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ALMOGAREN 50/2019MM79 IC INSTITUTUM CANARIUM ALMOGAREN 50/2019 50 JAHRE INSTITUTUM CANARIUM 1969–2019 ICDIGITAL Separatum 50/3 80MMALMOGAREN 50/2019 ICDIGITAL Eine PDF-Serie des Institutum Canarium herausgegeben von Hans-Joachim Ulbrich Technische Hinweise für den Leser: Die vorliegende Datei ist die digitale Version eines im Jahrbuch "Almogaren" ge-druckten Aufsatzes. Aus technischen Gründen konnte – nur bei Aufsätzen vor 1990 – der originale Zeilenfall nicht beibehalten werden. Das bedeutet, dass Zeilen-nummern hier nicht unbedingt jenen im Original entsprechen. Nach wie vor un-verändert ist jedoch der Text pro Seite, so dass Zitate von Textstellen in der ge-druckten wie in der digitalen Version identisch sind, d.h. gleiche Seitenzahlen (Pa-ginierung) aufweisen. Der im Aufsatzkopf erwähnte Erscheinungsort kann vom Sitz der Gesellschaft abweichen, wenn die Publikation nicht im Selbstverlag er-schienen ist (z.B. Vereinssitz = Hallein, Verlagsort = Graz wie bei Almogaren III). Die deutsche Rechtschreibung wurde – mit Ausnahme von Literaturzitaten – den aktuellen Regeln angepasst. Englischsprachige Keywords wurden zum Teil nach-träglich ergänzt. PDF-Dokumente des IC lassen sich mit dem kostenlosen Adobe Acrobat Reader (Version 7.0 oder höher) lesen. Für den Inhalt der Aufsätze sind allein die Autoren verantwortlich. Dunkelrot gefärbter Text kennzeichnet spätere Einfügungen der Redaktion. Alle Vervielfältigungs- und Medien-Rechte dieses Beitrags liegen beim Institutum Canarium Hauslabgasse 31/6 A-1050 Wien IC-Separata werden für den privaten bzw. wissenschaftlichen Bereich kostenlos zur Verfügung gestellt. Digitale oder gedruckte Kopien von diesen PDFs herzu-stellen und gegen Gebühr zu verbreiten, ist jedoch strengstens untersagt und be-deutet eine schwerwiegende Verletzung der Urheberrechte. Weitere Informationen und Kontaktmöglichkeiten: institutum-canarium.org almogaren.org Abbildung Titelseite: Original-Umschlag des gedruckten Jahrbuches. Institutum Canarium 1969-2019 für alle seine Logos, Services und Internetinhalte ALMOGAREN 50/2019MM81 Inhaltsverzeichnis (der kompletten Print-Version) Marcos Sarmiento Pérez 50 años de relaciones del Institutum Canarium con instituciones e investigadores de las Islas Canarias (1969-2019) .................. 11 Hans-Joachim Ulbrich Der Hype um Illustrationen von toten Guanchen im Europa des 18.-19. Jahrhunderts .............................................................. 41 Franz Trost Das Hochzeitszeremoniell beim Vasallenstamm der Dag-Rhali ................ 83 Hartwig-E. Steiner, Paz Fernández Palomeque, María Luisa Morales Ayala, Marcos Sarmiento Pérez Ysla del Hierro de José Agustín Álvarez Rixo del legado del erudito canario universal ..................................................... 107 Hartwig-E. Steiner Altkanarische Stätten in Las Playas / El Hierro IV: Siedlungsspuren im Gebiet Los Cardones sind Zeugnisse herrenischer Transhumanz .................................................. 151 Hartwig-E. Steiner El Hierro im Fokus des Institutum Canarium. Erfolgreiche IC-Forschungsprojekte seit 50 Jahren. ..................................... 265 Franz Rudolf Ertl 50 Jahre im Dienst der Erforschung der Kanaren, der vergleichenden Felsbildforschung und der Mittelmeerkulturen ............................................ 