieder etwas abzunehmen hatten. Eines steht nach der Betrachtung der grancanarischen Statuetten fest: Sie sind keinesfalls alle ein Produkt der letzten 500 Jahre vor Christus, eines Zeit-raumes, in den die kanarische Schularchäologie den Beginn der menschlichen Besiedlung des Archipels legt. Ein größerer Teil dürfte bronzezeitlich oder spätneolithisch sein. Andere, hier nicht gezeigte Varianten, erinnern an Stü-cke des maltesischen Megalithikums. Obwohl der Violinstil vereinzelt in ma-rokkanischen Felsbildern (Abb. 40d) auftaucht, würde ich die grancanarischen Statuetten nicht als typisch alt-berberisch bezeichnen; vielmehr dürften der kanarische und marokkanische Idolstil unabhängig voneinander entstanden sein, auf ostmediterranen Einflüssen basierend. ALMOGAREN XXVIII/1997MM49 Dass Genitalien auch auf grancanarischen Gebrauchsgegenständen des täg-lichen Lebens abgebildet wurden, zeigen die Abb. 39a (Schamdreieck auf ei-nem Holzgefäß, das vermutlich zum Melken von Ziegen oder bei der Käseher-stellung verwendet wurde) und 39b (Hodensäcke und erigierte Penisse als Grif-fe an einer Tonvase). Unter den Tongefäßen (gánigos) gibt es auch Varianten, bei denen die penisartigen Griffe gleichzeitig Ausgüsse sind und die skrotum-artigen Ausbuchtungen in Funktion eines Ösenhenkels durchlöchert wurden. Einen Phallus aus Stein in der Art eines der Stücke von Lanzarote, also so-wohl mit Eichel als auch Hodensack, wurde meines Erachtens auch auf Gran Canaria gefunden (Abb. 19b). Die Interpretation umfasste bislang so verschie-dene Zwecke wie magisches Symbol, Projektil, Teil einer Keule, Wegzeichen (zum Hinlegen) oder Stein zum Erhitzen von Wasser (nachdem er selbst er-hitzt wurde). Gut vergleichbar ist Abb. 15b.51 mit einem Phallus-Symbol aus Marokko.3 3 Wenn man – aufgrund der symmetrischen Form – eine noch größere Abstrahierung durch den Künstler annimmt, dann könnte man auch an eine Darstellung des männlichen und weiblichen Prinzips denken, repräsentiert in der gegenüberliegenden Anordnung von zwei Halbkugeln, für die möglicherweise Skrotum (Hodensack) und Schamhügel (man denke an die extreme Ausformung des Schamhügels in Abb. 38a) Modell standen. Doch dies ist zugegebenermaßen sehr hypothetisch. Auch bei dem in Abb. 20 gezeigten ägyptischen Amulett liegen sich Mann und Frau gegenüber, verbunden durch den Penis als Transportmedium für das Sperma. Ein Zusammenhang von Sperma und Hoden war z.B. den alten Ägyptern bekannt (Strouhal 1974: 12), allerdings nicht als Ort der Produk-tion, sondern nur als Zwischenstation vor der Ejakulation. Der Entstehungsort des Sper-mas wurde in den Knochen gesehen, weil man meinte, ein Kind bekäme die harten Körperteile vom Vater und die weichen von der Mutter. Tenerife, La Gomera, El Hierro, La Palma: Diese Inseln weisen bis jetzt keine Artefakte auf, die unserem Thema direkt entsprechen würden. 6. Ergänzende Betrachtungen und Zusammenfassung Aus textlichen Quellen erfahren wir zum Thema "Sexualität und Scham" am meisten über Gran Canaria und Tenerife, deren soziale Struktur und ethi-sche Ordnung am ausgeprägtesten erscheinen – aber nur, weil sie am detail-liertesten beschrieben werden. Am wenigsten erfahren wir über Fuerteven-tura und die kleinen Westinseln El Hierro, La Gomera und La Palma. Aus archäologischer Sicht, Felsbildforschung einbeziehend, sind Gran Canaria, El Hierro und Lanzarote am ergiebigsten. Die größte Variationsbreite in der Darstellung von Genitalien beiderlei Geschlechts finden wir in den Felsbil-dern von El Hierro, wo dieses Thema – nach jetzigem Wissensstand – auch den größten Anteil an den Paneelen hat (schätzungsweise über 50 %). 50MMALMOGAREN XXVIII/1997 Sexuelle Begriffe, was Körperteile, körperliche Zustände oder Praktiken betrifft, sind in dem uns überlieferten Wortschatz des Altkanarischen nicht enthalten. Nicht berücksichtigt ist hier, dass der semantische Inhalt vieler libysch-berberischer und latino-kanarischer Felsinschriften [1997] noch nicht erforscht ist. Neben Personennamen mag sich auch das eine oder andere Wort aus dem täglichen Leben ergeben. So wie erotische Graffiti eingeritzt wurden, ist vielleicht auch eine sprachliche Anzüglichkeit oder Obszönität dem Fels anvertraut worden. Lediglich ein sehr unsicher altkanarisches Wort über "Lie-be / Liebesverhältnis" ist bekannt: güiro (Wölfel 1995: 410). Zur Bezeichnung für Bastardkinder auf Tenerife sehe man S. 24. Unter den Geschlechtskrankheiten wird nur die Syphilis diskutiert; J. Bosch Millares (1941) meinte zunächst, sie erkennen zu können, dem französischen Anthropologen René Verneau folgend, verwarf dies später aber wieder. An-hand der Knochenfunde ist sie nicht nachweisbar (García García 1993: 98). Über Tänze der kanarischen Eingeborenen mit sexuellem Bezug haben wir nur vage Angaben (siehe S. 23, 26). Eine Szene der menschlichen Figuren in den Felsbildern des Barranco de Balos (Gran Canaria) wird als phallischer Tanz gedeutet (Beltrán Martínez 1971: Paneel III). Für den nur wenige Kilometer entfernten Barranco de Guayadeque erwähnt Siemens Hernández (1977: 24) einen Fruchtbarkeitstanz von "Annäherung und Zurückweisung", genannt el baile del pámpano roto ("Tanz der abgerissenen Weinranke"), der noch bis ins frühe 19. Jh. praktiziert wurde und dessen vorspanischen Ursprung der Autor für möglich hält. Beim Tanzen wurde ein großes Kolokasienblatt ("ñame" = Colocasia esculenta) benützt, woraus ersichtlich wird, dass es nicht zwingend um eine Weinrebe ging, die ja erst mit den Europäern auf den Kanarischen Inseln eingeführt wurde. Auch der auf S. 26 erwähnte "canario" ist so ein Tanz, bei dem sich eine Reihe Männer und eine Reihe Frauen im Wechselspiel von Umwerbung und Ablehnung befinden. Dies gilt ebenfalls für den auf die Ur-einwohner zurückgehenden Tajaraste von Tenerife, für den González González (1992: 151f) ausgesprochen erotische und z.T. antikatholische Liedtexte berich-tet; und auch Texte des sehr alten, inzwischen ausgestorbenen tinerfenischen Tanzes "Búsquese la Vida" ("Man suche das Leben"; Díaz Palmero & Lorenzo Perera 1995: 176) konnten sehr anzüglich sein. Obwohl einige Verhaltensweisen auch unter Berbern zu finden sind, zeich-net sich eine ausschließliche Affinität zu diesem Kulturkreis nicht ab. Oder anders ausgedrückt: Die vorislamischen berberischen Moral- und Sexualvor-stellungen und die damit verbundenen Felsbilder und Artefakte sind genau so unterschiedlich wie die der nahen altkanarischen und altiberischen Kulturen; Beziehungen in diesem Zusammenhang scheint es aber trotzdem zwischen ALMOGAREN XXVIII/1997MM51 allen drei Kulturkreisen gegeben zu haben. Gleichwohl ist bei einzelnen ka-narischen Felsbildern eine Verwandtschaft mit marokkanischen Beispielen sehr wahrscheinlich, was sowohl auf prähispanische Beziehungen als auch auf Berber-Sklaven, die im 15. und 16. Jh. auf die Inseln geholt wurden, zurückgehen kann. Eine absolute Chronologie ist z.Zt. weder aufgrund der Stile und Stilsequenzen noch aufgrund der Patina möglich. Auf den Kanarischen Inseln müssen wir streng zwischen einer vor- und nachchristlichen Zeit unterscheiden. Es zeichnet sich ein Bild ab, wonach vor den ersten Kontakten mit dem Christentum eine den sozialen und ökologi-schen Verhältnissen der Inseln angepasste Polygynie herrschte, auf Gran Ca-naria zeitweise und Lanzarote (wohl auch nicht zu allen Zeiten) Polyandrie. Mehrere Frauen oder Männer zu haben, war kein Zwang und beruhte immer auf gesellschaftlichen Erfordernissen sowie auf den wirtschaftlichen Mög-lichkeiten des Partnernehmenden; das heißt auch, dass Monogamie gesell-schaftlich zulässig und anerkannt war. Bemerkenswert ist der hohe sittliche Respekt vor der altkanarischen Frau, der zur Zeit der Entstehung der Manuskripte im 15. und 16. Jahrhundert schon christlich beeinflusst war und auf einer vorher existenten ethischen Grund-haltung basieren muss, die den moralischen Einfluss des Christentums be-günstigte (nicht jedoch in allen Fällen dessen Missionierung der göttlichen Aspekte). Alles deutet darauf hin, dass dieser Respekt besonders bei unver-heirateten jungen Frauen sehr konsequent und rigoros eingehalten beziehungs-weise durchgesetzt wurde. Besonders die Selbstbestimmung der tinerfe-nischen Frau, die ohne Zweifel auch das Sexuelle einschloss, erinnert an die Handlungsfreiheit der neolithischen "Jungfrau" = "unverheirateten Frau", wie sie Highwater (1992: 56f) beschreibt. Letzterer war es zum Beispiel freige-stellt, über einen vorehelichen Geschlechtsverkehr selbst zu entscheiden – so wie es offenbar die "jungen Frauen" von La Palma konnten (siehe S. 14f). Die oft sehr expliziten sexuellen Anspielungen müssen der Existenz von Mo-ralregeln nicht widersprechen. Die Felsbilder können zum Teil in Verbindung mit Fruchtbarkeitsriten und männlicher Potenzmagie gesehen werden und zum Teil als normale erotische Graffiti, wie sie täglich überall auf der Welt entste-hen. Die Artefakte mit sexuellem oder erotischem Bezug sind ebenfalls Frucht-barkeitsriten zuzuordnen, die in diesen insularen, ohne Hilfe von außen exis-tierenden Gesellschaften eine besondere Bedeutung hatten. Gute Ernten und gesunde Herden sowie das dazu notwendige Klima waren lebensbestimmend – und so hatten auch die entsprechenden Riten ihren festen Platz. Besondere Freude am Sex wird den Ureinwohnern von La Gomera und Fuer-teventura nachgesagt; letztlich dürfte aber die prähispanische Bevölkerung des 52MMALMOGAREN XXVIII/1997 ganzen Archipels so zu charakterisieren sein. Nicht nur die Assoziation von weiblicher und männlicher Sexualität mit der Vermehrung von Herden und mit der Fruchtbarkeit des Ackers, also der rituelle Aspekt, sondern auch der Spaß am Geschlechtsverkehr schlechthin und das ganze Umfeld der Erotik dürften auf allen Inseln eine sehr große Rolle gespielt haben – auch wenn dies Regeln un-terworfen war. Es ist sicher nicht aus der Luft gegriffen, dass Erotik und Sex in der altkanarischen Gesellschaft einen positiven psychosomatischen Gegenpol zum täglichen Überlebenskampf bildeten, der durch Missernten (Mangel an Nie-derschlägen, gelegentlich Heuschreckenschwärme), Krankheiten (z.B. Rheuma, Tuberkulose, vereinzelt Typhus [1494 epidemieartig]) und
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Calificación | |
Colección | Almogaren |
Título y subtítulo | Sexualität und Scham bei den Altkanariern |
Autor principal | Ulbich, Hans-Joachim |
Entidad | Institutum Canarium |
Publicación fuente | Almogaren |
Numeración | Número 28 |
Tipo de documento | Artículo |
Lugar de publicación | Hallein |
Editorial | Institutum Canarium |
Fecha | 1997 |
Páginas | pp. 007-088 |
Materias | Prehistoria ; Islas Canarias |
Copyright | http://biblioteca.ulpgc.es/avisomdc |
Formato digital | |
Tamaño de archivo | 2872434 Bytes |
Texto | ALMOGAREN XXVIII/1997MM3 ALMOGAREN XXVIII/1997 IC INSTITUTUM CANARIUM ICDIGITAL Separata XXVIII-1 4MMALMOGAREN XXVIII/1997 ICDIGITAL Eine PDF-Serie des Institutum Canarium herausgegeben von Hans-Joachim Ulbrich Technische Hinweise für den Leser: Die vorliegende Datei ist die digitale Version eines im Jahrbuch "Almogaren" ge-druckten Aufsatzes. Aus technischen Gründen konnte – nur bei Aufsätzen vor 1990 – der originale Zeilenfall nicht beibehalten werden. Das bedeutet, dass Zeilen-nummern hier nicht unbedingt jenen im Original entsprechen. Nach wie vor un-verändert ist jedoch der Text pro Seite, so dass Zitate von Textstellen in der ge-druckten wie in der digitalen Version identisch sind, d.h. gleiche Seitenzahlen (Pa-ginierung) aufweisen. Der im Aufsatzkopf erwähnte Erscheinungsort kann vom Sitz der Gesellschaft abweichen, wenn die Publikation nicht im Selbstverlag er-schienen ist (z.B. Vereinssitz = Hallein, Verlagsort = Graz wie bei Almogaren III). Die deutsche Rechtschreibung wurde – mit Ausnahme von Literaturzitaten – den aktuellen Regeln angepasst. Englischsprachige Keywords wurden zum Teil nach-träglich ergänzt. PDF-Dokumente des IC lassen sich mit dem kostenlosen Adobe Acrobat Reader (Version 7.0 oder höher) lesen. Für den Inhalt der Aufsätze sind allein die Autoren verantwortlich. Dunkelrot gefärbter Text kennzeichnet spätere Einfügungen und/oder Änderungen der Redaktion oder des Autors. Alle Vervielfältigungs- und Medien-Rechte dieses Beitrags liegen beim Institutum Canarium Hauslabgasse 31/6 A-1050 Wien IC-Separata werden für den privaten bzw. wissenschaftlichen Bereich kostenlos zur Verfügung gestellt. Digitale oder gedruckte Kopien von diesen PDFs herzu-stellen und gegen Gebühr zu verbreiten, ist jedoch strengstens untersagt und be-deutet eine schwerwiegende Verletzung der Urheberrechte. Weitere Informationen und Kontaktmöglichkeiten: institutum-canarium.org almogaren.org Abbildung Titelseite: Original-Umschlag des gedruckten Jahrbuches. Institutum Canarium 1969-2015 für alle seine Logos, Services und Internetinhalte ALMOGAREN XXVIII/1997MM5 Inhaltsverzeichnis (der kompletten Print-Version) Hans-Joachim Ulbrich: Sexualität und Scham bei den Altkanariern .................................................. 7 Werner Pichler: Der Streit um das Alter der kanarischen "Pyramiden". Eine Chronologie der Ereignisse. .........................................................................89 Friedrich Berger: Alte Darstellungen von Mühlebrettern in Deutschland ............................... 97 Carmen Díaz Alayón & Francisco Javier Castillo: Bethencourt Alfonso y los prehispanismos del habla de El Hierro ..........115 Hartwig E. Steiner: Brandopfer-Altäre in El Julán auf El Hierro II. Opferstätten im Umfeld von "Los Letreros". ................................................ 195 Friedrich Berger: Paviane im Fezzan ................................................................................................. 235 Werner Pichler: Neue Aspekte zum Thema "latino-kanarische Inschriften" ...................... 239 6MMALMOGAREN XXVIII/1997 Ulbrich, Hans-Joachim (1997): Sexualität und Scham bei den Altkanariern.- Almogaren XXVIII (Institutum Canarium), Vöcklabruck (Austria), 7-88 (PDF 2015 with an addendum on p. 88a-88c) Zitieren Sie bitte diesen Aufsatz folgendermaßen / Please cite this article as follows: Beachten Sie bitte die Nachträge (2015) ab S. 88a. ALMOGAREN XXVIII/1997MM7 Hans-Joachim Ulbrich Sexualität und Scham bei den Altkanariern Almogaren XXVIII / 1997 Vöcklabruck 1997 7 - 88 Inhalt: 1. Einführung 2. Die Quellenlage 3. Hinweise in der historischen und ethnologischen Literatur 4. Die Manifestation in Felsbildern 5. Die Manifestation in Artefakten 6. Ergänzende Betrachtungen und Zusammenfassung 7. Benützte Literatur Sowie zahlreiche Tabellen und Abbildungen am Schluss des Aufsatzes. 