275 • 82MMALMOGAREN 50/2019 Trost, Franz (2019): Das Hochzeitszeremoniell beim Stamm der Dag-Rhali.- Almogaren 50 / 2019 (Institutum Canarium), Wien, 83-105 Zitieren Sie bitte diesen Aufsatz folgendermaßen / Please cite this article as follows: ALMOGAREN 50/2019MM83 Franz Trost Das Hochzeitszeremoniell beim Vasallenstamm der Dag-Rhali Keywords: Sahara, Twareg, wedding-ceremonies, songs Zusammenfassung: Die vorliegende Arbeit versucht eine ethnographische Beschreibung über das Hochzeits-zeremoniell eines Vasallenstammes der Twareg in der zentralen Sahara zu geben. Im Prin-zip gilt eine strenge Endogamieregel, die Ehen sind monogam. Eine bevorzugte Eheschlie-ßung besteht zwischen Kreuzvetter und Kreuzkusine. Die in den beiden ersten Haupt-festtagen abgehaltenen Zeremonien sind charakteristische Übergangsriten (rites de pas-sage), die mit eigenen, von Frauen im Chor gesungenen Hochzeitsliedern begleitet wer-den. Danach verweilt das frisch vermählte Ehepaar etwa sieben Tage in einem neu errich-teten Hochzeitszelt. Résumé: L'article donne une description ethnographique des cérémonies de mariage chez une tribu-vassalle des Twareg dans le Sahara central. En principe il y règne une sévère règle d'endogamie et les mariages sont monogames. Un mariage de préférence consiste entre un cousin croisé et une cousine croisée. Les cérémonies qui accompagnent les deux premiers jours principeaux sont en fait des rites de passage caractéristiques. Ils sont marqués par les chants chorégraphiques nuptiaux des femmes. Après les nouveaux mariés passent sept jours ensembles dans une nouvelle tente de mariage. Abstract: This article gives an ethnographic description of the wedding ceremonies of a vassal tribe of the Twareg in the central Sahara. A strict rule of endogamy is obeyed and matrimony is monogamous. The principally preferred mode of wedding is between cross-cousins. The ceremonies held in the first two principle festive days are characteristic rites of passage, accompanied by wedding songs sung by a chorus of women. After the ceremony the freshly wed couple stays in an especially erected wedding tent for about seven days. Die Dag-Rhali sind ein relativ wohlhabender Vasallenstamm im vorwie-gend westlichen Zentralgebiet des Ahaggar (1). Ihre Hochzeitsriten und -zeremonien sind bei den anderen Twareggruppen gleichen sozialen Standes sehr ähnlich und werden – vor allem, wenn es sich um die erste Eheschlie-ßung der betreffenden Partner handelt – streng eingehalten. Im Folgenden soll das Hochzeits-Hauptzeremoniell, welches auf einem komplexen Synkretismus berberischer, islamischer und sudanesischer Tradition beruht, in möglichst kurzer Form beschrieben werden. Almogaren 50 Wien 2019 83 - 105 84MMALMOGAREN 50/2019 1. Ablauf des ersten Festtages Vormittag: Gesang der Frauen im aliwen-Rhythmus (2) Im Ahaggar findet das Hochzeitszeremoniell fast immer innerhalb dersel-ben sozialen Gruppe im Lager der Brautfamilie statt. Schon am Vormittag des ersten Hochzeitstages begeben sich die Frauen des Lagers/Dorfes und der am Morgen oder bereits am Vortag eingetroffenen Familien zur Braut. Man trinkt Tee, stimmt Lieder im aliwen-Rhythmus an und beteiligt sich an der gemein-samen Zubereitung der Speisen. Diese Verbindlichkeit führt zu einer festen Stabilität innerhalb der Gemeinschaft, die