1. Einführung Wenn wir aus der Sicht des modernen, aufgeklärten Menschen des 20. Jahrhunderts alte Kulturen und speziell das Sexualleben dieser Völker be-trachten, so geraten wir schnell in Gefahr, diese Verhaltensweisen als Exotik-um anzusehen, das man nicht ohne eine Portion Voyeurismus und Herablas-sung allzu gerne als schamlos und unzivilisiert bezeichnet. Es ist die ver-meintliche Schamlosigkeit, die unsere Entrüstung und auch unser voreiliges Urteil auslöst. Auch bei der Betrachtung altkanarischen Sexuallebens geht es in nicht geringem Maße um Scham, da viele der zahlreichen Zeugnisse, die uns vorliegen, gerade mit dieser Verhaltenseigenschaft zu tun haben. Sigmund Freud sah das Schamgefühl als Teil einer uns innewohnenden sexuellen Selbstbeschränkung, die läuternd und verfeinernd wirkt und so den Menschen kulturfähig macht. Er stellte sich selbst die Frage, ob dies ein na-türlicher Bestandteil der Triebhaftigkeit sei oder das Ergebnis eines kulturel-len Prozesses. Schließlich gab er seiner Triebtheorie den Vorrang und stufte kulturelle Einflüsse und ihre historischen Veränderungen als weniger rele-vant ein. Ob zum Beispiel auf den vorspanischen Kanarischen Inseln über-haupt ein Klima für große kulturelle Entwicklungen bestand, wird uns noch zu beschäftigen haben. Der Soziologe Norbert Elias (1976) wollte nun diese ahistorische Ausrichtung der Freud'schen Psychoanalyse durch seine soziolo-gisch- historische Analyse erweitern. In seinen Forschungen versuchte er dar- Keywords: Canary Islands, North Africa, Berber, aborigines, religion, social behaviour, sexuality, rock art, archaeology, history, ethnology, research, sources 8MMALMOGAREN XXVIII/1997 zulegen, wie sich aus den gesellschaftlichen Beziehungen und Abhängigkei-ten der Menschen untereinander eine historisch verfolgbare Art und Weise ergibt, wie mit Scham und Nacktheit umgegangen wird. Für diese Interpreta-tion der Beziehungen spreche z.B., dass seit dem Mittelalter eine Verstärkung des Schamgefühls zu verzeichnen sei. Für die breiten Massen verfolgbar ist in unserer Zeit eher ein Rückgang zu verzeichnen: Pornographie, Exhibitionismus und Voyeurismus sind nicht mehr nur Privatsache, sondern haben im kommerziellen Fernsehen weltweit ihren Platz, ebenso im Internet. Viele weitere Anzeichen, wie totales Nacktbaden an normalen Nicht-FKK-Stränden (u.a. in restriktiven Kulturräumen) und die zu-nehmende Tendenz, sich öffentlich in Talkshows und Sexmagazinen über in-timste Sexualthemen zu "outen", verstärken diesen Eindruck. Es knüpft sich die Frage an, in welchem Umfang nicht nur beim Agierenden sondern auch auf Seiten der Medien und des Zuschauers überhaupt noch Scham existiert? Der Einschätzung von Elias ist bereits von dem Kulturanthropologen Hans Peter Duerr (1990, 1994) heftig widersprochen worden. In einer breit angeleg-ten Untersuchung konnte er aufzeigen, dass auch im Mittelalter sehr wohl Schamregeln und Schamschranken existierten. Von einer damals ausgepräg-teren Freizügigkeit könne keine Rede sein. Duerr bezieht hier ausdrücklich die sogenannten "Naturvölker" ein, und weist dabei eine Vergleichbarkeit der Kulturprozesse (Mittelalter→ Gegenwart, Naturvolk→ zivilisiertes Volk) zu-rück. Dies sei – sinngemäß – noch einer überholten Kolonialideologie verhaf-tet, die sich einen Herrschaftsanspruch über die Dritte Welt und ihre "primiti-ven" und "unzivilisierten" Völker zurechtlege, indem sie die moderne westli-che Kultur als nachahmenswertes Vorbild darstelle. Solche Denkweise kann schon bei den ersten Versuchen einer Systemati-sierung der Völkerkunde Mitte des 18. Jhs. festgestellt werden. Hier sind u.a. Adam Smith, Adam Ferguson, Jean Turgot und Denis Diderot zu nennen, die Kulturunterschiede nur aufgrund unterschiedlicher Evolutionsstufen rationa-ler Erkenntnis und nicht aufgrund unterschiedlicher angeborener Fähigkeiten oder individueller Lebensgestaltung mit bestimmten Vorlieben zu erkennen meinten (Harris 1989: 437). Auch diesen Gelehrten ging es also um den unzi-vilisierten Menschen, der sich dank einsichtiger Ratio zum höher zivilisierten Menschen entwickelt; dies betraf natürlich auch die Moral. Die Ausführungen Duerrs zeigen, dass wir bei den Naturvölkern von einer Nacktheit sprechen können, die offenbar auch ohne Kleidung durchaus festen Schamregeln folgt. Dies klingt zunächst paradox, wird aber verständlich, wenn wir bestimmte Blick- und Interaktionskonventionen voraussetzen. Eine sol-che Betrachtungsweise deckt sich mit Erkenntnissen der ethnologischen Feld- ALMOGAREN XXVIII/1997MM9 forschung seit der Jahrhundertwende. Auch heute noch finden wir in soge-nannten "primitiven" Kulturen, dieses schamkontrollierte Schauen in unter-schiedlichster Ausprägung. Ich erwähne dies besonders deshalb, weil wir ei-nige Berichte der ersten Konquistadoren der Kanarischen Inseln gerade unter diesem Gesichtspunkt zu bewerten haben. Wie sieht nun der bisherige Stand der Forschungen aus? Genau so unge-rechtfertigt wie die prähispanische Kultur der Kanarischen Inseln nicht-exi-stent in europäischen und internationalen Standardwerken der Prä- und Proto-historie ist, so taucht auch die Sexualität der Altkanarier in keinem dieser Werke auf. Parrinder (1991) beschreibt z.B. die Sexualität in den afrikani-schen Religionen, erwähnt aber die Kanarischen Inseln mit keinem Wort. In den Augen vieler Wissenschaftler aus dem Bereich Anthropologie und Ar-chäologie scheinen die Kanarischen Inseln nur als Touristenghetto zu existie-ren, das überhaupt keine Vorgeschichte oder Kulturgeschichte hat. Deshalb weitgehend unbemerkt von der internationalen und speziell euro-päischen Früh- und Vorgeschichtswissenschaft hat sich bei der Erforschung der prähispanischen Kultur der Kanarischen Inseln ein Wissensstand entwik-kelt, der die Altkanarier als überaus wichtiges Bindeglied im Reigen der me-diterranen und atlantischen Völker ausweist. Wo im europäisch-mediterranen Raum konnte noch im 15. Jahrhundert eine Gesellschaft mit zum Teil stein-zeitlichen Merkmalen beobachtet werden? Nicht zu Unrecht wird die altka-narische Kultur als eindrucksvolles "Museum" prähistorischer Zeugnisse be-zeichnet, das uns wertvolle Auskünfte geben kann. Neben nach wie vor offenen Fragen bezüglich der Herkunft dieses Inselvol-kes sind es einzelne Bereiche der Kulturanthropologie, die noch einer intensi-ven Untersuchung harren. Dazu zählt auch der Komplex Sexualverhalten/ Schamgefühl, der zwar immer wieder in Arbeiten über die einzelnen Insel-kulturen auftaucht, aber nie synoptisch behandelt wurde. Ansätze hierzu fin-den sich in der Kulturanalyse von Hess (1950), in der Untersuchung der alt-kanarischen Frauenrolle durch Pérez Saavedra (1989a) und bei Tejera Gaspar (1989). Auf der Basis des späten 19. Jhs. beschreibt Bethencourt Alfonso (1985) Geburt, Mutterschaft und Tod im Alltagsleben seiner kanarischen Landsleute; inwieweit sich in diesen Gebräuchen Prähispanisches widerspiegelt, soll bei den Betrachtungen in Kapitel 3 behandelt werden. Aspekte der Heirat und des Ehelebens werden in der vorliegenden Arbeit nur einbezogen, soweit sie für das Verständnis des Sexual- und Schamverhal-tens hilfreich sind; für weitergehende diesbezügliche Informationen – auch über Fragen der Geschlechterrolle, des Matriarchats, der Matrilinearität und der Matrilokalität – sei die Arbeit von F. Pérez Saavedra (1989a) empfohlen. 10MMALMOGAREN XXVIII/1997 Parallel zu den Erkenntnissen der kanarischen Archäologie können wir auch in der Kulturanthropologie des nordwestafrikanischen Archipels mit großer Wahrscheinlichkeit feststellen, dass sich zahlreiche Riten und Verhaltenswei-sen, die bei der europäischen Conquista festgestellt wurden, auf sehr frühe Kulturmuster zurückgehen und teilweise einen sehr archaischen Eindruck hin-terlassen. Dies dürfte u.a. auf die Insularität der altkanarischen Kultur zurück-zuführen sein, die – nach heutigem Wissensstand – zu allen Zeiten nur sehr geringe Rückkontakte zum Festland einschloss. Das heißt, die Besiedlung von iberischen und afrikanischen Küsten aus war weitgehend eine Einbahnstraße. Beziehungen zum Festland, wie wir sie für die Hochzeit der kanarischen Be-siedlung (ca. 300 v.Chr. - 400 n.Chr.) und für einzelne Abschnitte des Mittelal-ters feststellen können, dürften hauptsächlich auf die Initiative von Besuchern, Entdeckern und "Geschäftsleuten" zurückgehen, die über eine weiterentwi-ckelte Seemanns- bzw. Schiffsbaukunst und entsprechenden Unternehmungs-geist verfügten. Für die Moralvorstellungen der Altkanarier bestand demnach ein konservierendes Ambiente, das sich in einzelnen Zeitabschnitten ohne gro-ße Impulse von Außen über Jahrhunderte hinweg aufrecht erhielt, bis spora-disch eintreffende neue Siedler frische Ideen und Gepflogenheiten einbrach-ten. Zu letzteren gehören auch religiöse Einflüsse, vor allem im punischen, rö-mischen und christlichen Bereich, für die wir einige Hinweise besitzen. Wie-weit nun Zusammenhänge zwischen dem religiösen und sexuellen Verhalten feststellbar sind, wird im Detail zu klären sein. Auch Unterschiede zwischen den einzelnen Inseln sind zu erwarten und sollen herausgearbeitet werden. Der Begriff "Altkanarier" gilt im Sprachgebrauch des Institutum Canarium für die Gesamtheit der prähispanischen Bevölkerung der Kanarischen Inseln; im Gegensatz zu "Kanarier", was für die gesamte neuzeitliche Inselbevölke-rung steht, die sich aus Ureinwohner-Nachkommen, Spaniern, Portugiesen, an-deren Europäern und Angehörigen vieler weiterer Ethnien, z.B. Berbern, zu-sammensetzt. Mit "Canario" ist jedoch bei manchen älteren Autoren und auch in diesem Aufsatz nur der Ureinwohner von Gran Canaria gemeint. Als weitere Volksnamen mit vorspanischem Ursprung (jeweils span. Plural) kennen wir Majos/Mahos (Lanzarote), Majoreros (Fuerteventura), Guanches (Tenerife), Bim-baches (El Hierro), Auaritas (La Palma) und Gomeros (La Gomera). 2. Die Quellenlage Ich streife die zur Verfügung stehenden Textquellen nur kurz, da sie bei den Zitaten in Kap. 3 systematisch aufgezählt werden. Angaben zum Sexual-und Schamverhalten finden wir z.B. im "Canarien", einem Bericht der Kaplä-ne der französischen Eroberer Jean de Bethencourt und Gadifer de la Salle, in ALMOGAREN XXVIII/1997MM11 den Berichten der nachfolgenden spanischen Konquistadoren, von denen vor allem Alonso Jaimes de Sotomayor zu nennen ist, und bei den frühen kana-rischen und peninsularen Historikern, deren Angaben zum Teil auf den vor-genannten Quellen beruhen oder auf selbst gesammelten Überlieferungen und Dokumenten. Weitere interessante Quellen sind der Bericht des italieni-schen Ingenieurs und Architekten Leonardo Torriani, der die Kanarischen Inseln Ende des 16. Jhs. im Auftrag des spanischen Königs Felipe II. bereiste, und das Geschichtsbuch des Fray Abreu Galindo; beide verwenden u.a. ein Manuskript des Antonio de Troya, der 1530-1577 auf den Inseln lebte. Wert-voll sind auch Expeditionsberichte des 14. Jhs. (Recco, Mallorkiner, Andalu-sier), Reiseberichte des 15. und 16. Jhs. (Portugiesen, Italiener usw.) sowie Beobachtungen auf bestimmten Inseln, wie die von Fray Espinosa auf Tenerife. Nachrichten über das Sexualleben der Ureinwohner sind in diesen Texten nur in sehr knapper Form enthalten – besonders was Angaben zum Sexual-verkehr selbst betrifft. Eine weitere Quelle für Rückschlüsse bietet uns die Archäologie mit ihren Untersuchungen altkanarischer Artefakte und die Felsbildforschung (Kapitel 4 / 5). So kann aus den vielen verstreuten Infor-mationen und aus zahlreichen Sekundärerkenntnissen ein einigermaßen typi-sierendes, wenn auch in Teilen hypothetisches Bild gezeichnet werden. Damit der Leser eine möglichst genaue Vorstellung von der textlichen Quel-lenlage erhält, wird der Großteil der Zitate im original Wortlaut (in deutscher Übersetzung) wiedergegeben und kommentiert (Kapitel 3). Die zeitliche Nähe des Chronisten zur Eroberung der einzelnen Inseln und damit zur Beendi-gung des rein eingeborenen Lebens (siehe Jahr der Manuskripterstellung bzw. des Erstdrucks) erlaubt gewisse Rückschlüsse auf die Authentizität der Nach-richten. Hier die Jahreszahlen der endgültigen Eroberungen: Lanzarote 1404, Fuerteventura 1405, El Hierro um 1448, La Gomera um 1415 (letzte Rebellion 1489), Gran Canaria 1483, La Palma 1493, Tenerife 1496. Insel Beginn christlicher Missionierung El Hierro um 1305 (ohne nachhaltigen Erfolg; Geschichte des Yone) Fuerteventura 1404 (Taufe der beiden Könige Januar 1405) Gran Canaria 1342 (Mallorkiner ohne nachhaltigen Erfolg) La Gomera um 1305 ? (ohne nachhaltigen Erfolg; Geschichte des Eiunche) Lanzarote 1403 (Taufe des Königs und seiner Familie erst 1404) La Palma 1424 (Episode um Fernando de Castro und Amaluige) Tenerife 1462-65 (Fund der Madonna von Candelaria schon um 1445) Alle Inselbevölkerungen hatten schon vor 1400 Kontakte mit Europäern (Expedi-tionen, Kolonisten, Händler, Piraten, Missionare) und auch Mauren. Eine breite Akzeptanz des Christentums setzte jedoch auf sämtlichen Inseln erst im 15. Jh. ein. 12MMALMOGAREN XXVIII/1997 3. Hinweise in der historischen und ethnologischen Literatur Die Wiedergabe der Textstellen (kursiv) erfolgt in der alphabetischen Rei-henfolge der Autoren-Namen und innerhalb der Autoren nach Inseln geord-net. Vorrang wird dabei Primärquellen gegeben, oder Sekundärquellen, die in bezug auf unser Thema nachweislich auf Primärquellen oder zeitnahen münd-lichen Überlieferungen beruhen. Abreu Galindo, Fray Juan de (Ms. ca. 1602) Dieser König [Zonzamas von Lanzarote] hatte eine Frau, Fayna genannt, die mit Martín Ruíz de Avendaño [einem ca. 1377 gestrandeten Basken] eine Toch-ter hatte, die sie Ico nannten. (1977: 61) Nachdem der baskische Adlige die Gastfreundschaft des Königs genoss und anschließend mit seiner Mannschaft unbehelligt und mit frischem Provi-ant versorgt wieder absegeln durfte, kann mit großer Wahrscheinlichkeit von einem Fall von Gastprostitution ausgegangen werden. Dies wird dadurch un-terstützt, dass Gastprostitution auch von Gomera und Gran Canaria gemeldet wird. Hätte der Baske die Königin – mit ihrem oder gegen ihren Willen – verführt, dann hätte dies sicher ernste Konsequenzen für beide gehabt. [La Gomera] Sie gingen splitternackt. [Einige Zeilen später aber auch:] Sie trugen Lederumhänge ... und der ganze Körper [darunter] nackt. (1977: 74) Beides war offenbar möglich. [El Hierro] Sie heirateten die Frau, die sie wünschten, ohne auf Verwandtschafts-verhältnisse Rücksicht zu nehmen, ausgenommen die Mütter und Schwestern. Und sie zahlten an den Vater oder die Mutter des Mädchens eine gewisse Men-ge Vieh, damit man ihnen die Tochter gebe. (1977: 89) [Gran Canaria] Die Canarios heirateten nicht mehr als eine Frau, und diese eine hatten sie bis zu ihrem Tod; und auch die Frauen hatten nie mehr als einen Mann. Dies widerspricht dem, was Pedro de Luján in seinen Diálogos Matri-moniales [korrekterweise "Coloquios Matrimoniales", Sevilla 1550] erzählt, dass nämlich eine Frau fünf Canarios heirate und nicht weniger. (1977: 153-155) Sowohl Abreu als auch Torriani und Castillo bekräftigen, dass die Nachricht von Luján falsch ist. Die Meinung von Pérez Saavedra (1989a: 81), dass ein Kirchenmann wie Abreu Galindo ein derart unchristliches Verhalten wie Viel-männerei sicher nur sehr widerwillig korrekt behandelt haben dürfte, könnte zutreffen. Denkbar wäre allerdings eine Verwechslung mit den Sitten auf Lanzarote; Luján konnte von den Verhältnissen auf Lanzarote gehört haben, ohne die entsprechenden Nachrichten des "Canarien" zu kennen, der erst 1629 erstmals gedruckt wurde. Für einen zeitweiligen Männerüberschuss auf Gran Canaria (nach Àlvarez Delgado 1981: 47 zwischen 1405 und 1450) spricht jedoch die Tatsache, dass aus Gründen einer Hungersnot, die nur zum Teil mit ALMOGAREN XXVIII/1997MM13 schlechten Ernten zu erklären ist, der Infantizid weiblicher Neugeborener durchgeführt wurde (Abreu 1977: 154-155, 169 und archäologisch erhärtet; laut Diogo Gomes auch auf La Palma bei männlichen Neugeborenen). Als weiteren Grund für die Nahrungsknappheit auf Gran Canaria nennt Gómez Escudero (1993: 440) Überbevölkerung, die auf einen Frauenüberschuss (an-geblich 10 Frauen auf einen Mann) zurückzuführen war. Die von Luján er-wähnte Polyandrie dürfte nur in dieser Zeit nach dem Infantizid (anfangs der Conquista) ausgeübt worden sein, als der Frauenüberschuss in einen Männer-überschuss umsprang. In den letzten Jahren der Conquista hatte die Hungers-not auch soziale Ursachen: Normalerweise für die Feldarbeit eingeteilte Män-ner wurden als Krieger und Wachtposten eingesetzt und begünstigten so das Brachliegen der Äcker – ganz zu schweigen von den vielen Gefallenen. [Gran Canaria] Bei den hochrangigen und adligen Leuten pflegte man die jun-gen Mädchen, sobald sie heiraten wollten, dreißig Tage lang abgesondert zu halten und sie mit Milchgetränken, Gofio und anderen Speisen zu füttern, da-mit sie fetter würden. Das gleiche widerfuhr den übrigen Jungfrauen. In der Nacht bevor sie ihrem Bräutigam zugeführt wurden, gab man sie zuerst dem Guanarteme [Stammeshäuptling], damit er sie entjungfere. Dieser konnte sie auch an einen Priester [der zugleich Vizekönig oder Gebietsgouverneur war] oder anderen Adligen weitergeben, ob sie nun Jungfrau war oder nicht. Magere [Mädchen] wurden nicht geheiratet, weil man sagte, sie hätten einen [zu] klei-nen und engen Bauch, um schwanger zu werden. (1977: 155) Das ius primae noctis (Recht der ersten Nacht) ist in vielen Kulturen aller Zeiten dem Clanchef, dem Priester, dem örtlichen Adelsherrn oder dem regie-renden Oberhaupt vorbehalten gewesen – auch im frühgeschichtlichen Iberien und Nordafrika gab es solche Fälle. Hier spielt die archaische Furcht des Mannes vor dem "unreinen" Blut der gerade Entjungferten oder vor Men-struationsblut und vaginalen Absonderungen eine Rolle; die so mit der Ent-jungferung verbundenen negativen Auswirkungen heil zu überstehen, ver-mochte nur ein mit größeren magischen Kräften Ausgestatteter. Hinzu kam in vielen Fällen die Meinung, dass die Braut gleichzeitig auch positive magische Kräfte von dem sie Entjungfernden übertragen bekam – deshalb wahrschein-lich auch der Gedanke des ehrenvollen Beischlafs durch den Guanarteme bei den grancanarischen Bräuten und Gastgeber-Ehefrauen. Hess (1950: 95) sieht das ius primae noctis auf Gran Canaria als Ausdruck einer Überschichtung einer bereits bestehenden Vorbevölkerung durch eine stärkere Einwanderungs-gruppe – falls die soziale Schichtung nicht schon immanent war. Die Altkanarier (zumindest auf Tenerife und Gran Canaria) scheinen generell eine Abscheu vor Blut gehabt zu haben, denn ihre Viehschlächter waren eine unberührbare Kaste; bei den Berbern ist gelegentlich eine sehr niedrige soziale Stufe der Schlächter zu verzeichnen, aber nicht in der Form rigoroser Ausgrenzung. 14MMALMOGAREN XXVIII/1997 Fälle von sozusagen multipler Entjungferung sind auch bekannt: Bei den nordmarokkanischen Ghomara (nach El Bekri) und bei den libyschen Nasa-monen (nach Herodot) war die Braut sogar für alle Männer unter den Hoch-zeitsgästen freigegeben. Interessant ist die Mästung der zur Heirat vorgesehenen Mädchen, mit der die Canarios offenbar meinten, die Empfängnisfreudigkeit zu steigern. Nach Viera (1982 I: 167) glaubte man, ein kleiner Bauch könne kein robustes Kind empfangen. Es ging also vordergründig nicht um eine problemlose Schwan-gerschaft und ein gesundes Heranwachsen des Fötus, sondern um die irrige Annahme, Fleischansatz zeuge von großer Gesundheit und schaffe günstige Bedingungen für den männlichen Samen (unabhängig z.B. davon, ob ein Mäd-chen gesunde Sexualorgane und ein tatsächlich für die Schwangerschaft gut geeignetes Becken besitzt). Der Fruchtbarkeits- und Sexualbezug des schwan-ger gewölbten Bauches wurde demnach schon in die Zeit vor der Empfängnis transponiert. Archäologische Unterstützung für die ethnologischen Nachrich-ten erhalten wir in zahlreichen grancanarischen Statuetten, die fettleibige weibliche Personen darstellen. Wir haben es mit einem Fruchtbarkeitsritus zu tun, der seine Ursprünge eher im ostmediterranen Bereich hat als im berberi-schen (siehe auch Kap. 4/ 5). Brautmästen ist bei den Berbern des benachbarten Marokko ungebräuch-lich; lediglich bei mauritanischen Stämmen der Sahelzone und bei den südli-chen Tuareg (Iwllemeden) existiert es vereinzelt. Hier liegt vielleicht eine Ausstrahlung schwarzafrikanischer Kulturen vor, bei denen diese Sitte eben-falls anzutreffen ist. Nach L. Bertholon (in Hess 1950: 95) soll es auch auf der tunesischen Insel Djerba Brautmästen gegeben haben. Die 30 Tage dauernde Absonderung der jungfräulichen Bräute auf Gran Ca-naria dürfte nicht nur der Mästung gedient haben, sondern auch der Initiation in die Welt der erwachsenen Frau mit ihren erotischen und gynäkologischen Anforderungen. Bei den schwarzafrikanischen Xhosa wurden die Mädchen sogar mehrere Monate abgesondert und instruiert (Parrinder 1991: 169). [Gran Canaria] Ihre Gesänge waren schmerzvoll, traurig, liebevoll oder unheil-voll ... (1977: 157) Diese Gesänge waren von Wehmut, Melancholie und Katastrophenstim-mung geprägt und wurden von den Spaniern deshalb endechas ("Klagelie-der") genannt; natürlich war auch die Liebe zwischen Mann und Frau ein beliebtes Thema. Die Crónica Ovetense (1993: 112) erwähnt "abwesende oder verstorbene Geliebte", die auf El Hierro besungen wurden. [La Palma] Diese drei Brüder [Gebietshäuptlinge von Tedote-Tenibucar] ... amüsierten sich mit vielen jungen Mädchen, die sich mit ihnen [den Brüdern] verheiraten wollten. ALMOGAREN XXVIII/1997MM15 Dies ist eine der wenigen Nachrichten von La Palma; offenbar war auf dieser Insel der voreheliche Verkehr erlaubt bzw. üblich. Im übrigen waren die palmesischen Frauen sehr emanzipiert, was sich u.a. darin ausdrückte, dass sie neben den männlichen Kämpfern gleichwertige, wenn nicht sogar tapfere-re Kriegerinnen waren, die sich auch nicht scheuten, persönlichen Zwist mit Männern kämpferisch auszutragen. Ihre Körpermaße werden als für Frauen sehr groß angegeben. [Tenerife] Der König heiratete immer eine gleichwertige [Frau aus dem Adel] oder – wenn eine solche fehlte – seine Schwester, um nicht sein Blut zu be-schmutzen. Eine Heirat mit einer niedrigeren oder nicht-adeligen Frau war ihm nicht erlaubt. (1977: 293) ... Sie [die übrigen Inselbewohner] heirateten nur eine Frau, wobei sie nur darauf achteten, dass es nicht Mutter oder Schwester waren. Sie lösten eine Ehe auf, wann sie wollten; Kinder aus solch einer Ehe wurden als illegitim angesehen und konnten nicht erben. ... Es war Sitte, dass ein Mann, der eine Frau auf einem Weg oder einsamen Platz traf, sie nicht ansehen oder ansprechen durfte, wenn sie nicht selbst reden wollte oder etwas wünschte; und man musste sie passieren lassen. Man hatte sogar soviel Respekt, dass es schwere Strafen nachsichziehen konnte, wenn man unehrenhafte Worte zu ihr sagte. ... Wenn die Frauen geboren haben, war es Sitte, die Babys von Kopf bis Fuß zu waschen. Dafür gab es eine bestimmte Frau, die keine andere Aufgabe hatte; diese Frau unehrenhaft zu behandeln oder zu heiraten, war nicht erlaubt. (1977: 294) Die Heirat mit nahen weiblichen Verwandten, wie Nichten, Cousinen oder Tanten, war wohl erlaubt und gängig; dies entspricht auch dem Vorgehen auf El Hierro und Lanzarote. Espinosa und ihm folgend Viera (1982 I: 168) ergän-zen im Fall von Tenerife, dass nicht nur Jungfrauen, sondern auch Witwen und Verstoßene geheiratet wurden. Bruder-Schwester-Ehen in der obersten Herrscherschicht kennen wir auch von den alten Ägyptern, den Inkas und den Hawaiianern. Verbindungen zwi-schen Geschwistern und ihre Legitimierung in der Eliteschicht durch Heirat kamen offenbar weniger mit Vater-Mutter-Ehebruchsregeln in Konflikt als der Mutter-Sohn- oder Vater-Tochter-Inzest (Harris 1989: 169). Arribas y Sánchez, Cipriano de (Erstdruck 1900): Dieser Kompilator scheint – ähnlich wie sein Zeitgenosse Juan Bethencourt Alfonso – Zugang zu sehr alten Dokumenten und Überlieferungen gehabt zu haben; seine archäologischen und ethnologischen Nachrichten tauchen zum Teil bei keinem anderen Autoren auf. [Gran Canaria] Sie bestraften den Ehebruch mit einer Geldstrafe, die der Lieb-haber in [Form von] Ziegen an den beleidigten Ehemann begleichen musste. 16MMALMOGAREN XXVIII/1997 Dies ist weitaus weniger drastisch als die Todesstrafe in solchen Fällen auf Tenerife. [Lanzarote] Die Heiraten waren wie auf Gran Canaria. Bevor sie [die Frauen] sich vermählten, fütterten sie sich mit Milch und gofio [Mehlpaste], damit sie ihrer Ehemänner würdig waren. Sie pflegten die erste Nacht dem König anzu-bieten, so dass der Sohn, den man ihm zuschrieb, adlig war. [1993: 279] Arribas bringt dies als einziger von Lanzarote; eine Verwechslung mit Gran Canaria, die man gerne annehmen möchte, schließt er selbst aus. Barros, João de (Erstdruck 1552): Gran Canaria hatte einen König und einen Heerführer; außer durch diese ward die Insel von 190 Männern regiert, welche aus den vornehmsten Einwohnern gewählt wurden. Diese waren Lehrer und Gesetzgeber des Volkes. Ohne ihre Erlaubnis durfte kein Mädchen verheiratet werden. (1910: 25) Letzteres erinnert nicht nur an Gepflogenheiten in frühgeschichtlichen, patriarchalischen Gesellschaften sondern auch an mittelalterliche und selbst noch neuzeitliche Praktiken in europäischen Adelshäusern. [Gran Canaria] Den Oberleib hüllten sie in Tierhäute, und ihr Unterkleid be-stand in einem Schurze von Palmblättern. ... die Mütter säugten nicht gern selbst ihre Kinder, sondern ließen sie an den Ziegen saugen. (1910: 25; so auch Zurara Kap. 79) Hier bestanden möglicherweise ähnliche Probleme mit dem Milchfluss wie auf Lanzarote: hohe Schwangerschaftsraten durch Gastprostitution und Part-nerwechsel bei Fruchtbarkeitsriten (zeitweise auch Polyandrie). Ein anderer plausibler Grund könnte schlechte Ernährung während der Stillzeit sein – etwa aufgrund einer Hungersnot; schlechte Ernten durch Ausbleiben von Nie-derschlag waren zu allen Zeiten ein Problem für die Altkanarier und auch für die mittelalterliche und neuzeitliche Bevölkerung. Dies würde sowohl die Quantität als auch die Qualität der Muttermilch herabsetzen. Die Bewohner von Tenerife ... waren die streitbarsten. In ihren Sitten [unterei-nander] herrschte zugleich die wenigste Roheit. (1910: 26) Dies ist eine ganz bemerkenswerte Feststellung über ein Volk, das bei Nor-bert Elias unter die Rubrik "zivilisatorisch unentwickelt" gefallen wäre. Benzoni, Girolamo (Erstdruck kanarisches Kapitel 1572): Der Italiener besuchte die Kanarischen Inseln 1541 auf seinem Weg nach Südamerika. Die Nachrichten über die Insulaner selbst sind sehr dünn, wäh-rend die geografische Beschreibung etwas ausführlicher ist. [Gran Canaria] Diese Kanarier sind im allgemeinen Heiden; sie bedecken sich mit Fellen von Ziegen, von denen sie jede Menge haben. ... Sie stellen Palm-wein her, wie es die Äthiopier machen. (Lib. III) Alkohol war bekannt, nicht nur in Form von Palmwein, sondern auch als berauschendes Getränk aus Mocán-Früchten (Visnea mocanera). Die Nach- ALMOGAREN XXVIII/1997MM17 richt von Recco, sie würden Wein nicht kennen, kann sich nur auf Wein aus Weintrauben beziehen. Von Trunkenheit oder Saufgelagen ist nichts überlie-fert, was nicht ausschließt, dass bei bestimmten Festen und Riten alkoholi-sche Getränke konsumiert wurden. Bernáldez, Andrés (Ms. um 1500): [Alle Inseln?] Und was das Heiraten betrifft, so hat jeder seine Frau oder Frau-en; sie können jedoch aus leichtfertigen Gründen die Ehe auflösen; und jeder und jede geht mit wem sie wollen Verbindungen* ein. (1993: 510) [*Das span. Verb comunicar hat hier wohl nicht die Bedeutung von "verbal kommunizieren".] Obwohl sich Bernáldez sehr allgemein ausdrückt, dürften sich seine Anga-ben auf Gran Canaria beziehen. Bevor sie das Christentum annahmen, gingen sie auf allen [Inseln] nackt umher, wie sie geboren waren, er wie sie, außer auf Gran Canaria, wo sie als Zierde eine Art Pluderhosen aus [zerfransten] Palmblättern trugen, die die Schamzonen nicht gut bedeckten, da sie unten nicht geschlossen waren. (1993: 509) [La Palma] Die Leute von dieser Insel gingen nackt umher, außer Ziegenfellen, mit denen sie sich anstatt Tüchern und Leinen bekleideten. (1993: 517) Dies deckt sich mit Zeichnungen von Torriani, der die Bewohner der Nach-barinseln El Hierro und La Gomera nackt unter ihrem Fellumhang darstellt (Abb. 1). Bernáldez präzisiert noch (1993: 509f), dass diese Fellumhänge (ta-marcos), meist nur getrugen wurden, wenn sie vor der Sonne oder vor dem Wind schützen sollten. Dies würde den günstigen Klimaverhältnissen auf den Kanarischen Inseln entsprechen, die eine Kleidung nur erfordern, wenn tat-sächlich die Sonneneinstrahlung zu intensiv und der Wind zu kalt ist. Abb. 1 - Eingeborenes Paar von La Gomera (Zeichnung Leonardo Torriani ca. 1590) 18MMALMOGAREN XXVIII/1997 [Gran Canaria] ... dort haben sie eine Abbildung auf einem Holzstab ... ein-geschnitzt eine nackte Frau mit all ihren Schamteilen äußerlich [sichtbar] und darunter eine Ziege in empfängnisbereiter Haltung und ihr gegenüber ein Zie-genbock, dargestellt als wolle er sie bespringen. (1993: 510) Die Szene ist eindeutig und kann als Allegorie der weiblichen Fruchtbar-keit interpretiert werden. Dass Ziegen dargestellt sind, erklärt sich aus der vornehmlichen Haltung dieser Weidetiere (weniger Schafe, keine Rinder). Die-se Statuette ist wie viele andere altkanarische Artefakte in privaten Kanälen verschwunden. Ziegen sind in allerlei magische Riten der Berber eingebun-den gewesen (Abb. 18b und Joleaud 1933). Eine Anspielung auf zoophile Prak-tiken wie im ostmediterranen Raum, wo sich Frauen beim Widderkult oder auch im profanen Bereich von Ziegenböcken bespringen ließen, möchte ich hier nicht annehmen, da keinerlei andere Hinweise solcher Art existieren. Bernáldez gibt uns noch eine Information über die Folgen des jus prima noctis auf Gran Canaria, die sonst bei keinem anderen Autoren zu finden ist; war die Braut nämlich von einem Adeligen besessen worden, musste abge-wartet werden, ob sie schwanger wurde, denn im Gegensatz zu den gewöhn-lichen Kindern, die sie im Anschluss von ihrem Ehemann bekommen würde, war ein Kind aufgrund einer Entjungferung durch den Häuptling oder ein anderes Mitglied der Adelskaste ebenfalls adelig: [Gran Canaria] Und um zu sehen, ob sie [nach der Nacht mit dem Häuptling] schwanger geworden war, durfte sich der Ehemann ihr nicht nähern, bis man sich auf dem Weg der Menstruation[sbeobachtung] sicher war. (1993: 516) Die Beziehungen zwischen Menstruation und Schwangerschaft waren dem-nach bekannt. Bethencourt Alfonso, Juan (posthum 1985) Der kanarische Ethnologe (1847-1913) gibt als einziger (neben Lanzarote) auch für das vorspanische Fuerteventura Männerüberschuss und Polyandrie an (1985: 49). ... im restlichen Archipel ... verfügten die Priester und der Adel über das Privi-leg, Konkubinen zu halten, neben der legitimen Ehefrau. (1985: 49) Bethencourt Alfonso bezeichnet damit die praktizierte Polygynie als Kon-struktion aus Haupt- und Nebenfrauen. Dort, wo noch im 19. Jh. endemische kanarische Pflanzen zur Empfängnis-verhütung oder Abtreibung verwendet wurden, können wir zumindest teil-weise eine bis in Zeiten der Ureinwohner zurückreichende Tradition anneh-men. Ein Beispiel dafür ist möglicherweise: [Lanzarote 19. Jh.] Um den Abort herbeizuführen, wurde eine Pflanze verwen-det, die man in den Bergen von Haría findet und die unter dem [eingeborenen] Namen Tanjosé [Thymus origanoides] bekannt ist. (1985: 51) ALMOGAREN XXVIII/1997MM19 Ein weiterer Endemismus ist Artemisia thuscula (altkanarisch mol), dessen Verwendung als Tee ebenfalls abortiv sein soll (1985: 51). Die gleiche Pflanze wurde auf El Hierro sórame genannt; Frauen legten vor dem Anziehen kleine Zweige davon in die Schuhe und erhofften sich ebenfalls eine abtreibende Wirkung (1985: 52). An die ritualisierten Waschungen im Meer und an die Mästung der einge-borenen Jungfrauen auf Gran Canaria erinnert folgende Methode der Ehe-frauen, fruchtbar zu werden: [Tenerife 19. Jh.] Man bedecke die Hüfte mit einem gut zusammengepressten Umschlag; man achte darauf, nicht zu arbeiten, nicht zu gehen, sich nicht gera-deheraus hinzusetzen sondern nur seitlich, sich gut zu ernähren, sich des Ehe-verkehrs zu enthalten, die Scheide [im Text "Gebärmutter"] zu waschen und auf nüchternen Magen zwei Esslöffel Bienenhonig zu nehmen, gemischt mit Ziegenmilchbutter. (1985: 52) Vielleicht ist dies eine Abwandlung der grancanarischen Sitten, denn Ein-geborene von dieser Insel kämpften auf Seiten der Spanier bei der Eroberung von Tenerife. An prähispanischen Naturgeisterglauben erinnert folgendes: [Tenerife 19. Jh.] Es ist allgemein bekannt, dass die Fischer [der Gemeinde Arona] derart sagen, wenn sich der Sommer nähert und das Meer sich unruhig zeigt: "Jetzt ahnt das Meer, dass sich die Frauen zu ihm herunter begeben" [weil sie besonders in der Badesaison oft zum Strand kommen und das als weibliches Wesen angesehene Meer eine kurz bevorstehende oder schon ein-getretene Menstruation spürt]. (1985: 55) [Tenerife 19. Jh.] Um einen Sohn zu zeugen richte man den Kopfteil des Bettes auf das Meer aus. ... Um ein Mädchen zu zeugen richte man den Kopfteil des Bettes auf die Berge [des Inselinneren, oder] ... vollziehe den Koitus außerhalb der Gezeiten. (1985: 56) Ungeklärt beim sogenannten Zorrocloco ist die Herkunft des Wortes und der Sitte: Früher und auf Fuerteventura und Lanzarote noch bis in das begin-nende 19. Jh. hinein pflegten sich kanarische Ehemänner wie die frischen Mütter in das Wochenbett zu legen und mit kräftigenden Speisen verpflegen zu lassen (1985: 128). Dieses archaische Verhalten der Väter ist in vielen Kul-turen aller Kontinente zu beobachten; u.a. auch bei gewissen Iberern. Boutier, Pierre & Leverrier, Jean (Ms. ca. 1405): Nach Álvarez Delgado (1977: 60-63) enthält der Bericht der beiden Kaplä-ne auch Informationen aus einem anonymen andalusischen Leitfaden für See-leute ("Rotero Andaluz de 1404"); so z.B. die hier zitierten Angaben. [Gran Canaria] Sie gehen [fast] ganz nackt, außer einer Art Pluderhose aus Palmblättern, und der größte Teil von ihnen trägt ganz unterschiedliche Zei-chen auf der Haut, jeder nach seinem Gusto. ... Ihre Frauen sind sehr schön, bekleidet mit Fellen, um ihre Schamzonen zu bedecken. (1980: 66) 20MMALMOGAREN XXVIII/1997 Dass es sich bei der Körperbemalung nicht um die bei Berbern praktizierte Tätowierung handelt, bestätigt Ca da Mosto, der ebenfalls klar von Bemalung spricht. Arribas y Sánchez (1993: 34) bezeichnet es jedoch als Bemalung und Tätowierung; Motive sollen jene Muster gewesen sein, die man auch bei den pintaderas (Tonstempel) verwendete. Denkbar wäre es, dass man sich diese geometrischen Motive auf die Haut stempelte – aber nicht unbedingt eintäto-wierte. Vielleicht meint Arribas y Sánchez auch "wie tätowiert aussehend"? [Fuerteventura] Die Leute gehen ganz nackt, vor allem die Männer, die nur ein Fell um die Schulter tragen, wo es verknotet ist. Die Frauen tragen das gleiche Fell, in der gleichen Art, sowie zwei Felle mehr, eines vorne und eines hinten. ... Auf dieser Insel ernähren sie die Kinder [Säuglinge] mit der Brust. (1980: 68) "Nackt" bedeutete hier, dass sie unter diesen Fellen nackt waren. Bei den Männern wurde offenbar der Unterleib und damit auch die Genitalien wie auf Lanzarote nicht bedeckt, während bei den Frauen ein Blick auf ihre Scham-zonen, etwa bei Wind oder bestimmten Bewegungen oder Körperstellungen, nur oberflächlich verhindert wurde. Doch dies muss nicht bedeuten, dass man einen solchen Blick in Kauf nahm oder sogar herausforderte; vielmehr könnte es sein, dass solch ein Blick gar nicht zu erwarten war. [Lanzarote] Die Männer gingen nackt, außer einem Umhang hinten bis zu den Kniekehlen. Und sie zeigten sich nicht verschämt wegen ihrer Glieder [Penis-se]. ... Die Frauen waren sehr schön und gingen dezent gekleidet umher mit großen Fell-Tuniken, die bis zum Boden reichten. (1980: 70) Den lanzarotischen Männern kam es offenbar mehr darauf an, die Schul-ter- und Rückenpartien vor Sonnenbrand zu schützen, als das Geschlecht zu verbergen. Da auf Lanzarote ein Männerüberschuss herrschte, wäre es sogar denkbar, dass die Manneskraft bewusst zur Schau getragen wurde, um Frau-en anzuziehen; dies bekommt insofern archäologische Unterstützung, als vier Phallus-Objekte, die auf Lanzarote gefunden wurden, möglicherweise eine besondere Betonung des Phallischen im täglichen Leben andeuten. Doch auch der Penis dürfte bei den Maho-Frauen kein Objekt des ungenierten Drauf-starrens gewesen sein. Die dezentere Kleidung, die Abreu und Torriani schil-dern, stammte aus späterer Zeit; dies gilt