auf dem aktiven Einsatz sämtlicher Mitglieder beruht: "Niemand soll fehlen, selbst der Kranke nicht." (Liedtext 1) Für die Frauen ist es nahezu eine Verpflichtung, den Familien des Brautpaa-res Dienstleistungen zu bringen, statt einen Beitrag materieller Art zu liefern: "Frauen, seid bereit, auch wenn ihr nichts habt, wenn die Reihe an euch ist, wird jeder geholfen, ohne zu fragen." (Liedtext 2) Bei der als Verpflichtung geltenden Teilnahme soll gute Laune vorrangig sein: "Jener, der ankommt und kein Wort spricht, dessen Auftritt ist nichts wert; er hat nur die Beschmutzung seiner Kleider erreicht." (Liedtext 3) An diesem Vormittag versucht man das Alltagsleben immer mehr durch eine feierliche Atmosphäre zu ersetzen. Jede Vorbereitungsphase beginnt mit aliwen-Gesängen, zu denen da und dort von den jungen Burschen und Mäd-chen des Lagers kollektiv vorgetragene tinde-Lieder erklingen (s. 3 c). Früher begaben sich die Frauen mit ihren Geigen und Trommeln zur Braut (Benhazera 1908: 15), was bedeutet, dass außer den aliwen-Gesängen auch die imzad ge-spielt wurde. Nachmittag: Kamelparade der Männer Den spektakulären Höhepunkt der Hochzeitsfeierlichkeiten bilden paradie-rende Kamelrennen. Ihre Teilnahme ist für die jungen Männer das wichtigste Gebot, an dem sie von den aliwen-Sängerinnen auf eine Art erinnert werden, die bereits an Drohung grenzt: "Wenn ein gut dressiertes Kamel nicht angelaufen kommt auf dieser ebenen Fläche (tesawelt), soll es verflucht sein. Sein Eigentümer soll es nie wieder finden." (Liedtext 4) Eine Kamelparade wird iludjan genannt (4) und findet entweder in der Mitte eines breiten Oued oder auf einem flachen Areal in der Nähe des Lagers statt. Zahlreiche Zuseher finden sich ein, während die Frauen, gehüllt in ihre schwar- ALMOGAREN 50/2019MM85 zen oder indigoblauen Gewänder, sich in kleinen Gruppen ins Zentrum des Paradeplatzes begeben. Unterwegs mahnen sie ihre Gefährtinnen mit Gesang zur Eile, da die in mehreren Etappen sich abspielenden Reiterspiele zwangs-läufig vor Sonnenuntergang ihr Ende nehmen: "Der Nachmittag ist fortgeschritten, das gefällt mir nicht, die Nacht rückt heran und der Ort des Treffens ist noch weit; es ist am Ende des Nachmittags (tadeggat), der Tag ist kühl geworden, ihr habt geschlafen bis der Schatten länger wurde, beschleunigt euer Gehen. Wenn ihr den Platz erreicht, könnt ihr euch hinsetzen, ihr seid wie Schafe, so zu dösen." (Liedtext 5) Sind alle Frauen angekommen, drängen sie sich eng sitzend kreisförmig zusammen. Einige beginnen unter Trommelbegleitung im Turnus zu singen, andere klatschen skandierend mit den Händen und wiederholen im Chor die Phrasen der Solistinnen (s. 3c). Nun ist der Zeitpunkt gekommen, wo tief ver-schleierte und in ihre Festgewänder gehüllte Männer auf ihren besten und schönsten Kamelen (meist Stuten) in einem langsamen Trippelgang (terhedeyt) zu paradieren beginnen. Bald darauf steigern sie den Lauf der Tiere und krei-sen in Trupps zu zweien oder dreien dichter und dichter an die Frauen heran, die ihrerseits die Reiter mit hellen Trillerrufen (terhelelit) und Trommelschlä-gen anfeuern. Staub wirbelt auf und die langen Beine der Kamele scheinen die hockenden Gestalten zu zertreten. Ein fester Druck mit dem nackten Fuß auf den Hals des Tieres, ein Schnalzen mit der Peitsche (alekkod) und die Reiter stürmen ganz knapp vor ihnen vorbei. Lachen und Getuschel bei den Frauen, die anerkennende Blicke auf die jungen Männer werfen, die ihre Tie-re nun im langsamen Trab (regiregi) gehen lassen, bevor sie mit ihnen ein neues Kreisrennen starten. Obligatorisch endet das "Kamelkarussel" vor Son-nenuntergang durch einen opportunen Lauf aller anwesenden Kamelreiter. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wohnte der Bräutigam nur als regloser und schweigender Zuseher dem iludjan bei: "Er besteigt ein weißes Kamel und trägt die Prunkhaube (takumbut), sil-berne Amulette, drei weite Tuniken (tikemsin) und sechs um den Hals ge-kreuzte Seidenschnüre (ar.: elmedjuden). Er hält eine Eisenlanze (allarh) in seiner Hand und hat an der Seite einen Schild (arher) und ein fransenbehängtes Lederfutteral (egerwey) hängen. Den Mund und seine Augen hat er sich mit einem wie glimmendes Holzstück glänzenden Gesichtsschleier aus Indigo-stoff (tadjulmust) verhüllt." (T.T.P. 1984: 91f.) Heutzutage entzieht sich der künftige Ehemann den Blicken der anwesen-den Gäste und beobachtet den iludjan nur von Weitem oder er hält sich in 86MMALMOGAREN 50/2019 einem der Zelte auf, mit denen seine Verwandtschaft angereist ist. Auch die Braut bleibt der Kamelparade fern und verbringt die Zeit im Zelt ihrer Eltern oder eines ihrer Verwandten mütterlicherseits. Noch vor kurzer Zeit geschah es, dass sie an diesem Nachmittag wegging, um irgendwo abseits des Lagers Ziegen zu hüten, damit keiner der Männer sie sehen konnte. Gegen Sonnenuntergang: a) Eheschließung durch einen Gesandten des Bräutigams und einer Beauftragten der Braut, die in ihren Namen handeln Gewöhnlich werden dafür nahe Verwandte des Brautpaares bestimmt, die im Beisein eines als offiziellen Zeugen fungierenden Korangelehrten (aneslem) und unter Ausschluss sämtlicher Frauen ihre Entscheidung über die schon zuvor beschlossene Brautgabe (taggalt) bekunden. Die Höhe der vom künftigen Ehemann für seine Frau aufgebrachte taggalt richtet sich nach deren sozialem Stand und darf zur Erhaltung ihres gesellschaftlichen Pres-tiges im Wert nicht geringer sein als seinerzeit ihre Mutter erhalten hat. An-fang des 20. Jahrhunderts war die Brautgabe mit bis zu sieben Kamelstuten für eine adlige Frau und mit nur einer Kamelstute für eine Frau einfachen Standes fixiert. Für eine Dag-Rhali-Frau sind allerdings zwei Kamelstuten und manchmal auch noch zwei Silberarmbänder vorgesehen. Dies zeigt deut-lich, dass die Frauen der Dag-Rhali in den Genuss einer höheren taggalt kom-men als andere weibliche Mitglieder desselben sozialen Standes (5). Ist es dem Pflichtigen nicht möglich, die Brautgabe in Kamelen zu entrichten, wird anstelle eines Kamels eine gewisse Anzahl Ziegen (bis zu dreißig) gegeben; Esel sind von der taggalt ausgeschlossen. Es kommt vor, dass auf Wunsch der Brauteltern die Tiere vorgeführt werden müssen. Finden sie Gefallen, gilt die Sache als abgemacht, wenn nicht, wird ein Austausch von einzelnen oder auch allen Tieren verlangt. Dies geschieht dann, wenn die Vertreter des Lagers der Braut die Tiere als zu alt bewerten. Das bevorzugte Alter bei den als Braut-gabe vorgesehenen Kamelstuten liegt zwischen zwei und drei Jahren, d.h. bevor sie ins Dressuralter kommen. Heute besteht die Brautgabe immer häu-figer aus einem Geldbetrag in bar, der sich meist an das alte System