auch für Fuerteventura. [Lanzarote] Der größte Teil von ihnen hat drei Ehemänner, die monatsweise Dienst haben; und der, der sie [die Ehefrau] danach haben wird, dient beiden den ganzen Monat ... sie machen es immer so, jeder wenn er an der Reihe ist. Die Frauen gebären viele Kinder ... (1980: 70) [siehe Abb. 21] Die hohe Bedeutung der Frau zeigt sich auch im weiblichen Oberhaupt der lanzarotischen Königsfamilie, das vermutlich auch die spirituelle Überbrin-gerin der Herrscherwürde war, wie die Episode der Königstochter Ico (wie-dergegeben bei Abreu 1977: 62) andeutet. Hier treten matrilineare Züge zuta-ge, die durch demografische Gegebenheiten verstärkt sein mochten. Álvarez ALMOGAREN XXVIII/1997MM21 Delgado (1981: 62) sieht den Grund für den Männerüberschuss in den Raub-zügen von Piraten, die Ende des 14. Jhs. vorrangig weibliche Sklaven nach dem maurisch-afrikanischen und andalusischen Festland verschleppt hätten. Dies würde jedoch nur einen maximalen Zeitraum von 10-12 Jahren vor dem Eintreffen 1402 von Gadifer de la Salle und Jean de Bethencourt auf Lanzarote bedeuten. Ob sich ein so relevantes gesellschaftspolitisches Verhaltensmuster in so kurzer Zeit entwickeln kann und dabei einen breiten moralischen und familienorganisatorischen Konsens mit detaillierten Regeln findet, wage ich anzuzweifeln. Dass althergebrachte Regeln keinesfalls schnell und leichtfer-tig aufgegeben wurden, zeigt das Fortleben der eingeborenen lanzarotischen Sozialstruktur parallel zu jener der europäischen Einwanderer bis etwa 1500. Was könnte dann für diese Entwicklung bereits zu einem früheren Zeitpunkt ausschlaggebend gewesen sein? Die Schilderungen weisen möglicherweise auf Inzuchtprobleme in einer abgeschlossenen, endogamen Inselgesellschaft, da die Frauen bei aller Gebär-freudigkeit offenbar wenig weiblichen Kindern das Leben schenkten. Ein dominantes Chromosom konnte die Mädchengeburten herabgesetzt haben und führte so zu einer demografisch bedingten Polyandrie. Die normalerweise stattfindende Auffrischung des Blutes durch Gastprostitution konnte in einer kleinen Gesellschaft von nicht mehr als tausend Menschen ausgeblieben sein bzw. zur Verstärkung dieser mädchenreduzierten Situation beigetragen ha-ben. Unsicherheitsfaktor für diese genetische Theorie ist das Fehlen von demo-grafischen Informationen wie Kindersterblichkeit pro Geschlecht und Zahl der Generationen, die bereits in diesem Zustand lebten. Für den von Cabrera Pérez (1989: 99-100) auf Lanzarote angenommenen weiblichen Infantizid als Grund für den Männerüberschuss gibt es keine Hinweise. Der Männerüber-schuss scheint sich sogar in spanischer Zeit fortgesetzt zu haben, wie Be-thencourt Alfonso (1985: 49) berichtet. Diese Polyandrie hatte wiederum andere Folgen: [Lanzarote] Die Frauen hatten keine Milch in ihren Brüsten ... und ernährten ihre Kinder über den Mund [von Mund zu Mund], wodurch die Unterlippe größer als die Oberlippe war, was eine sehr abstoßende Sache ist. (1980: 70) Álvarez Delgado (1981) sieht diese Nachricht als unglaubwürdig an und verweist auf die altkanarische Sitte, Kleinkinder neben der Muttermilch mit guamames (Happen aus Mehl, Schafs- oder Ziegenbutter und Wasser) zu er-nähren. Auch die Meldung von Fuerteventura, wo man die Brust geben würde, wäre sonst ein zu starker Kontrast zu der Nachbarinsel Lanzarote. Dem kann ich nur entgegenhalten, dass Boutier & Leverrier dies bewusst als Gegensatz gemeint haben konnten: auf Lanzarote so – ohne Brust – und dagegen auf Fuerteventura so – mit Brust. Wahrscheinlich herrschte ein Teufelskreis, denn 22MMALMOGAREN XXVIII/1997 die berichtete Gebärfreudigkeit und Milcharmut kann mit einer minimalen Amenorrhöe zusammenhängen und mit der häufigen Befruchtung durch den monatlich wechselnden Ehegatten. Nicht zuletzt spricht auch die auf Lanzarote gepflegte Gastprostitution für eine hohe Empfängnisrate. Das heißt, die lanzarotische Maho-Frau dürfte in einem Zustand der Dauerschwangerschaft gewesen sein, der nur durch kurze Phasen der Mutterschaft unterbrochen wurde, so dass der Milchfluss erheblich herabgesetzt war. Polyandrie ist weltweit nur selten zu beobachten, auf dem afrikanischen Kontinent z.B. bei manchen nigerianischen Stämmen. Eine Quasi-Polyandrie wurde bei den arabischen Frauen der vorislamischen Dschahiliya-Zeit prakti-ziert: Eine Frau konnte ganz offen mehrere Liebhaber gleichzeitig haben; wurde daraus ein Kind geboren, konnte sie unabhängig von der tatsächlichen Vaterschaft einen ihr genehmen Vater aus dem Kreis der Liebhaber bestim-men, der dann dem Kind seinen Namen gab (Heller & Mosbahi 1994: 26). Ca da Mosto, Alvise da (Ms. 1455-57): Der Italiener besuchte die Kanarischen Inseln selbst, jedoch nicht alle, so dass seine ethnologischen Kenntnisse von Gran Canaria und Tenerife von Bewohnern der schon eroberten Westinseln stammen mögen. [Gran Canaria] ... dass keiner daselbst ein Weib nimmt, die Jungfrau ist, so sie nicht zuvor eine Nacht bei dem Fürsten geschlafen ... und das halten sie für große Ehre. [Gran Canaria] ... Ihre Weiber sind nicht gemein [nicht für alle verfügbar], aber ein jeglicher mag nehmen soviele er will. Ob Mitte des 15. Jhs. noch Vielweiberei auf Gran Canaria herrschte, ist fraglich; vielmehr könnten die sehr liberalen Scheidungssitten gemeint sein. Dies erinnert an manche Berbergruppen, bei denen eine hohe Scheidungsrate und zahlreiche aufeinanderfolgende Heiraten quasi auf eine "Vielehe in der Zeit" hinauslaufen, wie sich Neumann (1983: 144) ausdrückt. Wir kennen ähnliche Situationen aus dem vorislamischen Arabien, wo es verschiedene Formen eheähnlicher Partnerschaften gab, die ohne großes Zeremoniell sehr locker eingegangen und gelöst werden konnten (Heller & Mosbahi 1994: 27). [Tenerife] ... und [die Krieger/Männer] gehen allzeit bloß und nackt. Die strengere Kleiderordnung bei Fray Espinosa stammt frühestens aus der Zeit kurz vor der Conquista (1496) und könnte schon unter dem Einfluss des Christentums gestanden haben, mit dem Tenerife ab ca. 1462 in engeren Kontakt kam. [Alle Inseln, möglicherweise aber nur Hierro und Gomera, die Ca da Mosto persönlich besuchte] ... und lassen sich an ihrem Leibe bemalen, die Männer und Frauen, mit dem Saft der grünen, roten und gelben Kräuter. ... und achten es in der gleichen Weise, wie wir es mit unseren schönen Kleidern tun. ALMOGAREN XXVIII/1997MM23 Cairasco de Figueroa, Bartolomé (Erstdruck 1602-1615): Der gebildete Grancanario geht bei seiner Beschreibung der Heiligen und Kirchenfeste natürlich auch auf die Kanarischen Inseln ein und erwähnt kurz die Eingeborenen. [Gran Canaria] Die Frauen waren von großer Grazie, etwas dunkelhäutig, schön und warmherzig; [mit] ehrlichen Augen, dunkel und mandelförmig. Ihre Klei-dung bestand aus Fellen und Geflechten aus Palmblättern, kunstvoll gearbeitet. (Abschnitt "La Fama de Canaria" t. 1) Die kanarischen Ureinwohnerinnen werden bei den Berichterstattern in den meisten Fällen als schön bezeichnet. Als Ehefrauen waren sie deshalb sehr beliebt bei den europäischen Siedlern (so u.a. Frutuoso 1964: 95, 96, 108), was zu einer schnellen ethnischen Verschmelzung führte. Das Verschwin-den der eingeborenen Bevölkerung ist nicht nur auf ihre Vernichtung während der Conquista und ihre Verschleppung als Sklaven zurückzuführen, sondern auch auf dieses Aufgehen in allen – sogar adligen – Schichten der Eroberer und Kolonisten. Casas, Fray Bartolomé de las (Ms. ca. 1559): Der Geistliche bestätigt die Angaben der anderen Beobachter über die ka-narischen Ureinwohner und ergänzt: [La Gomera] Sie verbringen ihre ganze Zeit damit zu singen und zu tanzen und die Frauen zu benutzen, und dies sehen sie als ihr Glück an. (1989: 231) Castillo y Ruiz de Vergara, Pedro Agustín del (Ms. 1686-1737): Castillo ist wie Viera ein später Kompilierer, bringt aber die eine oder andere unabhängige Nachricht. [Gran Canaria] Luxán ist schlecht informiert, wenn er sagt, dass die Kanarier-innen sich mit fünf Männern verheirateten. Ehebruch war unter ihnen ein Ver-gehen, das sie mit dem Leben bezahlten. (1950: 173) Espinosa beschreibt ebenfalls die Abscheu vor dem Ehebruch, erwähnt aber nicht die Todesstrafe. Castillo (1950: 517-531) und vor ihm schon Espinosa (1980: 47-83) schil-dern ausführlich den Beginn des Marienkultes auf Tenerife (1440-1450, nach manchen Quellen schon ab 1388), der bei den Guanchen auf fruchtbaren Bo-den fiel und bereits vor der Conquista ein günstiges Klima für den christli-chen Glauben schaffte. Díaz Tanco de Frexenal, Vasco (Erstdruck ca. 1520): Die ethnologischen Angaben dieses Autors und Dichters sind bezüglich unseres Themas sehr spärlich und etwas poetisch verbrämt. 24MMALMOGAREN XXVIII/1997 [Gran Canaria] ... und wenn sie heiraten, tragen sie als Kleidung Tamarcos aus Fellen oder hübsche Roben [vermutlich Umhänge aus Binsen]. (1934: 23) Meint der Autor nur wenn sie heiraten bzw. danach? Dies erinnert an die Information von Recco, wonach die eingeborenen Frauen auf Gran Canaria erst ab der Heirat Kleidung tragen. Crónica Ovetense (basiert auf einem Urmanuskript von ca. 1500-1510, das Alonso Jaimes de Sotomayor zugeschrieben wird): [Gran Canaria] Auch unterhielten diese Guanartemes [Gebietskönige] [internat-artige] Häuser [und Höhlen], in denen Jungfrauen, die Maguadas genannt wur-den, abgeschirmt lebten. ... Diese waren sehr beliebt bei den Häuptlingen und wurden von den Adligen bedient; und es war Sitte, dass wenn sich eine verhei-raten wollte, der Häuptling sie zuerst genießen durfte, oder auf seine Anord-nung hin einer der Adligen; und nachdem er mit ihr geschlafen hatte, wurde sie dem Bräutigam zugeführt. Von da ab betrachteten sie diesen Adligen als ihren Paten. Die Ehen dauerten, solange sich beide einig waren; und sie trennten sich, wenn einer von beiden den Wunsch hatte. ... Alle gingen unbekleidet, nur die Scham war von einem Binsengewebe bedeckt. (1993: 162) Möglicherweise war die Zahl der Schülerinnen festgelegt, denn sobald eine durch Heirat ausschied, konnte eine andere nachrücken; diese Möglichkeit des Nachrückens und der Aufnahme in die Initiationsgemeinschaft war für den sozialen Status und die Heiratschancen der jungen Mädchen sehr wichtig. Espinosa, Fray Alonso de (Erstdruck 1594): [Tenerife] ... Diese Art von Kleidung, Tamarco genannt, war allgemein unter den Männern und Frauen; außer dass die Frauen, aus Gründen der Schamhaf-tigkeit, unter dem Tamarco ein Ziegenlederwams bis zu den Füßen trugen, ... denn es war unehrenhaft Busen und Füße zu zeigen. Dies allein war die Tracht sowohl der adligen wie niederen [Frauen – nach der Berührung mit dem Chri-stentum]. (1980: 37) Ihre Art zu heiraten war folgende: Wenn irgendeine Frau einem Mann gefiel, sei sie Jungfrau, Witwe oder Verstoßene eines anderen [Mannes], fragte er ihre Eltern (so sie welche hatte), und wenn sie einverstanden waren, waren beide ohne Zeremonie verheiratet, mit beiderseitigem Einverständnis. Und so hielten sie [die Männer] sich die Frauen, die sie wünschten und ernähren konnten. Und so leicht die Heirat war, so leicht war die Scheidung; denn, war ein Mann unzufrieden mit einer Frau, oder umgekehrt, schickte er sie aus dem Haus und sie konnte sich ohne Strafe mit einem anderen verheiraten und er mit einer anderen, so oft sie Lust hatten. Und die Kinder aus solch einer aufgelösten Ehe waren illegitim und der Sohn wurde deshalb Achicuca und die Tochter Cucaha genannt. Bezüglich der Zeugung [der Berücksichtigung von Verwandtschaft bei der Partnerwahl] hatten sie nicht mehr Respekt als vor Müttern und Schwestern (außer die Könige), denn Tanten, Nichten, Cousinen und Schwägerinnen scher- ALMOGAREN XXVIII/1997MM25 ten sie alle über einen Kamm, ohne irgendeinen Unterschied zu machen: Ob-wohl sie dieser schlechten Sitte verfallen waren, verabscheuten sie die schänd-liche Sünde [des Ehebruchs] aufs höchste. (1980: 40) Die Angaben von Espinosa können als sehr zuverlässig gelten, da er Tene-rife bereits aus der Zeit vor der endgültigen Eroberung persönlich kannte. Die erwähnte Freiheit in der Wahl der Frauen ist als Polygynie zu verstehen, wie es bei Zurara deutlich wird. Polygynie war jedoch kein gesellschaftliches Muss sondern ein Dürfen, je nach persönlicher wirtschaftlicher Situation des Ehemannes. Der hohen Achtung der Frau tat dies keinen Abbruch. Frutuoso, Gaspar (Ms. ca. 1590): [La Palma] Die Frauen sind sehr hübsch, hellhäutig, zurückhaltend, höflich und wohlerzogen. ... Sie [die Männer] sind nicht eifrig; sie kümmern sich um nichts außer der Frau, den Töchtern und Schwestern. (1964: 108f) Die fehlende Sonnenbräune würde eine entsprechend komplette Beklei-dung voraussetzen. Die Zurückhaltung und die Körperbedeckung der einge-borenen Frauen von La Palma dürfte schon stark christlich beeinflusst sein, denn bei Abreu haben wir ja von einer gewissen Freizügigkeit der jungen Mädchen gelesen. Die Männer waren zwar sehr sportlich, scheinen aber für den Haushalt nicht viel geleistet zu haben; die Frauen der Großfamilie stan-den aber offenbar unter ihrem besonderen Schutz. Gomes de Sintra, Diogo (Ms. 1463): [Gran Canaria] Und wenn ein beliebiger Fremder kommt, um bei irgendwem Gast zu sein, gibt der Hausherr seine Frau dem Gast, damit er mit ihr schlafe. Und wenn der Gast nicht mit ihr schlafen wollte, wurde er als Todfeind angese-hen. (1845: 35) Interessant ist, dass Gomes diese Sitte nicht nur auf den König anwendet (wie Sedeño), sondern auf jeden Gast. Die Zurückweisung der Gattin muss eine schwere Beleidigung gewesen sein. Die Glaubwürdigkeit des Portugie-sen Diogo Gomes kann als hoch eingeschätzt werden, da er Gran Canaria 1450 persönlich besucht hatte, also lange vor der endgültigen Eroberung durch die Spanier 1483. [Gran Canaria] Und wenn ein Mann seine Frau einige Zeit verstoßen wollte, und [dann] wieder zu ihr zurückkehren wollte, machte er es ihr angenehm, in dem er ihr 10 Ziegen gab. Gómez Escudero, Pedro (Ms. um 1500): Auf Gran Canaria unterhielten die Häuptlinge besondere Häuser für Fest-lichkeiten und Zeitvertreib, wo sich Männer und Frauen versammelten, um zu tanzen, zu singen und zu essen (Crónica Lacunense 1993: 224, Gómez Escudero 1993: 435). 26MMALMOGAREN XXVIII/1997 [Gran Canaria] Nach dem Tanzen und Essen gingen sie zum Meer, um zu schwimmen, die Frauen mehr noch als die Männer, und zusammen hatten sie viel Spaß; und von da zog sich jeder einzelne zu seiner Wohnung zurück. Hier scheint es ich um ein institutionalisiertes, mit Kultischem verbunde-nen Stammesfest zu handeln (wie das beñesmer-Erntedankfest auf Tenerife), bei dem die sonst restriktiven Badesitten aufgehoben waren und ein orgiasti-sches Finale Tradition war (so auch Pérez Saavedra 1989a: 89). Ein Tanz der Eingeborenen, der "canario", fand sogar Eingang in das europäische höfische Leben (Siemens Hernández 1977: 23). In bezug auf das Meeresbad der Harimaguadas ergänzt Escudero: [Gran Canaria] Es gab dafür einen bestimmten Tag, und ob ein Mann dies wusste oder nicht, erhielt er die Todesstrafe, wenn er sie ansah, traf oder an-sprach. (1993: 435) Verschiedenen Quellen können wir entnehmen, dass dieses Bad ritualisiert war und bestimmte Waschungen umfasste. Dies erinnert an die Waschvor-schriften im Hammam der islamischen Frau, die besonders auch den Genital-bereich betreffen. Auch bei den schwarzafrikanischen Xhosa-Jungfrauen, die in Meeresnähe lebten, gab es rituelle Waschungen (Parrinder 1991: 169). Wie ernst die sexuelle Unschuld und Unantastbarkeit der Harimaguadas und der Schutz ihrer Riten genommen wurden, zeigen nicht nur die drasti-schen Strafen für Männer, die dies verletzten, sondern auch das Gemetzel, dass die Eingeborenen Gran Canarias 1393 unter mallorkinischen Kolonisten und Mönchen anrichteten. Während letztere versuchten, sie durch Verkün-dung des Evangeliums von ihrem alten Glauben und wahren Recht abzubrin-gen, scheuten sich (nach Marín de Cubas 1986: 257) einige der katalanischen Siedler nicht, adlige Jungfrauen einer Schule bei Agaete zu belästigen und in einem Fall sogar zu entführen (zu den verschiedenen Varianten in der Schil-derung des Gemetzels siehe Ulbrich 1990: 114-117). Hemmerlin, Felix (Ms. ca. 1444): Der Informant des Schweizer Geistlichen Hemmerlin (oder Haemmerlein) hatte offenbar Kontakt zu katalanischen bzw. aragonesischen Kirchenkreisen, von denen er Nachricht über eine mallorkinische Expedition erhalten hatte, die 1343 zu den Kanarischen Inseln unternommen worden war (zu weiteren Details siehe Ulbrich 1990: 89-92). Als sie sich ihr nähern [der Insel Gran Canaria], erkannten sie Menschen bei-derlei Geschlechts, eingehüllt in rohe Tierhäute. ... Auch trafen sich Männer und Frauen an jedem [beliebigen] öffentlichen Ort und vereinigten sich in na-türlichem Beischlaf und die Frauen waren Allgemeingut ohne dass sie einem bestimmten Mann angehört hätten. Dies ist die drastischste Schilderung des eingeborenen Sexuallebens auf ALMOGAREN XXVIII/1997MM27 Gran Canaria und zugleich die einzigste, die außerehelichen Beischlaf in die-ser Form beschreibt. Kein anderer Chronist erwähnt auch nur annähernd sol-che Beobachtungen. Anknüpfend an meine Ausführungen in Ulbrich (1990: 91) möchte ich hier einige verschiedene Möglichkeiten zur Bewertung dieser Nachricht anbieten: • Die Nachricht ist in der Informationskette von den Seeleuten bis zu den heimatlichen Kirchenkreisen aufgebauscht und verfälscht worden; ein wie immer geartetes heidnisches Verhalten dürfte vor allem bei mittelalterli-chen Geistlichen zu Abscheu, Vorurteilen und Übertreibungen geführt ha-ben. Eindeutig ist die Formulierung in dem lateinischen Text bezüglich des Ortes ("in omni loco publico"), der eigentlich keinen Zweifel an der Unge-niertheit lässt. Doch auch dies könnte eine Übertreibung sein, die dadurch zustande kommen konnte, dass man eine künftige Eroberung der Inseln und die Konvertierung ihrer ach so heidnischen Bewohner zum Christen-tum rechtfertigen wollte. • Die Nachricht stimmt und betrifft die von Torriani erwähnte Zeit vor den ersten christlichen Kontakten, in der angeblich auf Tenerife ähnlich freizü-gige Verhältnisse geherrscht haben. Harris (1989: 151) weist auf die generel-le Eigenart von Dorfbewohnern und Horden hin, Geschlechtsverkehr häu-fig auch außerhalb der Schlafunterkunft im Wald oder Gebüsch auszuüben (was nicht heißen muss, dass man dabei eine Beobachtung zu fürchten hatte). • Die Vorgänge sind missverständlich beschrieben und betreffen eine Art von Prostituierten, die neben rechtmäßigen Ehefrauen existierten. Dies könnte die Formulierung "ohne dass sie einem bestimmten Mann angehört hätten" nahelegen. Bis in jüngste Zeit zogen z.B. die Mädchen der berberi-schen Uled Nail als Prostituierte herum (Wölfel 1961: 203). Im vorisla-mischen Arabien zogen Prostituierte mit Zelten umher, die durch eine rote Fahne als Bordell gekennzeichnet waren (Heller & Mosbahi 1994: 27). Und die Tempelprostitution war im antiken Nordafrika ebenso verbreitet wie im restlichen Mittelmeerraum. Auch von den Marquesas-Inseln im Pazifik werden umherziehende Prostituierte beschrieben (Duerr 1994: 197). • Die Nachricht ist etwas verzerrt wiedergegeben und betrifft die oben bei Gómez Escudero beschriebenen orgiastischen Feste, die vermutlich nur an bestimmten Tagen im Rahmen von Fruchtbarkeitsriten stattfanden, welche bei den stark ichthyophagen Canarios fast zwangsläufig mit dem Meer zu tun hatten. Solche bestimmten Tage der Promiskuität gab es auch bei den nordafrikanischen Völkern: In der Nacht des Untergangs der Plejaden herrschte z.B. bei einem Libyerstamm (nach Nicolaus Damascenus, um 600) und bei einem marokkanischen Berberstamm (nach Leo Africanus, 28MMALMOGAREN XXVIII/1997 16. Jh.) wahlloser außerehelicher Geschlechtsverkehr. Verbreitet bei ver-schiedenen Berbergruppen war auch die "Nacht der Verwirrung" (bianu / bennayo), bei der sich immer mehrere Frauen und Männer im Rahmen eines Fruchtbarkeitsritus sexuell vereinigten. Für letzteres gibt es auch in Südmarokko Beispiele. Beim Höhepunkt des Neujahrsfestes an den Küsten Ghanas ist außerehelicher Verkehr, der früher sogar teilweise öffentlich stattfand, in großem Umfang üblich (Parrinder 1991: 177). Ich sehe die zuletzt aufgezeigte Interpretationsvariante, dass ein nicht all-täglicher kultischer Vorgang von den mallorkinischen Beobachtern verallge-meinert und missverstanden wurde, als die wahrscheinlichste an – so wie der rituelle oder prostitutive Charakter öffentlicher Koitus-Szenen bei manchen Südseevölkern als allgemeinübliche Sitte missverstanden wurde (Duerr 1994: 192f). Der Katholizismus des 14. Jhs. kannte nur drei Gründe für Geschlechts-verkehr: Zeugung von Kindern, Erfüllung eines Ehevertrages und die Ver-meidung, ein sündiges Verlangen außerhalb der Ehe zu befriedigen (Flandrin 1984: 148). Was wie pure, ungezügelte Lust mit beliebigen Partnern und gera-dezu misogam aussah, musste demnach größte Empörung auslösen. López de Gomara, Francisco (Erstdruck 1552): [Alle Inseln] Sie gehen nackt, oder höchstens mit einem Ziegenleder auf jeder Seite, [und sind] langhaarig. ... Sie heiraten viele Frauen, und die Herren und Kapitäne zerstören die Jungfrauen als Ehre oder aus Tyrannei. (1979: 319) Der Autor scheint hier mehrere Inseln durcheinander zu bringen. Die sexu-elle Willkür der adligen Schicht unter den weiblichen Untertanen wird bei keinem anderen Chronisten angesprochen, kann aber bei einzelnen Inseln (vielleicht La Gomera) nicht ausgeschlossen werden. Ein Passus bei Hem-merlin könnte so interpretiert werden, dass die Gomeros eine sehr große Wild-heit besaßen, was selbst von ihren eingeborenen Nachbarn so gesehen wurde. López de Ulloa, Francisco (Ms. 1646): López de Ulloa (1993: 314), der u.a. das Manuskript von Jaimes de Sotoma-yor verwendete, ergänzt, dass die Maguadas von Gran Canaria beim Baden im Meer sogar von (adligen) Wächtern begleitet wurden und dass normale Män-ner sie weder sprechen noch sehen durften. Einem Mädchen, dem von einem Adligen anlässlich ihrer Hochzeit die Jungfernschaft genommen worden war, durfte sich dieser Adlige nachher ohne schwere Strafe nicht mehr nähern. Bei der Kleidung erwähnt López de Ulloa (1993: 315), dass einzig die Häupt-linge Gran Canarias – im Gegensatz zum Volk (einschließlich der Adligen) – von Kopf bis Fuß in Gewänder aus Palmfasern gehüllt waren; dies entspricht den Beobachtungen von Recco. ALMOGAREN XXVIII/1997MM29 Marín de Cubas, Tomas Arias (Ms. 1694): [Gran Canaria] Die befleckte Jungfrau verliert zusammen mit dem Verführer das Leben; sie wird in einen Steinhaufen eingemauert bis sie stirbt. ... Die Ehebrecherin wird lebendig ins Meer geworfen oder lebendig begraben. (1986: 263; siehe auch Núñez und Sedeño) Dies sind keine christlich beeinflussten Strafen, sondern viel rigorosere vorchristliche oder nicht-christliche. Sehr strenge Sitten bezüglich sexueller Moral und Unantastbarkeit der Jungfrau herrschten bei den berberischen Kabylen, wo die uneheliche Schwangerschaft eine äußerst gravierende Schan-de war; konnte nicht abgetrieben werden und wurde der Skandal öffentlich, dann verlor – zumindest früher – die Tochter das Leben, meist von der Hand des Bruders oder Vaters. Große Sittenstrenge herrscht auch bei den algeri-schen Mozabiten. Beide Fälle sind Beispiele für einen sehr orthodoxen Islam, was für Berber nicht unbedingt typisch ist. Im Gegensatz gibt es bei den Tuaregs das ahal-Fest, bei dem unverheiratete, verwitwete und geschiedene Frauen sehr wohl freizügigen Sexualverkehr haben können. Sollte auch hier islamischer Glaube bei den Canarios durchschimmern (siehe auch S. 32)? [Tenerife] Die Männer schliefen getrennt von den Frauen. ... Wenn ein Kind geboren war, wurde der ganze Körper mit Wasser gewaschen, Mädchen durch Frauen, Jungen durch Männer; und sie [diese externen Männer und Frauen] traten damit in eine neue Verwandtschaft mit den Eltern ein. (1986: 279) Nebrija, Elio Antonio de (Ms. 1509-1513) Der königlich-spanische Chronist hat seine Kenntnisse über die Kanari-schen Inseln vermutlich durch Aufenthalte in Sevilla, wo Seefahrer und im Sklavenhandel Tätige die entsprechenden Informationen liefern konnten: [Alle Inseln] ... Was die Ernährung und die Kleidung betrifft, so haben sie große Mäßigung bei Speisen und Getränken, und völlige Nacktheit all ihrer Gliedma-ßen, und zwar so, dass sie mit Leichtigkeit alle Sachen griffbereit haben, die die Zerbrechlichkeit des Menschen benötigt, um sich vor den Unbillen der Natur zu schützen. [2. Dekade, 2. Buch, 1. Kapitel] Núñez de la Peña, Juan (Erstdruck 1676) Dieser Autor aus La Laguna (Tenerife) weist die Harimaguadas auch Tene-rife zu, wo sie offenbar unter starkem christlichen Einfluss die Bedeutung von Novizinnen und Nonnen angenommen hatten. In bezug auf die Pseudo- Verwandtschaft, die sie durch die Taufe von Neugeborenen erlangten, bringt er eine weitere Information: [Tenerife] ... dadurch erlangten sie Verwandtschaft mit dem Vater des neugebo-renen Kindes, wodurch sie sich nicht mit diesem verheiraten konnten [wenn er sich scheiden ließ oder Witwer wurde]. (1676: 27) 30MMALMOGAREN XXVIII/1997 Núñez hat hier wohl aus Espinosa (1980: 35) geschöpft, der dieses spezielle Heiratsverbot für die Taufenden zuerst berichtete. [Tenerife] Die jungfräuliche Frau die beschädigt [perforiert] und in Wollust verfallen war, bekam lebenslanges Gefängnis; wenn der Beleidiger [Verführer] sie jedoch heiratete, bekam sie ihre Freiheit zurück. Den Ehebrecher begruben sie lebendig. (1676: 28) Nach Arribas y Sánchez wurden Ehebrecher bei den Guanchen lebendig verbrannt (1993: 154); auf jeden Fall war es eine Todesstrafe. Man sehe Marín de Cubas zum Schicksal der Ehebrecherin auf Gran Canaria. Recco, Niccoloso da (Ms. 1341): [Fuerteventura] Männer und Frauen liefen nackt umher, rauh in ihrer Religion und ihren Sitten. [Gran Canaria] ... sahen wir eine große Menge Volk an den Strand kommen, Männer und Frauen fast nackt. Einige, die höherrangig erschienen, trugen gelb und rot bemalte Ziegen-Felle ... 25 Bewaffnete gingen an Land, die untersuch-ten, wer in den Häusern sei; in einigen entdeckten sie rund 30 nackte Männer, die angesichts der Bewaffneten eingeschüchtert waren und auf der Stelle flüch-teten. ... Sie entdeckten auch ein Bethaus, einen ihrer Tempel, in dessen Inne-rem weder ein Bild noch ein Schmuck war, außer einer aus Stein geformten Statue, die einen Mann mit einer Kugel in der Hand darstellte, nackt, die Scham in Landesart mit Palmwedeln bedeckt. ... Die vier gefangen genommenen Män-ner ... gingen nackt umher, sie trugen jedoch eine Art Lendenschurz, der mit einer Schnur an der Hüfte befestigt war, hergestellt aus Palmblättern oder Bin-sen, ... der ihre Scham voll bedeckte, in einer Art, dass weder der Wind noch ein anderer Zufall ihn anheben konnte. Letzteres widerspricht etwas der Beschreibung bei Andrés Bernáldez; die Beobachtung von Recco, der im Gegensatz zu Bernáldez Augenzeuge ist, dürfte authentischer sein und weist darauf hin, dass auch bei den Männern Scham existierte. [Gran Canaria] Ihre Frauen verheiraten sich, und [erst] wenn sie geheiratet haben, gebrauchen sie den Lendenschurz wie die Männer; während die Jung-frauen komplett nackt umherlaufen, ohne deshalb irgendeine Scham zu zeigen. Torriani berichtet im Gegensatz, dass die grancanarischen Frauen eine Art Lederkleid trugen, das den ganzen Körper vom Hals bis zu den Füßen be-deckte; ich halte dies jedoch für eine späte Nachricht (über 100 Jahre nach der Eroberung Gran Canarias), die möglicherweise nur auf einer Beobachtung im Winter basiert und/oder schon aus christlich beeinflusster Zeit stammt. Die Beschreibung der Jungfrauen mag durchaus den tatsächlichen Sitten entsprochen haben; aufgrund der Beschreibungen bei anderen Chronisten, die den rigorosen sittlichen Schutz der Jungfrauen auf Gran Canaria hervor- ALMOGAREN XXVIII/1997MM31 heben, möchte ich gerade hier schamkontrolliertes Schauen in hohem Maße vermuten. Ich führe dies darauf zurück, dass bei den Ehefrauen und Harima-guadas allein das Beobachten von ferne ihrer nackten Körper beim Baden schon strafbar war; ein Zustand also, in dem die Frauen eine unbeabsichtigte Zurschaustellung ihres Genitals nicht verhindern konnten. Die Frage ist, wie-weit bereits bei der Kindererziehung schambesetztes Schauen eine Rolle spiel-te. So wissen wir von den Kwoma im nördlichen Neuguinea, dass schon den kleinen Buben streng verboten war, den völlig nackt umherlaufenden Frauen auf den Genitalbereich zu starren (Duerr 1994: 140). Begegneten die Frauen auf einem Urwaldpfad einem Mann, so mussten sie sich wortlos abwenden, damit die Vulva nicht den Blicken preisgegeben war. Letzteres erinnert an die Verhaltensrolle des tinerfenischen Mannes, der sich ebenfalls wortlos an der Frau vorbeidrücken musste; ja, es scheint sogar verschiedene Pfade für Män-ner und Frauen auf Tenerife gegeben zu haben. Ob die katalanischen, spanischen und anderen europäischen Beobachter wirklich genau registriert haben, ob die nackt umherwandelnden kanarischen Mädchen und Frauen schamvoll waren oder nicht, wage ich zu bezweifeln. Das flüchtige Aburteilen wird zum Beispiel an den Beschreibungen der Klei-dung deutlich, die je nach Autor etwas mehr oder weniger genau ausfallen; die Spannweite der Einstufungen reicht von primitiv bis elegant, kunstvoll und handfertig. Die Sitte der Frauen, erst bei der Heirat oder spätestens nach der Geburt des ersten Kindes die Scham zu bedecken, begegnet uns auch bei dem ostafri-kanischen Stamm der Nuer. Befanden sich die völlig nackt laufenden heirats-fähigen Mädchen dieses Stammes auch im Zustand der Bräutigamsschau, so war es den jungen Burschen doch untersagt auf die Scham zu schauen und auch die Mädchen bewegten sich so, dass die Vulva nicht exhibitionistisch präsentiert wurde, u.a. durch Zusammenpressen der Oberschenkel (Duerr 1994: 140). Ich frage mich dann allerdings, warum die Jungfrau einerseits attraktieren möchte, andererseits aber streng darauf achtet, dass das, womit sie wirbt, nicht gesehen wird. Ist es das uralte Katz- und Mausspiel der Koket-terie? Ein noch so winziger Lendenschurz hätte allen Beteiligten das Leben sehr viel leichter gemacht – wie etwa die mit zunehmendem Alter der Mäd-chen wachsende Zahl der vorgebundenen Schamstreifen bei den schwarz-afrikanischen Lango. Die aufgeworfene Frage lässt sich mit einigen Aussagen von Duerr (1994: 257) vielleicht so beantworten: Die (Jung-)Frau geht mit der Aussendung ihrer Reize sparsam um und verwendet sie gezielt bei einem genehmen Partner; damit reduziert sie auch die sexuelle Rivalität unter ihren männlichen Stammesgenossen, was Konflikte vermeiden hilft; die Partner- 32MMALMOGAREN XXVIII/1997 beziehung kann fester werden, was die Kinderpflege und die Sozialisierung des Nachwuchses vereinfacht; und schließlich kann sich der Mann sicherer sein, dass das Kind von ihm stammt. Auch der generelle Wunsch des Men-schen, sein gesellschaftliches Auftreten in eine öffentliche und eine private Sphäre zu trennen, dürfte eine Rolle spielen. Sedeño, Antonio (Ms. um 1495): [Gran Canaria] ... es gab [bestimmte] Personen für alles, ... wie Kinder unter-richten, wobei die Lehrer für Mädchen Frauen und für Jungen Männer waren. (1993: 373) [Gran Canaria] Die Canarios durften sich ein Leben lang nur mit einer beliebi-gen Frau verheiraten. Sie waren sehr eifersüchtig und unterdrückten sie [die Frauen] sehr; ohne Erlaubnis des Ehemannes durften sie nicht ins Meer baden gehen und zwar an einem abgetrennten Ort, wohin kein Mann bei Todesstrafe gehen durfte. (1993: 377) Dass es nur für Frauen reservierte Strandabschnitte gab, beschreibt auch Sosa (1994: 307); nach Castillo (1950: 173) mussten auch immer Frauen aus der Familie oder aus der gleichen Kaste dabei sein. Tatsächlich gibt es heute noch einen grancanarischen Ortsnamen, der auf solch spezielle Badestrände hinweist: die "Costa de Bañaderos" bei Arucas. Bei den westafrikanischen Mandingos war die Strafandrohung etwas weni-ger hart: Versuchte früher ein Mann, einen Blick auf die Genitalien einer badenden Frau zu ergattern, so musste er damit rechnen, als Sklave verkauft zu werden (Duerr 1994: 419). Die Eifersucht und moralische Strenge der grancanarischen Männer ge-genüber ihren Frauen, besonders beim Meeresbad, weckt Assoziationen mit der islamischen Welt und der rigorosen Abgeschlossenheit des Hammam (Badehauses) der Frauen. Tatsächlich hatten die Kanarischen Inseln im 9.-12. Jh. immer wieder vereinzelten Kontakt mit maurischen Expeditionen. Für die Zeit um 1200 ist sogar der Besuch des islamischen Mystikers und Predigers Abu Yahya al Sa'ih überliefert (al-Tādilī [13. Jh.], Rabat 1958/1985; auch Ulbrich 1990: 62-71). Sollte er auf die Canarios eingewirkt haben? Für islami-schen Einfluss auf die Altkanarier gibt es ansonsten wenig Hinweise. [Gran Canaria] Wenn der Guanarteme [König] ... sein Haus verließ, war die Ehre, ihn beherbergen zu dürfen, so groß, dass der Hausherr dies damit vergolt, dass er seine Frau oder eine seiner jungfräulichen Töchter anbot. Und wurde sie schwanger und gebar Kinder, welche auch immer, wurden sie als [adlige] Ba-starde des Königs angesehen, und sie [die Mutter] blieb ehrenhaft. (1993: 377) Aus der Zeit der Conquista wird von dem guanarteme Tenesor Semidan "El Bueno" aus Gáldar, dem späteren Don Fernando Guanarteme d.