anlehnt und den einstigen Kamel- oder Ziegenpreis berücksichtigt. Herrscht Einigkeit über die taggalt, wird über ihre Übergabe verhandelt. Gewöhnlich kann sie in mehreren Raten nach der Hochzeit erfolgen, soll aber noch vor der Geburt des ersten Kindes aus der mit dieser Brautgabe geschlos-senen Ehe stattfinden. Auch muss sie zur Gänze abgeschlossen sein, bevor eine eventuelle Scheidung der Ehepartner erfolgt. Die gemäß der taggalt ent-richteten Tiere werden in die Obhut des Brautvaters (wenn nicht vorhanden, dem Vater-Bruder oder dem älteren Bruder) übergeben, bleiben aber rechtli- ALMOGAREN 50/2019MM87 ches und tatsächliches Eigentum der jungen Ehefrau, über das sie allein nach Belieben verfügen kann. Es wäre eine für die Frau entehrende Tat, wenn ein oder mehrere patrilineare Verwandte die taggalt für sich gebrauchen würden. Um eine solche extreme Handlung zu begehen, muss man schon sehr arm sein. Was die von der Brautfamilie zu entrichtende Aussteuer betrifft, s. Anm. 6. Die letzten Verhandlungspunkte betreffen das Tieropfer (7) und die Ver-köstigung der gesamten Hochzeitsgesellschaft. Ist man sich auch darüber ei-nig geworden, verkündet der aneslem vor den anwesenden Familienmitglie-dern die "Eheschließung" der beiden Fast-Eheleute, wobei es sich um eine Scheintrauungszeremonie handelt: Einer der anwesenden Schmiede ruft laut: "Allahu akbar!", Männer rezi-tieren die erste Sure des Korans (al-fatiha), um damit den Segen Allahs für die Neuvermählten zu erflehen, während die abseits des Versammlungsplatzes sich aufhaltenden Frauen gellende terhelelit-Rufe ausstoßen und Lieder über das taggalt-System singen, z.B.: "Die Tochter von Sidi, derentwegen ich in Verhandlung bin [über die Brautgabe], ich trage zusammen, was ich brauche, um sie zu heiraten. Wenn meine Verwandten (imerewen) mir ihre Hilfe leihen, wird sie in das gelbe Land* kommen, wo ihr Lager sein wird." (F. Poésies 290: 1-4) [* Name eines Teilgebietes im Atakor, Ahaggargebirge] Inzwischen erhalten die an der Verhandlung beteiligten Personen zerstoße-ne Datteln und Buttermilch serviert. Die Konsumation dieser beiden symbo-lischen Gerichte, die Rezitation der Fatiha und die Verkündigung des göttli-chen Segens (albaraka) durch den aneslem an die versammelte Gemeinschaft (doch unter Ausschluss von Braut und Bräutigam) sind die Zeichen, welche die eheliche Verbindung anerkennen und weihen, und die damit letztlich ab-geschlossen ist. Spät am Abend folgt für alle Anwesenden ein üppiges Mahl. Es ist dies einer der seltenen Anlässe, bei denen Twareg Fleisch essen – und das oft in großen Mengen! b) Errichtung des ersten zeremoniellen Sandhügels und des Hochzeitszeltes darüber Wenn alle gesättigt sind, begeben sich einige mit dem Bräutigam verwand-te Frauen zum Hochzeitsplatz und graben dort mit Hilfe von Topfscherben oder mit bloßen Händen den Boden auf, um einen niedrigen Sandhügel (adbel) zu errichten. Dieser muss gerade groß genug sein, dass darauf zwei Menschen sitzen können. Bis dahin wird unter lauten Beifallsrufen und schrillem Ge-schrei eine lederne Zeltdachplane (8) herbeigebracht. Frauen schlagen mit gelenkigen Fingern einen eindringlichen Rhythmus auf dem zweifelligen 88MMALMOGAREN 50/2019 Tamburin (ganga) oder auf der einfelligen Tontrommel (abeqqa oder aqellal). Ist die Plane angekommen, legt sich eine Frau – meist