Ä., berichtet, ALMOGAREN XXVIII/1997MM33 der 42 oder nach Arribas y Sánchez (1993: 237) sogar 115 uneheliche Kinder hatte; legitim war einzig nur eine seiner Töchter. [Gran Canaria] Sie [die Könige] durften sich [neben nicht-verwandten Frauen auch] mit der Cousine und der Witwe des Bruders verheiraten; die Adligen und anderen [Untertanen] mit Cousinen zweiten und dritten Grades. (1993: 377) In den Ergänzungen zum Sedeño-Text (1993: 378f) lesen wir über Tenerife, dass nur für einen Witwer oder eine Witwe eine zweite Heirat möglich war (dies im Gegensatz zur vorchristlichen Zeit). Eine entehrte Jungfrau erhielt die Todesstrafe, oder wenigstens – wenn für die Entjungferte kein noch so gewöhnlicher Ehemann gefunden werden konnte – Dauerarrest. Die in der 2. Hälfte des 15. Jhs. schon stark christlich beeinflussten Harimaguadas von Tenerife, die sich anders als auf Gran Canaria mehr zu Ordensschwestern entwickelt hatten, durften ohne Heiratsversprechen das Kloster nicht verlas-sen, was im Einzelfall eine lebenlange Zurückgezogenheit bedeuten konnte. Sosa, Fray José de (Ms. 1678) Sosa gibt uns Informationen über die Altersstruktur der Harimaguadas: ["Gran Canaria" - richtigerweise in diesem Fall aber Tenerife] Diese Jungfrau-en waren eine Art Nonne ... seit dem zarten Mädchenalter. ... [Sie lebten in] Klausur ab dem achten bis zwölften Lebensjahr, denn der König erlaubte nicht ein späteres [Eintritts-]Alter, damit man sie bis zum 25. oder 30. Lebensjahr im Kloster behalte. (1994: 285) Damit liegt auch das früheste Heiratsalter der tinerfenischen Harimaguadas fest, das zwischen 25 und 30 lag. Für ihre Unterrichtung und Führung gab es eine erfahrene ältere "matrona", also eine Art Äbtissin (Sosa 1994: 295). Marín de Cubas (1986: 257) begrenzt den Klosteraufenthalt auf das 14. bis 30. Jahr; Castillo (1950: 171) auf das 8. ("poco más o menos") bis 20. Jahr. Neben diesen Quasi-Nonnen muss es auf Tenerife aber auch Männer gege-ben haben, die in einer Art Ordensgemeinschaft lebten, wie Castillo berichtet (man denke an die Missionierung des Fray Alfonso de Bolaños ab ca. 1462). Torriani, Leonardo (Ms. 1590) [Lanzarote] Sie heirateten so viele Frauen, als sie wollten, und schlossen nur die Schwestern aus. (1940/1979: 79) Die von Torriani berichtete Polygynie auf Lanzarote ist bei Boutier & Le-verrier eine Polyandrie; die Beobachtung von letzteren fand über 180 Jahre früher statt als die Niederschrift von Torrianis Informationen, und dürfte authentischer sein. Entweder hat sich Torriani geirrt oder seine Angaben be-treffen – was ich eher glaube – die Nachbarinsel Fuerteventura. Die Existenz von "Geliebten" auf Fuerteventura geht aus einem kurzen Hinweis bei Bestrafungspraktiken hervor (1940/1979: 95). Und: 34MMALMOGAREN XXVIII/1997 [Fuerteventura] Sie waren den Weibern sehr zugetan. (1940/1979: 93) Die von Torriani für Fuerteventura gemeldete Promiskuität sagt nichts über eventuell damit verbundene Regeln aus. Da Promiskuität eine Angele-genheit beider Partner ist und die eingeborenen Frauen auf Fuerteventura hohes soziales Ansehen hatten – auch in moralischer Hinsicht – möchte ich gewisse Regularien annehmen. Die hohe Achtung der grancanarischen Frau, deren Beleidigung sogar zu einem Krieg führen konnte, wie Torriani (1940/1979: 107) berichtet, lässt uns bei den Beschreibungen von Hemmerlin doch sehr vorsichtig in unserer Be-urteilung sein. Sogar bei Stammeskriegen (meist aus Streit über Viehraub und Weiderechte), bei denen andere Dörfer geplündert wurden, verschonte man Frauen, Söhne und Bethäuser der Feinde (1940/1979: 121). Der von Norbert Elias propagierte Zivilisationsprozess hat es bis heute nicht geschafft, solch eine Verhaltensweise herbeizuführen, wie wir jüngst erst im bosnisch-serbi-schen Bürgerkrieg erfahren mussten. [Gran Canaria] Der Kanarier verband sich nur mit einer einzigen Frau; nicht aber nahm eine Kanarierin fünf Gatten, wie Diego de Lujan, ein spanischer Schriftsteller, schreibt ... (1940/1979: 121) [Siehe dazu S. 12f] Ein Phallus-Symbol waren möglicherweise jene dicken Baumstämme, die auf den Berggipfeln von Gran Canaria aufgestellt wurden (1940/1979: 121). [El Hierro] Sie verheirateten sich mit so vielen Frauen, als sie wollten, die Mutter ausgenommen. (1940/1979: 189) [Geschwisterehe war also möglich.] Torriani (1940/1979: 197) berichtet weiterhin von einer Begebenheit auf El Hierro, die darauf schließen lässt, dass die Bimbaches trotz Polygynie keine Vergewaltigung und Hurerei duldeten: [El Hierro] Dieser Kapitän [Lázaro Vizcaino, der von Maciot de Bethencourt eingesetzte Gouverneur] verfiel aber durch das Gift Amors in Nachlässigkeit und begann, da ihm die Weiber schön und einfältig erschienen, mit zügelloser Gier jene zu vergewaltigen, die ihm am besten gefielen. Dies war der Grund, dass die Inselbewohner sich ein zweites Mal erhoben ... [Tenerife] Man glaubt, vor dieser Zeit [der ersten christlichen Kontakte] habe es unter den Inselbewohnern keinerlei Religion gegeben, und sie hätten ge-meinsam die Frauen gebraucht, ausgenommen die Mutter ... (1940/1979: 167) Diese Angaben müssen nicht den Schilderungen der strengen Sitten auf Tenerife widersprechen, da sie offenbar eine frühere Zeit betreffen. Anderer-seits darf man als heutiger Betrachter nicht den Fehler begehen, aufgrund des zunehmenden Alters einer Kultur auf ein um so "heidnischeres" Verhalten schließen zu können. Eine bestimmte Richtung der Völkerkunde, die eine Entwicklung des Menschen hin zum Besseren postulierte, ging fälschlicher-weise von einer Art Urpromiskuität unserer frühesten Vorfahren aus, die an- ALMOGAREN XXVIII/1997MM35 geblich weder durch anhaltende sexuelle Beziehungen noch durch eine Inzest-scheu geprägt war (Dunde 1992: 193). Was auf Tenerife von den mittelalterli-chen, vorschnell urteilenden Beobachtern als schändliche Hurerei angesehen wurde, könnte in Wirklichkeit eine streng geregelte Polygamie gewesen sein, die zudem freiwillig war oder nur zeitweise bei bestimmten sozialen Verhält-nissen angewendet wurde – quasi als bevölkerungspolitisches Regulans. Schließlich könnte es sich auch um orgiastische Riten anlässlich der auf Tenerife bekannten Erntedankfeste gehandelt haben. [Tenerife] Sie durften außerhalb der Häuser bei Todesstrafe mit keiner Frau sprechen, und wenn sie heiraten wollten, wurde ihnen die Frau, die sie begehr-ten, zugestanden, aber ohne Mitgift. Wenn der Mann dann ihrer überdrüssig war, konnte er sie nach Hause zu ihrem Vater schicken und behielt die Söhne, die aber durch die Scheidung von Vater und Mutter zu Bastarden wurden. Man sagt, dass sie ihre Verwandten heiraten durften, ausgenommen Mutter und Schwestern. (1940/1979: 167) Dies deckt sich mit Schilderungen von Abreu Galindo. [La Gomera] Ihre Kleidung bestand in der Bedeckung der unanständigsten Körperteile und in der Umwicklung des Kopfes mit einer Binde aus roter Farbe, die sie aus den Wurzeln eines Tajinaste genannten Baumes [Echium-Art von max. Busch-Größe] gewannen, der auch die Schminke für die Frauen lieferte. Zuweilen verhüllten sie sich auch in einen Tamarco [Umhang] nach Art des von Canaria oder Tenerife, der aus drei Fellen hergestellt war. (1940/1979: 181) Viera y Clavijo, José de (Erstdruck 1772-83): Das für unsere Zwecke sehr späte Geschichtswerk von Viera basiert in vielen Details auf älteren Autoren und Quellen, so dass es sinnvoll erscheint, ihn nur dort zu zitieren, wo er Abweichungen oder Präzisierungen bringt, die er mit Hilfe eigener Nachrichtensammlungen wiedergibt. [El Hierro] Auf der Insel El Hierro war keine andere Bedingung erforderlich, um eine Heirat einzugehen, als eine Braut liebzugewinnen und die Eltern mit ein paar Stück Vieh zu beschenken. ... Die Herreños kannten auch keine ande-ren Arten von Verwandtschaft, als Mutter und Schwestern; und ihre Führer können auch dieses [Ehe-]Hindernis noch aufheben, wie es die Könige in Per-sien und einige Ptolemäer in Ägypten tun konnten. Die von Abreu erwähnte Sitte auf Tenerife, Neugeborene rituell am ganzen Körper zu waschen, stellt Viera (1982 I: 168) nur als ein Benetzen des Kopfes dar; also eine Art Taufe, die er nicht – wie Torriani (1940/1979: 167) – auf eine frühe Christianisierung Tenerifes durch Sankt Brandan und andere Missiona-re zurückführt, sondern als uralte Eingeborenenpraxis bezeichnet. Núñez (1676: 27) sieht die Ursprünge dieser Taufe ebenfalls als vorchristlich, vermu-tet aber wie Espinosa (1980: 35) eine Verfeinerung (z.B. die damit verbundene Namensgebung) durch den Besuch christlicher Missionare vor den Spaniern. 36MMALMOGAREN XXVIII/1997 Auch in den Beifügungen zu dem Manuskript von Sedeño (1993: 378) lesen wir vom Benetzen des Kopfes eines Neugeborenen. In dem Sedeño-Text ist es die Zuständigkeit der tinerfenischen harimaguadas (maguadas bei anderen Chronisten), die damit sogar eine Quasiverwandtschaft mit den Eltern erlang-ten. Letzteres beschreiben Espinosa, Torriani und Núñez de la Peña ebenfalls für Tenerife. Gómez Escudero (1993: 438) betont ausdrücklich, dass diese Sitte auf Gran Canaria und Tenerife üblich war. Und Marín de Cubas (1986: 279) schreibt unmissverständlich, dass "es [auf Tenerife] Frauen gab, die in Gemeinschaft lebten, in einer Klausur wie die Harimaguadas von Gran Canaria". Die Konfusion über die verschiedenen Harimaguadas auf Tenerife und Gran Canaria soll Thema eines späteren Aufsatzes sein. Zurara, Gomes Eanes de (Ms. 1448): [Tenerife] Sie haben [heiraten] viele Frauen. (Kap. 81) Der Portugiese bingt zuverlässige Nachrichten, so dass seine Angabe über Polygamie die ähnlich lautende von Torriani unterstützt. Sie betrifft eine Zeit vor der Conquista bzw. vor der Christianisierung. [La Gomera] Sie gehen total nackt und haben wenig Scham dabei. Über Kleider spotteten sie sogar, da sie nur Säcke seien, in die die Menschen sich selbst hineinstecken. ... Die Frauen sind Allgemeingut. ... Eine der ersten Pflichten der Gastfreundschaft dieses Volkes ist es, ihre Frau dem Gast anzubieten; ihre Zurückweisung wurde als Beleidigung angesehen. (Kap. 80) Über angeblich mangelnde Scham wird Zurara genau so voreingenommen geurteilt haben wie andere Zeitgenossen. Die Kleidung, die Abreu und Torriani schildern, dürfte aus späterer Zeit stammen. Die Gastprostitution entspricht den Sitten auf Gran Canaria und Lanzarote. Die Vielweiberei auf Gomera wird auch von der ersten spanischen Inselherrin, Beatriz de Bobadilla, in einem amtlichen Dokument bestätigt (Aznar Vallejo 1981: 68): "... sie leben nackt und haben acht bis zehn Frauen". [La Gomera: Die Gastprostitution hatte zur Folge] ... dass die Kinder nicht vor den Neffen erben. (Kap. 80) Die mutterrechtliche Erbfolge über Schwesternsöhne (Neffen des Verstor-benen) auf Gomera entspricht Sitten, wie sie zum Teil bei Altlibyern und Kelten zu beobachten sind (Wölfel 1951). Bei den Libyern der Antike scheint Polygynie nur unter den Fürsten ge-herrscht zu haben. Die Berber Nordafrikas haben die im Islam erlaubte Poly-gynie weitgehend nicht übernommen. Laoust (1921: 52) berichtet jedoch von Šil -Hirten im Süden Marokkos, die bei einer bestimmten Haushaltsgröße oder bei Unfruchtbarkeit der ersten Frau (tam art) manchmal eine Zweitfrau (takna) genommen haben. Für altlibysche Promiskuität bringt Herodot Bei- ALMOGAREN XXVIII/1997MM37 spiele: Bei den ehelosen Machlyern und Auseern der Kleinen Syrte, ebenso bei den Gindanen und Nasamonen. 4. Die Manifestation in Felsbildern Sexuelle und erotische Bezüge in der prähispanischen Felsbildkunst des kanarischen Archipels sind von Insel zu Insel sehr unterschiedlich. Während auf El Hierro und Gran Canaria ein relativ hoher Anteil der Ritzungen, Gra-vuren und Punzierungen sexuellen Inhalt hat (die Betonung von Sexual-organen in Abbildungen von Menschen eingerechnet), sind solche Darstellun-gen auf den restlichen Inseln weitgehend ein Randthema. Dies muss jedoch mit Vorbehalt konstatiert werden, da z.B. die kanarischen Spiral-, Sonnenrad-und Radnetz-Motive noch nicht eindeutig und abschließend geklärt sind. In allen sexuell interpretierbaren Fällen können wir davon ausgehen, dass ein Teil dieser Felsbilder mit Fruchtbarkeitsriten und potenzsteigernder Magie zusammenhängt, dass aber auch ein nicht kleiner Teil normale Graffiti sein dürften, wie sie etwa ein Hirte oder Wachtposten aus Langeweile und eroti-scher Träumerei in den Fels ritzte. Auffallend sind die vielen Parallelen zu Schamdreiecken und Vulvensym-bolen in Europa (Abb. 13, 14) und Nordwestafrika (Abb. 6, 15a), was bezüglich der Abstraktion und künstlerischen Variation von sexuellen Symbolen auch auf ein universelles Ideengut deutet und nicht ausschließlich auf lineare Ver-wandtschaften. Einige der von Leroi-Gourhan² für Westeuropa zusammenge-stellten Entwicklungssequenzen (Abb. 14) können auch auf den Kanarischen Inseln beobachtet werden. Da diese europäischen Entwicklungsfolgen das Jungpaläolithikum betreffen, kann eine solche Chronologie keinesfalls auf die prähispanischen Kanarischen Inseln übertragen werden, die wahrscheinlich erst im mittleren bis späten Neolithikum erstmals besiedelt wurden. Nicht in allen Fällen müssen meines Erachtens zwischen verschiedenen Entwicklungs-stufen der altkanarischen Vulvensymbole große Zeiträume gelegen haben. Ich meine vielmehr, dass die Variationsbreite und individuelle künstlerische Aus-gestaltung von sexuellen Organen in der Felsbildkunst der altkanarischen In-selgesellschaften zu allen Zeiten immer wieder in der einen oder anderen Form aufs neue ablaufen konnte. Dass heißt, die Abstraktionsidee, die der eine auf ganz individuelle Weise gehabt haben kann, konnte von anderen des Clans relativ schnell aufgegriffen und abgewandelt worden sein; sie konnte aber auch ² Der Versuch einiger Autoren, manche der von Leroi-Gourhan in mehreren Publikatio-nen sexuell gedeuteten Zeichen als Sinnbilder mit anderem Inhalt zu interpretieren, scheitert meines Erachtens an der eindeutig sexuellen Aussage dieser Zeichen in den Phallus-/Vulva-Kombinationen (siehe Leroi-Gourhan 1971: Abb. 812). 38MMALMOGAREN XXVIII/1997 aufgrund der Isolation der Menschengruppen für einen bestimmten Zeitraum keine Fortentwicklung erfahren haben. Isolation bestand auf den Kanarischen Inseln nicht nur weitgehend zum Festland, sondern auch zwischen den Inseln (reduzierte Seemannskünste, unterschiedliche Ethnien) und sogar innerhalb einer Insel (Verkehrs- bzw. Kommunikationsprobleme durch stark zerklüfte-te Berglandschaften, geringe Besiedlungsdichte, Stammes- bzw. politische Grenzen, Trennung der Hirten von der Großfamilie durch Transhumanz, Ka-sten). Die in mehreren kleinen Schüben eintreffenden Neusiedler aus verschie-denen Regionen konnten für weitere Varianten und/oder Ausgangsformen ge-sorgt haben. Darüber hinaus ist nicht auszuschließen, dass einzelne neolithi-sche Formen der Genitaldarstellung in den Felsgravuren erhalten blieben und sogar bis in frühgeschichtliche Zeit tradiert wurden. Der Meinung von O'Shanahan (1979), wonach die auf der Spitze stehenden Dreiecke der kanarischen Felsbilder und Dekorationen (auf Pintaderas und Keramik) einen tiefenpsychologischen, "unschuldigen" Zusammenhang zu der Triade Vater-Mutter-Nachkommenschaft haben, einem "archetypischen Bild der Fortpflanzung", und nur einen sekundären Bezug zu körperlicher Sexualität oder Fruchtbarkeitsriten, kann ich nicht folgen. Der Autor über-sieht meines Erachtens, dass das reine Dreieck in vielen Fällen die Vereinfa-chung eines komplexeren Zeichens ist, das keine anatomischen Zweifel an der Darstellung eines weiblichen Genitals lässt. Lanzarote: Auf dieser Insel sind mehrere Vulven-Zeichen (Beispiele Abb. 16e, 25a-d, 30) und Phallus-Symbole (Typ 17/18/20 in Tabelle 12; Abb. 45 und vielleicht auch in Abb. 25d) zu finden. Hervorzuheben ist eine Kombination von Strahlen und Vulva in einem Paneel der Peña de la Fecundidad (Abb. 8.27, 30a). Dass es sich bei den ringsum angefügten Linien möglicherweise um Sonnenstrahlen und nicht um Schamhaare oder Sperma handelt, leite ich aus der Tatsache ab, dass die Religion der Mahos auch einen Sonnenkult umfass-te. Die neue Fundstelle im Valle de Fuente Salada (Orzola) erbrachte u.a. eine klare Phallus-/Vulva-Kombination (Abb. 16e). Abb. 16e ist ein Detail von Abb. 30b (große Wiedergabe in Ulbrich 1998: 124-126). Fuerteventura: Auf der Nachbarinsel von Lanzarote sind Felsbilder mit se-xuellem Inhalt relativ rar (nicht berücksichtigt, weil [1997] noch nicht veröf-fentlicht, sind hier die von W. Pichler in den Jahren 1992-94 aufgezeichneten Felsbilder). Die Kombination aus Vulva und Phallus in Abb. 16d birgt kaum Unsicherheiten in sich; eine Entwicklung von aus ist problemlos möglich (siehe Abb. 6). Letzteres Zeichen im inschriftfreien Kontext als Vulvensymbol anzusehen, erlauben die Beispiele des nahen Festlandes und der Insel El Hierro, wo der sexuelle Bezug eindeutig gegeben ist. Nun eine zweite Ent- ALMOGAREN XXVIII/1997MM39 stehungsmöglichkeit für : Wir wissen, dass Altkanarier einen Punkt in Fels-gravuren gerne als überkreuzende Linien darstellten, nicht nur weil ein Kreuz auf Fels besser zu erkennen ist, sondern auch weil ein Kreuz leichter zu ritzen ist als ein fetter Punkt; damit könnte man ein in Osteuropa und Kleinasien weit verbreitetes Fruchtbarkeitssymbol des Neolithikums in die Betrachtun-gen einbeziehen, nämlich die Raute mit zentralem Punkt ( → → ). Die Raute mit Punkt taucht auf vielen Statuetten der schwangeren Urmutter über ihrem Unterleib auf und symbolisiert nach Gimbutas (1975: 134) die Saat im Feld. Auch auf Gran Canaria finden wir die Raute mit Punkt in einer weibli-chen Statuette (Abb. 40a); hier sogar mit 5 Punkten, was die oben angedeutete Entwicklung zum Rechteck mit diagonalem Innenkreuz unterstützt. Demnach könnte die Entwicklung auch wie → → abgelaufen sein. Der Punkt oder kurze Strich (einzeln / mehrfach) scheint sehr oft die Bedeutung von Samen zu haben – menschlichem (Abb. 3-7, 13.10), tierischem und pflanzlichem. Die Bedeutung der Herzformen von Fuerteventura (Abb. 32a/b) ist unsicher. Sie muten modern an, könnten aber sehr wohl als prähispanische Schamdrei-ecke interpretiert werden, wie die Beispiele von El Hierro (Abb. 8.61, 8.62, 8.64, 32c), NW-Afrika (Abb. 15a.17, 15a.18, 15a.55) und Europa (Abb. 13.21, 13.22, 13.23, 14.B1) nahelegen. Die "Herz"-Kerbe befindet sich mal oben und mal unten, je nach Auffassung des Künstlers (und bei horizontalen Flächen auch je nach Position des Betrachters). Die Patina der "Herzen" von Fuerte-ventura ist relativ dunkel und die Formen z.T. ungewöhnlich ( ). Auf den gleichen Paneelen befinden sich einige neuzeitliche Inschriften (die Buchsta-ben ER zweimal), deren Patina aber heller ist und die vermutlich später einge-fügt wurden. Man beachte, dass das lanzarotische Vulven-Symbol in Abb. 30b einen ähnlichen Fortsatz hat, wie eines der "Herzen" in Abb. 32a. Gran Canaria: Die petroglyphische Besonderheit dieser Insel sind zahlrei-che, bezüglich unseres Themas sehr ergiebige Fundkomplexe; zunächst der Barranco de Balos mit seinen Symbolen und Menschendarstellungen, und dann über 10 Höhlen, mit unterschiedlichen Vulven- und Schoßdreieck-Abbil-dungen in Form von linearen Gravuren und Tiefenreliefs (Abb. 16g, 16j, 37a-c). Herausragend unter letzteren ist die Cueva de los Candiles mit alleine über 320 Vulven (Cuenca Sanabria & Rivero López 1994). Unter den Menschen-darstellungen des Barranco de Balos fallen einige männliche Figuren auf, die mit stark betonten Penissen ausgestattet sind (Abb. 34b-h). Dies muss nicht immer eine Verbindung zu Fruchtbarkeitsriten oder eine Potenzdemonstration bedeuten, sondern kann im Einzelfall auch mit dem Problem zusammenhän-gen, mit einem Stein als "Malgriffel" eine anatomisch realistische Länge des Gliedes besonders bei kleinen Figuren nur ungenau eingravieren zu können. 40MMALMOGAREN XXVIII/1997 Nichtsdestoweniger dürfte bei einigen dieser Figuren eine bewusste Überbe-tonung des Genitals vorliegen. In diesem Zusammenhang fällt eine Figur in Grußhaltung auf (Abb. 35c), bei der als einzige Kleidung angedeutet ist; hier könnte es sich um einen Guanarteme (Häuptling) handeln, der den Berichten zufolge deutlich mehr und kunstvollere Kleidung trug als der gewöhnliche Canario. Der extrem lange Penis der Figur könnte eine Anspielung auf das ius primae noctis des Oberhaupts sein. Eine andere merkwürdige Figur des Bar-ranco de Balos (Abb. 35a) ist umstritten: Beltrán Martínez (1971: 24f) sieht eine männliche Figur mit großem Penis und deutlichen Hoden. Der Vergleich mit einigen Koitusdarstellungen des marokkanischen Festlandes (Beispiele Abb. 36), bei denen die Partner gegenüberliegen, zeigt jedoch klar, dass es sich um ein kopulierendes Paar handelt; die vermeintlichen Hoden sind die Brüste der Partnerin, die beiden Beinpaare sind zeichnerisch zu einem Paar verschmol-zen. Auch die Abb. 35b kann in diesem Sinn gedeutet werden. Tenerife: Diese große Insel ist relativ arm an sexuell deutbaren Felsbildern. Dies mag damit zusammenhängen, dass noch längst nicht alle Felsbilder Tene-rifes entdeckt sind und nur teilweise veröffentlicht wurden. Das Paneel vom Risco Marrubial (Abb. 2) mit einer Vulva und zwei Kombinationen von Vulva und Phallus gehört zu den wenigen, die klar zu unserem Thema passen. Als weitere Felsbildstationen mit einigen mehr oder weniger sicheren Sexualsym-bolen sind vielleicht Morro Grueso (Adeje), Montaña Ifara (Granadilla) sowie Fustín und Aripe (Abb. 31a) bei Guía de Isora anzusehen. Zwei Mauersteine, die bei La Laguna gefunden wurden, enthalten Darstellungen von Vulven (Abb. Abb. 2 - Paneel mit Sexualsymbolen vom Risco Marrubial, Sta. Cruz de Tenerife. Ausschnitte davon siehe Abb. 16f und 16i (Foto: J.J. Jiménez González). ALMOGAREN XXVIII/1997MM41 31b-c). Auffallend ist eine Felsgravur von Aripe (Abb. 16k), die vermutlich eine Kombination von Schamdreieck und Phallus darstellt; letzterer erinnert an ei-nige Phallus-Symbole des afrikanischen Festlandes (Abb. 4c, 15b.46-48; u.a. ) und an die sogenannten "hantelförmigen" Symbole ( ) der Iberischen Halbin-sel, die meines Erachtens zum Teil sexuell zu deuten sind (also nicht immer als Abstraktion einer menschlichen Figur, wie H. Breuil meinte). Zwei alteuropä-ische Formen weisen laut Leroi-Gourhan ebenfalls stark vereinfachte bzw. nur mit zwei Halbkreisen dargestellte Hoden auf: (siehe auch Abb. 44A). La Gomera: In den Felsbildern dieser Insel findet man nur wenige Motive wie Dreiecke, Winkel, Striche, aufgeteilte Rechtecke und Ovale, die mögli-cherweise (mit einiger Unsicherheit) einen sexuellen Bezug haben; man sehe in der Spalte "La Gomera" in Tabelle 8 und Tabelle 12. El Hierro: Meines Wissens der erste, der in den Motiven der Fundstelle Los Letreros, El Julan, auch sexuelle Symbole erkannte, war U. Topper (1977: 319). Tatsächlich ergab eine Analyse der in vielen Publikationen verstreuten Abbil-dungen und zahlreicher freundlicherweise von H. & C. Steiner zur Verfügung gestellter Dias einen sehr hohen Anteil an Darstellungen von weiblichen und männlichen Geschlechtsorganen; darunter Kombinationen von Vulva und Phal-lus (Beispiele siehe Abb. 16a/b/c/l, Abb. 43a-d). Der Stil von El Julan ist überall auf Hierro zu finden: u.a. La Restinga (Abb. 16h), La Caleta (Abb. 43e), Bar-ranco de Tejeleite, Barranco de Candia, Barr. del Cuervo, Hoyo de los Muertos, Cueva del Agua. Auffallend sind auch einige Kreise und Ovale, bei denen ent-weder ein Strich oder eine kurze Wellenlinie außen angefügt ist ( ); ich meine, dass es sich hier um Vulven mit eindringendem Sperma handelt. Dies erscheint zunächst sehr hypothetisch, wird aber weniger spekulativ, wenn wir Abb. 3 betrachten, die eindeutig ejakulierende Penisse darstellt; zur Gewiss-heit wird es, wenn wir die marokkanischen und kanarischen Felsbilder betrach-ten, in denen voneinander unterscheidbar Vulva, Sperma und Penis dargestellt werden (Abb. 4, 16j). Diese Interpretation der samenempfangenden Vulva könn-te auch auf die eine oder andere ähnliche Gravur von Gran Canaria und der Iberischen Halbinsel zutreffen; bei manchen Autoren werden solche Motive "lakiform" (see-/trogförmig) genannt, ohne dass damit in allen Fällen eine zu-friedenstellende Deutung gegeben wäre (siehe auch Abb. 5). Leroi-Gourhan Abb. 3 - Phallus-Darstellun-gen mit Ejakulat in marok-kanischen Felsbildern (a-c aus Malhomme 1959-61) und in Felsbildern der Letreros, El Julan, El Hierro (d / e). 42MMALMOGAREN XXVIII/1997 (1971: Abb. 812d) sieht das jungpaläolithische Zeichen als Kombination von Vulva und Phallus. Diese Interpretation mag bei geraden Strichen auch auf die weitaus jüngeren Symbole der Kanarischen Inseln anwendbar sein, meines Er-achtens aber nicht auf die Kombinationen mit Wellenlinien. Spiralen in Fels-bildern von El Hierro und den anderen Inseln haben als feminin besetztes Wiedergeburtssymbol nur indirekt mit Fortpflanzung und Eheleben zu tun. Abb. 7 Kombinationen von Phallus und po-tenzierter Vulva. a)-b) Lalla Mina Hammou, Hoher Atlas, Marokko (aus Malhomme 1961: Ausschnitte aus den Abb. 548, 711). c) El Julan, El Hierro. a) b) c) Abb. 4 a-e Kombinationen von Phallus, Sperma und Vulva in marokkanischen Felsbildern (Zeichnungen: Malhomme 1959-61); f-g dito in Felsbildern von El Hierro (El Julan). a) b) c) d) e) f) g) Abb. 5 - Zwei der sogenannten lakiformen Motive von der Cueva de Tito Bustillo, Ribadesellas, Asturias (jungpaläolithisch; Adaption einer Zeich-nung von F. Jordá Cerda). Ohne große Phantasie kann man sie meines Erachtens als Vulven mit ein-dringendem Sperma interpretieren. Abb. 6 - Entwicklung einiger Vulven-Symbole des Hohen Atlas (Marokko); zum Teil mit Samen-Zeichen kombiniert. ↓ ← ↔ ←→ ↓ ↓ ↓ ? → → → ↑ ↑ ↑ → → → → → → → ↓ ↓ ↓ ↓ ↓ ↓ ←→ → → ↓ ALMOGAREN XXVIII/1997MM43 Es muss offen bleiben, ob die Formen in Abb. 8.67b und 8.68 auf El Hierro Vulven darstellen oder die sonst auf den Inseln zu beobachtenden Abstrahie-rungen von menschlichen Füßen bzw. Fußpaaren. Die sexuelle Bedeutung zahlreicher Symbole der Fundstelle El Julan und die fragmentarische Ausführung anderer Zeichen dieser Region lassen die von D.J. Wölfel und ihm folgend von H. Biedermann (1970) postulierte Ähnlichkeit zu altkretischen Schriftzeichen als überholt erscheinen. Einige libysch-berberische Inschriften, die es in El Julan (Los Letreros) gibt, sind als solche zweifelsfrei erkennbar und werden von der sexuellen Interpretation vieler Zeichen nicht berührt. Dort wo auf El Hierro Patina und Gravurtechnik benachbarter Inschrif-ten und Sexualsymbole dieselben sind, ist eine (ansonsten noch unsichere) zeit-liche Parallelisierung natürlich erlaubt. Doch wann entstand die libysch-ber-berische Schrift und wie alt ist sie auf El Hierro? [Letzteres evtl. 300 v.Chr.] La Palma: Eine sexuelle Interpretation innerhalb der vielen Felsbilder ist schwierig, da zahlreiche Motive noch nicht geklärt sind oder – vorläufig – auch einem Wasser- und Regenkult zugerechnet werden können (z.B. Spira-len und Mäander). Nicht eindeutig zu interpretieren sind auch einige "Spiele"- Darstellungen (Abb. 8.15). Spiele-Abbildungen: Unter den Felsbild-Motiven der Kanarischen Inseln findet man immer wieder aufgeteilte Rechtecke ( ), die stark an die Felder von antiken Würfelspielen erinnern und auch als Adaptionen solcher Formen angesehen werden; auch ich vertrete diese Meinung. Dies lag aufgrund der grafischen Form nahe, obwohl sie sich in den meisten Fällen an unbespielbaren vertikalen Felswänden befinden. Hier scheint eine Wandlung zum Glücks-symbol stattgefunden zu haben. Unter den marokkanischen Beispielen dieses Typs sind auffallend viele mit Phallus- und Samen-Symbolen kombiniert, so dass sich z.T. auch eine Interpretation als weibliches Sexualsymbol anbietet (siehe Abb. 4e und 7a/b). Abb. 6 zeigt die mögliche Entwicklung dieser Zeichen. Alle Symbole der Abb. 6 können aufgrund ihres Kontextes in den berück-sichtigten Paneelen als Vulven-Zeichen gedeutet werden. Auf den Kanaren und auf der Iberischen Halbinsel dürften die Prozesse ähnlich abgelaufen sein – aber auch hier gilt, dass nur ein Teil der "Spiele" sexuell erklärt werden kann. Im Einzelfall ist schwer zu entscheiden, ob , und ein Vulven-Symbol oder ein "Spiel" (besser Glückssymbol) anzeigen, solange nicht eine Kombi-nation mit einem Phallus- oder Samen-Zeichen vorliegt (wie bei Abb. 16d). Potenzierungs-Magie: Einige der männlichen und weiblichen Sexual-Sym-bole im kanarischen, iberischen und marokkanischen Raum weisen Abwand-lungen und Variationen auf, die zum Teil als künstlerische Ausschmückung und z.T. als bewusste Verdoppelung oder Vervielfachung angesehen werden kön- 44MMALMOGAREN XXVIII/1997 nen (Abb. 6 teilw., 7, 8.15, 8.19c, 8.20, 8.30, evtl. 8.31b, 8.50, 8.58, 9.3b, 12.18- 20, 13.33, 14 teilw., 15a.3, 15a.8, 15a.52, 15b.60, 16l, 21b, 22c-e, 25e, 30b, 31b-c, 40.d, 43c-e, 44B-D, 45). Ich deute letztere Formen als Potenzierung der magi-schen Kraft einer solchen Felsgravur – sowohl kultisch (was Fruchtbarkeitsriten im Zusammenhang mit Herden, Ernten und menschlichem Nachwuchs betrifft) als auch rein erotisch. Diese bereits im Jungpaläolithikum ausgeübte Praxis hat auch in den folgenden Jahrtausenden immer wieder neue Varianten erfahren; bezüglich der Kanarischen Inseln kann nur vermutet werden, dass potenzierte Sexualsymbole vom späten Neolithikum bis in antike Zeiten eingraviert und vielleicht auch noch darüber hinaus kopiert bzw. nachgeahmt wurden. 5. Die Manifestation in Artefakten Für unser Thema interessante Artefakte finden wir nur auf Lanzarote, Fuer-teventura und Gran Canaria. Lanzarote: Weitgehend unbemerkt von der Fachwelt wurden auf Lanzarote zwei längliche Phalli aus Stein gefunden (Größe unbekannt, Grabungsstelle Zonzamas; Sanz Aranda 1974). Beide weisen Besonderheiten auf, die sie ge-genüber anderen Phallus-Artefakten des atlantisch-mediterranen Umfeldes (Abb. 18b-f) etwas herausheben: Das ist zum einen die abstrahierte Wiederga-be des Schwellkörpers (die senkrechte Linie in Abb. 18a) und zum anderen die Einbeziehung des Hodensacks (Abb. 19a). Letzteres erfordert eine etwas ge-nauere Betrachtung: Sanz Aranda (1974: 354) spricht von einem Doppelpenis (also von der Wiedergabe von zwei Eicheln), M. Almagro Basch folgend, und bringt dazu ähnliche Felsbilder aus der Westsahara. Ich meine aber, dass gera-de eine dieser Zeichnungen (Abb. 19c) und viele andere Beispiele aus Nord-westafrika (Abb. 15b) andeuten, dass die vermeintliche zweite Eichel in Wirk-lichkeit ein stilisierter Hodensack ist – dies wäre meines Erachtens ein plau-sibler Interpretationsansatz, obwohl ein Doppelpenis nicht auszuschließen ist. Für die Fundstelle Zonzamas liegen keine datierten Schichten vor. Die beiden Stein-Phalli und die drei kleinen Steinobjekte in Abb. 21 haben vermut-lich ein unterschiedliches Alter, wobei der terminus post quem das mittlere bis fortgeschrittene Neolithikum sein dürfte. Die kleinen Objekte (inkl. hier nicht abgebildeter Chalcedon-Plaketten, Dug Godoy 1988: 58) können gut als erotische Amulette gedeutet werden, wie der Vergleich mit Abb. 22/23 zeigt. In bestimmten antiken Kulturen, etwa der griechischen oder römischen, war der Gebrauch von künstlichen Phalli (Olisbos, Dildo) durchaus üblich. In bezug auf die lanzarotischen Phalli (Abb. 18a/19a) möchte ich jedoch eine praktische Anwendung zur Selbstbefriedigung oder Stimulierung ausschlie-ßen und einen kultischen Zweck annehmen, da die Objekte unter einem altar- ALMOGAREN XXVIII/1997MM45 ähnlichen Gebilde gefunden wurden. Auch der profane Gebrauch von künst-lichen Phalli aus Holz (Abb. 18c) oder Stein durch die Ägypterin ist nicht klar belegt; Manniche (1988: 71) deutet sie im wesentlichen als Votivgaben. Von Relevanz für unser Thema ist eine Statuette (Abb. 27), die man in den 80er Jahren ebenfalls bei der Ausgrabungsstätte Zonzamas (Lanzarote) fand. Die Ausgrabungsleiterin (Dug Godoy 1988: 54) sprach von einer "sehr sche-matisierten menschlichen Figur mit Krone". González Antón et alii (1995: 31- 33) bringen die Figur mit der ägyptischen Göttin Opet / Ipet / Ipy / Taweret / Taurt / Reret (griech. Thoeris, Thueris) in Verbindung, der spanischen Ägyp-tologin M.C. Pérez Díez folgend. Thoëris, eine Erscheinungsform der Großen Urmutter, war u.a. die Schutzgöttin der werdenden Mütter, gebärenden Frau-en und Wöchnerinnen. Ich selbst hatte die lanzarotische Statuette in einer ersten oberflächlichen Beurteilung ebenfalls dem Kreis der mediterranen Ur-mutter zugerechnet (Ulbrich 1991: 10). Zur Interpretation als Thoëris ist anzumerken: Die Göttin wird in Reliefs, Dekors und Statuetten durchwegs als stehendes, meist trächtiges Nilpferd-weibchen wiedergegeben (siehe Abb. 28), oft mit Krokodilrücken und Löwen-klauen. Eine hockende oder knieende Stellung wäre völlig untypisch. Auch das Gesicht der lanzarotischen Figur entspricht keinesfalls dem eines Nilpferds; sie als Thoëris anzusehen, erscheint mir daher unmöglich. Bei näherer Betrachtung der lanzarotischen Figur fallen zwei Eigenarten auf, die zu einer völlig anderen Interpretation führen: Der modiusförmige Kopfschmuck wurde vom Künstler nicht massiv herausgearbeitet, sondern hohl; dieses Detail ist in der Zeichnung von Dug Godoy (1988) nicht deutlich erkennbar, sondern erst in der Zeichnung bei González Antón et alii (1995). Eine weitere wichtige Erkenntnis ist die Ähnlichkeit der Gesichtszüge weder zu einem Nilpferd, noch zu einer Frau, sondern zu einem Affen. Auch die lan-gen Arme deuten auf eine Affenfigur. Aus Ägypten (Neues Reich und Spät-zeit) kennen wir zahlreiche Figurinengefäße in Affenform, die zum Beispiel als Salbgefäße in Gebrauch waren (Abb. 29b). Auch die Figur der Göttin Tho-ëris mit hohlem Kopfschmuck gibt es als Salbgefäß, aber eben als stehendes Nilpferdweibchen mit Nilpferdkopf, Krokodilrücken, menschlichen Brüsten und schwanger gewölbtem Bauch – alles Merkmale, die die lanzarotische Sta-tuette deutlich nicht aufweist. Affenförmige Salbgefäße tauchen auch in der etruskischen Kultur auf. Ihre stilistischen Vorbilder hatten sie in den griechischen, speziell in den korinthi-schen Aryballoi (Ölflakons), die ebenfalls in Form von Affen und anderen Tierarten modelliert waren. Etruskische Varianten des 7. und 6. Jhs. v. Chr. (Abb. 26) zeigen jedoch den schwanzlosen nordafrikanischen Makaken, den 46MMALMOGAREN XXVIII/1997 sogenannten "Berberaffen" (Macaca sylvana). Besonders zu diesen Aryballoi weist unser lanzarotisches Stück eine ganz verblüffende Ähnlichkeit auf. Die entsprechenden Handelsbeziehungen zwischen Etrurien und Nordafrika ge-hen auf phönizische Händler zurück, was eindrucksvoll eine tierförmige Elfen-beinplakette belegt, die auf der Rückseite das Wort "Karthago" in etruski-scher Schrift enthält (6. Jh. vor Christus, Nekropole von Karthago). Durch diese Beziehungen mag ein etruskischer Aryballos zu phönizisch akkulturierten Berbern gelangt sein, die wiederum auf die Kanarischen Inseln auswanderten oder zumindest Kontakt zu dieser Inselgruppe hatten. Etrus-kische Händler hatten aber auch Beziehungen zur iberischen Levante, so dass offen bleiben muss, ob die Statuette über Südspanien (vielleicht Fischerei be-treibende Tartessier) oder Nordwestafrika (eventuell phönizische Purpur-Händ-ler) nach Lanzarote gelangte; oder ob eine Kombination von beidem vorliegt, wenn wir an den Handel über die Straße von Gibraltar hinweg denken. Neben den Ägyptern und Etruskern kommen aber auch Karthager in Frage, die solche Aryballoi selbst herstellten (Abb. 29a) und die der Insel von atlantischen Nie-derlassungen aus einen Besuch abgestattet haben konnten. Besondere Beachtung verdient der Umstand, dass das lanzarotische Stück laut Dug Godoy (1988) aus "vulkanischem Sandstein" herausgearbeitet ist, also nicht aus Ton gebrannt ist, wie andere uns bekannte Aryballoi. Man muss sich fragen, was die Autorin mit "vulkanischem Sandstein" meint, da Sand-stein normalerweise ein nicht-vulkanisches Sedimentgestein ist. Der auf Lan-zarote vorkommende Kalksandstein ist weitgehend biogen, also fossilen Ur-sprungs; lediglich die auf der Nachbarinsel Fuerteventura vorkommenden submarinen Vulkanite enthalten gelegentlich Quarzsandstein und Marmor. Vielleicht meint die Autorin aber auch die auf den Inseln tosca blanca (oder caliche) genannten Kalkkrusten, die sich sowohl auf karbonatischen Sedi-menten als auch (vulkanischen) Basalten gebildet haben. Diese petrologischen Unsicherheiten werfen Fragen auf, die den geografischen Ursprung des Arte-fakts betreffen. Stilistisch würde ich eine Affinität zu etruskischen, karthagi-schen und ägyptischen Salbgefäßen konstatieren wollen, vielleicht auch zu einem erotischen Glücksbringer solcher Herkunft; lediglich die affentypische Hockstellung wurde bei dem lanzarotischen Stück im unteren Teil vertikal verkürzt. Petrografisch lässt sich keine genaue Aussage machen. Eine Herstel-lung der Figurine direkt auf Lanzarote würde ich als am wenigsten wahrschein-lich ansehen. Da es ein absoluter Einzelfund ist, können wir nicht von einem typischen Artefakt der altkanarischen Kultur sprechen. Dies schließt jedoch einen tatsächlichen Gebrauch nicht aus, denn wir wissen (z.B. konkret von La Gomera), dass sich die altkanarischen Frauen mit roter Farbe schminkten. ALMOGAREN XXVIII/1997MM47 Auch wenn die Kleinplastik als Salbgefäß interpretiert werden kann und damit dem Bereich der alltäglichen Gebrauchsgegenstände zuzurechnen wäre, führt uns die affenähnliche Gestalt der Figur wieder zum Thema Sexualität zurück: Affen tauchen in der Antike nicht selten in erotischem Zusammen-hang auf. Im Mittelalter war der Affe – insbesondere der weibliche – ein verbreitetes Symbol für Geilheit, Schamlosigkeit und Ehebruch (Duerr 1990: 279ff). Manniche (1988: 38, 60-64, 70-71, 173) beschreibt die Beziehungen des Affen zur Sexualität der frühgeschichtlichen Ägypterin. In einigen Dar-stellungen des Geschlechtsaktes hat die Partnerin ein Affengesicht. Kleine Affen tauchen in allerlei erotischen Graffiti auf. Der ägyptische Zwerggott Bes, der das Intimleben der Frauen und auch die Wöchnerinnen beschützte, wurde in Abbildungen manchmal durch einen Affen ersetzt. In ägyptischen Traumbüchern wird die Kopulation von Frauen und Pavianen abgehandelt. Ägyptische Kosmetikgefäße sind nicht selten mit einem Affen-Dekor verse-hen. Auch bei unserem lanzarotischen Salbgefäß können wir einen Zweck annehmen, der im Bereich Schönheitspflege oder Aphrodisiakum gelegen haben mochte. Die Menge Hautöl, Parfum oder Schminke, die in dem Hohl-raum des Kopfschmuckes Platz hätte, ist relativ gering und kann grob mit einer Daumenspitze bemessen werden. Fuerteventura: Insgesamt wurden sechs menschliche Figuren mit betonten Genitalien in der Cueva de los Ídolos (La Oliva) gefunden, die als Veranstal-tungsort für Fruchtbarkeitsriten und Regenzauber interpretiert wird (Cabrera Pérez 1993: 98). Die Nacktheit der abgebildeten Beispiele (17a/b) könnte aber nicht nur einen kultischen Hintergrund haben, sondern mag auch ein Indiz für die Bekleidungssitten sein, wie sie in den schriftlichen Quellen beschrieben werden. Bei der weiblichen Figur ist nur ein Schmuckband um die Taille erkennbar (wie bei einer der Figuren in 17c). Figur 17a ist eine der ganz weni-gen männlichen Figuren, die überhaupt auf den Kanarischen Inseln entdeckt wurden und nicht nur aus einem Kopf bestehen; auffallend ist die Berücksich-tigung der Hoden. Eines der schönsten Stücke unter den altkanarischen Arte-fakten ist ein Steinfries, das bei La Oliva gefunden wurde (Abb. 17c); es zeigt eine Gruppe von nackten Frauen und Männern, die auf mich eher einen pro-fanen, familiären Eindruck machen als einen kultischen. Gran Canaria: Diese Insel weist ein beeindruckendes Inventar von Statuet-ten, Gefäßen, Tonsiegeln und anderen Artefakten auf, die zum Teil sehr deut-lich mit Sexualität und Fruchtbarkeitsriten tun haben. Lezteres kommt in zahlreichen weiblich deutbaren Figurinen zum Ausdruck, die entweder einem ostmediterranen bzw. kleinasiatischen Idolstil zuzurechnen sind (Abb. 40a,c) oder einem eher alteuropäischen Stil (Abb. 41). Die Überbetonung der Be- 48MMALMOGAREN XXVIII/1997 cken, die auch als Schwangerschaft deutbar ist, kann in engen Zusammen-hang mit bäuerlichen Fruchtbarkeitsriten gebracht werden. Die Vorstellung, weibliche Fruchtbarkeit eng mit landwirtschaftlichem Erfolg (d.h. mit dem Aufgehen der Saat) zu assoziieren, ist universell (man sehe in diesem Zusam-menhang auch die Ausführungen zu Figur 40a auf Seite 39). Die Mästung der grancanarischen Jungfrauen noch im 15. Jh., die primär nicht einem Schön-heitsideal entsprang, sondern dem Wunsch nach möglichst gesunder und si-cherer Empfängnis, ist ein spätes Abbild dieser archaischen Glaubenswelt. Aus den Berichten wissen wir sogar, dass die gemästeten Mädchen einige Tage vor der Hochzeit wieder etwas abnehmen mussten. Stilistisch schwer einzuordnen sind einige Statuetten, die nur aus Becken mit betonter Vulva, angedeutetem Oberkörper und Oberschenkeln bestehen (Abb. 38a-c). Die Zugehörigkeit zu einer lokalen Weiterentwicklung des ost-mediterranen Stils wäre denkbar; quasi eine Reduzierung auf die für die Fort-pflanzung wichtigste Körperpartie unter Weglassung von Brust, Schultern, Armen und Kopf. Letzterer ist in vielen Fällen sowieso gesichtslos und mit dem Hals eine Einheit bildend dargestellt worden (wie bei Abb. 38c und 40c). Das relativ spitz und groß ausgewölbte Gesäß der Figur 41 kann als Fett-steiß angesehen werden. Ungeklärt ist die hängende Darstellung des Gesäßes bei einer anderen weiblichen Figur (Abb. 42): Dieser Fortsatz könnte als Stüt-ze für das Einstecken der Figur im Erdboden oder als überdimensionaler Fettsteiß gedeutet werden. Bei einer dritten Figur (Abb. 39c) vermuten Cuenca Sanabría & León Hernández (1983: 103) eine bisexuelle zoomorphe Figur mit Penis und Vulva. Hier könnte der Penis in Wirklichkeit ebenfalls ein herun-terhängendes Gesäß sein (die kleine Öffnung an der Spitze also nicht die Harnröhrenmündung sondern der Anus). Bei diesen drei Fällen handelt es sich vermutlich nicht um echte Steatopygie, sondern um Fettsucht des Gürtel- Typs. Es dürfte schlicht eine übertriebene Darstellung der Mästung der Jung-frauen sein, kurz bevor sie wieder etwas abzunehmen hatten. Eines steht nach der Betrachtung der grancanarischen Statuetten fest: Sie sind keinesfalls alle ein Produkt der letzten 500 Jahre vor Christus, eines Zeit-raumes, in den die kanarische Schularchäologie den Beginn der menschlichen Besiedlung des Archipels legt. Ein größerer Teil dürfte bronzezeitlich oder spätneolithisch sein. Andere, hier nicht gezeigte Varianten, erinnern an Stü-cke des maltesischen Megalithikums. Obwohl der Violinstil vereinzelt in ma-rokkanischen Felsbildern (Abb. 40d) auftaucht, würde ich die grancanarischen Statuetten nicht als typisch alt-berberisch bezeichnen; vielmehr dürften der kanarische und marokkanische Idolstil unabhängig voneinander entstanden sein, auf ostmediterranen Einflüssen basierend. ALMOGAREN XXVIII/1997MM49 Dass Genitalien auch auf grancanarischen Gebrauchsgegenständen des täg-lichen Lebens abgebildet wurden, zeigen die Abb. 39a (Schamdreieck auf ei-nem Holzgefäß, das vermutlich zum Melken von Ziegen oder bei der Käseher-stellung verwendet wurde) und 39b (Hodensäcke und erigierte Penisse als Grif-fe an einer Tonvase). Unter den Tongefäßen (gánigos) gibt es auch Varianten, bei denen die penisartigen Griffe gleichzeitig Ausgüsse sind und die skrotum-artigen Ausbuchtungen in Funktion eines Ösenhenkels durchlöchert wurden. Einen Phallus aus Stein in der Art eines der Stücke von Lanzarote, also so-wohl mit Eichel als auch Hodensack, wurde meines Erachtens auch auf Gran Canaria gefunden (Abb. 19b). Die Interpretation umfasste bislang so verschie-dene Zwecke wie magisches Symbol, Projektil, Teil einer Keule, Wegzeichen (zum Hinlegen) oder Stein zum Erhitzen von Wasser (nachdem er selbst er-hitzt wurde). Gut vergleichbar ist Abb. 15b.51 mit einem Phallus-Symbol aus Marokko.3 3 Wenn man – aufgrund der symmetrischen Form – eine noch größere Abstrahierung durch den Künstler annimmt, dann könnte man auch an eine Darstellung des männlichen und weiblichen Prinzips denken, repräsentiert in der gegenüberliegenden Anordnung von zwei Halbkugeln, für die möglicherweise Skrotum (Hodensack) und Schamhügel (man denke an die extreme Ausformung des Schamhügels in Abb. 38a) Modell standen. Doch dies ist zugegebenermaßen sehr hypothetisch. Auch bei dem in Abb. 20 gezeigten ägyptischen Amulett liegen sich Mann und Frau gegenüber, verbunden durch den Penis als Transportmedium für das Sperma. Ein Zusammenhang von Sperma und Hoden war z.B. den alten Ägyptern bekannt (Strouhal 1974: 12), allerdings nicht als Ort der Produk-tion, sondern nur als Zwischenstation vor der Ejakulation. Der Entstehungsort des Sper-mas wurde in den Knochen gesehen, weil man meinte, ein Kind bekäme die harten Körperteile vom Vater und die weichen von der Mutter. Tenerife, La Gomera, El Hierro, La Palma: Diese Inseln weisen bis jetzt keine Artefakte auf, die unserem Thema direkt entsprechen würden. 6. Ergänzende Betrachtungen und Zusammenfassung Aus textlichen Quellen erfahren wir zum Thema "Sexualität und Scham" am meisten über Gran Canaria und Tenerife, deren soziale Struktur und ethi-sche Ordnung am ausgeprägtesten erscheinen – aber nur, weil sie am detail-liertesten beschrieben werden. Am wenigsten erfahren wir über Fuerteven-tura und die kleinen Westinseln El Hierro, La Gomera und La Palma. Aus archäologischer Sicht, Felsbildforschung einbeziehend, sind Gran Canaria, El Hierro und Lanzarote am ergiebigsten. Die größte Variationsbreite in der Darstellung von Genitalien beiderlei Geschlechts finden wir in den Felsbil-dern von El Hierro, wo dieses Thema – nach jetzigem Wissensstand – auch den größten Anteil an den Paneelen hat (schätzungsweise über 50 %). 50MMALMOGAREN XXVIII/1997 Sexuelle Begriffe, was Körperteile, körperliche Zustände oder Praktiken betrifft, sind in dem uns überlieferten Wortschatz des Altkanarischen nicht enthalten. Nicht berücksichtigt ist hier, dass der semantische Inhalt vieler libysch-berberischer und latino-kanarischer Felsinschriften [1997] noch nicht erforscht ist. Neben Personennamen mag sich auch das eine oder andere Wort aus dem täglichen Leben ergeben. So wie erotische Graffiti eingeritzt wurden, ist vielleicht auch eine sprachliche Anzüglichkeit oder Obszönität dem Fels anvertraut worden. Lediglich ein sehr unsicher altkanarisches Wort über "Lie-be / Liebesverhältnis" ist bekannt: güiro (Wölfel 1995: 410). Zur Bezeichnung für Bastardkinder auf Tenerife sehe man S. 24. Unter den Geschlechtskrankheiten wird nur die Syphilis diskutiert; J. Bosch Millares (1941) meinte zunächst, sie erkennen zu können, dem französischen Anthropologen René Verneau folgend, verwarf dies später aber wieder. An-hand der Knochenfunde ist sie nicht nachweisbar (García García 1993: 98). Über Tänze der kanarischen Eingeborenen mit sexuellem Bezug haben wir nur vage Angaben (siehe S. 23, 26). Eine Szene der menschlichen Figuren in den Felsbildern des Barranco de Balos (Gran Canaria) wird als phallischer Tanz gedeutet (Beltrán Martínez 1971: Paneel III). Für den nur wenige Kilometer entfernten Barranco de Guayadeque erwähnt Siemens Hernández (1977: 24) einen Fruchtbarkeitstanz von "Annäherung und Zurückweisung", genannt el baile del pámpano roto ("Tanz der abgerissenen Weinranke"), der noch bis ins frühe 19. Jh. praktiziert wurde und dessen vorspanischen Ursprung der Autor für möglich hält. Beim Tanzen wurde ein großes Kolokasienblatt ("ñame" = Colocasia esculenta) benützt, woraus ersichtlich wird, dass es nicht zwingend um eine Weinrebe ging, die ja erst mit den Europäern auf den Kanarischen Inseln eingeführt wurde. Auch der auf S. 26 erwähnte "canario" ist so ein Tanz, bei dem sich eine Reihe Männer und eine Reihe Frauen im Wechselspiel von Umwerbung und Ablehnung befinden. Dies gilt ebenfalls für den auf die Ur-einwohner zurückgehenden Tajaraste von Tenerife, für den González González (1992: 151f) ausgesprochen erotische und z.T. antikatholische Liedtexte berich-tet; und auch Texte des sehr alten, inzwischen ausgestorbenen tinerfenischen Tanzes "Búsquese la Vida" ("Man suche das Leben"; Díaz Palmero & Lorenzo Perera 1995: 176) konnten sehr anzüglich sein. Obwohl einige Verhaltensweisen auch unter Berbern zu finden sind, zeich-net sich eine ausschließliche Affinität zu diesem Kulturkreis nicht ab. Oder anders ausgedrückt: Die vorislamischen berberischen Moral- und Sexualvor-stellungen und die damit verbundenen Felsbilder und Artefakte sind genau so unterschiedlich wie die der nahen altkanarischen und altiberischen Kulturen; Beziehungen in diesem Zusammenhang scheint es aber trotzdem zwischen ALMOGAREN XXVIII/1997MM51 allen drei Kulturkreisen gegeben zu haben. Gleichwohl ist bei einzelnen ka-narischen Felsbildern eine Verwandtschaft mit marokkanischen Beispielen sehr wahrscheinlich, was sowohl auf prähispanische Beziehungen als auch auf Berber-Sklaven, die im 15. und 16. Jh. auf die Inseln geholt wurden, zurückgehen kann. Eine absolute Chronologie ist z.Zt. weder aufgrund der Stile und Stilsequenzen noch aufgrund der Patina möglich. Auf den Kanarischen Inseln müssen wir streng zwischen einer vor- und nachchristlichen Zeit unterscheiden. Es zeichnet sich ein Bild ab, wonach vor den ersten Kontakten mit dem Christentum eine den sozialen und ökologi-schen Verhältnissen der Inseln angepasste Polygynie herrschte, auf Gran Ca-naria zeitweise und Lanzarote (wohl auch nicht zu allen Zeiten) Polyandrie. Mehrere Frauen oder Männer zu haben, war kein Zwang und beruhte immer auf gesellschaftlichen Erfordernissen sowie auf den wirtschaftlichen Mög-lichkeiten des Partnernehmenden; das heißt auch, dass Monogamie gesell-schaftlich zulässig und anerkannt war. Bemerkenswert ist der hohe sittliche Respekt vor der altkanarischen Frau, der zur Zeit der Entstehung der Manuskripte im 15. und 16. Jahrhundert schon christlich beeinflusst war und auf einer vorher existenten ethischen Grund-haltung basieren muss, die den moralischen Einfluss des Christentums be-günstigte (nicht jedoch in allen Fällen dessen Missionierung der göttlichen Aspekte). Alles deutet darauf hin, dass dieser Respekt besonders bei unver-heirateten jungen Frauen sehr konsequent und rigoros eingehalten beziehungs-weise durchgesetzt wurde. Besonders die Selbstbestimmung der tinerfe-nischen Frau, die ohne Zweifel auch das Sexuelle einschloss, erinnert an die Handlungsfreiheit der neolithischen "Jungfrau" = "unverheirateten Frau", wie sie Highwater (1992: 56f) beschreibt. Letzterer war es zum Beispiel freige-stellt, über einen vorehelichen Geschlechtsverkehr selbst zu entscheiden – so wie es offenbar die "jungen Frauen" von La Palma konnten (siehe S. 14f). Die oft sehr expliziten sexuellen Anspielungen müssen der Existenz von Mo-ralregeln nicht widersprechen. Die Felsbilder können zum Teil in Verbindung mit Fruchtbarkeitsriten und männlicher Potenzmagie gesehen werden und zum Teil als normale erotische Graffiti, wie sie täglich überall auf der Welt entste-hen. Die Artefakte mit sexuellem oder erotischem Bezug sind ebenfalls Frucht-barkeitsriten zuzuordnen, die in diesen insularen, ohne Hilfe von außen exis-tierenden Gesellschaften eine besondere Bedeutung hatten. Gute Ernten und gesunde Herden sowie das dazu notwendige Klima waren lebensbestimmend – und so hatten auch die entsprechenden Riten ihren festen Platz. Besondere Freude am Sex wird den Ureinwohnern von La Gomera und Fuer-teventura nachgesagt; letztlich dürfte aber die prähispanische Bevölkerung des 52MMALMOGAREN XXVIII/1997 ganzen Archipels so zu charakterisieren sein. Nicht nur die Assoziation von weiblicher und männlicher Sexualität mit der Vermehrung von Herden und mit der Fruchtbarkeit des Ackers, also der rituelle Aspekt, sondern auch der Spaß am Geschlechtsverkehr schlechthin und das ganze Umfeld der Erotik dürften auf allen Inseln eine sehr große Rolle gespielt haben – auch wenn dies Regeln un-terworfen war. Es ist sicher nicht aus der Luft gegriffen, dass Erotik und Sex in der altkanarischen Gesellschaft einen positiven psychosomatischen Gegenpol zum täglichen Überlebenskampf bildeten, der durch Missernten (Mangel an Nie-derschlägen, gelegentlich Heuschreckenschwärme), Krankheiten (z.B. Rheuma, Tuberkulose, vereinzelt Typhus [1494 epidemieartig]) und |
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