die Schwester oder die Kreuzkusine der Braut – auf den fertig errichteten Sandhügel und hält in je-der Hand eine lange, hölzerne Bogenstange fest (9). Zwei Männer nehmen zu beiden Seiten des Hügels Aufstellung und werfen die noch zusammengefalte-te Plane gemeinsam dreimal (Autoren sprechen auch von siebenmal) hin und her. Dabei rufen sie: "sawela yawlit", Worte, deren Bedeutung nicht mehr ge-läufig ist (awl: drehen, die Richtung ändern). Anschließend wird das Hochzeitszelt über dem Sandhügel aufgebaut. In der Regel sucht man sich für das Gerüst einfache Stangen im Gelände. Häufig sind es gerade gewachsene Stämme oder Hauptäste des turha-Strauches (Calotropis procera), auf welche die Lederplane gelegt und straff gespannt wird. Daraufhin erhebt sich die auf dem Sandhügel liegende Frau und hilft mit, den unteren Saum des Zeltdaches mittels Sand und Steinen am Boden festzuhalten. Zuletzt wird noch eine mehr-farbige Wolldecke (ahwar) auf den Sandhügel gebreitet. "Ein Zelt knüpfen", d.h. aufstellen, herrichten (durch Helfer im Rahmen der Hochzeitszeremonie) heißt ekres ehen und ist gleichbedeutend mit "eine Hochzeit machen, heiraten". Diese Synonymie zeigt, wie sehr das Zelt (ehen) eine zentrale Rolle im Hochzeitsritual spielt. Das Zelt ist aber nicht nur die traditionelle Behausung der Twareg, sondern auch ein Schutzort gegen die "Welt draußen", der sie als Jugendliche nach dem Verlassen des Mutterzeltes ausgeliefert waren und die sie schutzlos gegen die Kel-esuf durchqueren mussten. Das Wort ehen bedeutet im übertragenen Sinn auch Ehefrau, da sie die Besitzerin des Zeltes ist, welches das Paar nach ihrer Hochzeit beschützen wird. Es soll an dieser Stelle nochmals erwähnt werden, dass am ersten Abend das sog. Hochzeitszelt nicht mit einem Wohnzelt identisch ist. Es wird nur sehr notdürftig aufgestellt, und die einfachen Holzstangen gleichen nicht den dekorierten Pfosten, welche am nächsten Tag verwendet werden. Außerdem wird das einfache Hochzeitszelt bereits am nächsten Vormittag wieder abge-schlagen. Folglich stellt es bloß das Imitat des am zweiten Hochzeitstag er-richteten großen Zeltes dar. Etwa drei Stunden nach Sonnenuntergang zu der azuzedj genannten Zeit: Erste Zusammenführung des Brautpaares (symbolische Scheinehe) a) Das Gefolge des Bräutigams Der fast vollkommen verschleierte Bräutigam – die tadjulmust gibt gerade einen schmalen Spalt für die Augen frei – verlässt das Zelt seiner Verwandten mit einer Gruppe junger Männer, die ihn aufmerksam vor jedem Kontakt ab-sichern. Mit extrem langsamen Schritten und unter Rezitation von Koranversen ALMOGAREN 50/2019MM89 – heute meist unter der Psalmodie des religiösen Gedichtes el-burda (10) – begibt sich das Gefolge zum Hochzeitszelt und geht dreimal nach rechts um dieses herum. Anschließend begleitet einer der Männer, meist ein Verwandter oder enger Freund, den Bräutigam in das Zelt, wo dieser auf dem zuvor er-richteten Sandhügel Platz nimmt. Sein Begleiter setzt sich rechts vom Ein-gang auf den Boden, während sich die anderen Männer rund um das Zelt plat-zieren. Sie rezitieren die Fatiha, den Grundstein aller muslimischen Gebete, und warten auf die Ankunft des Brautgefolges. Richtet einer der Männer das Wort an den künftigen Ehemann, antwortet dieser nur ganz leise mit kaum hörbarer Stimme. b) Das Gefolge der Braut Etwas später, zur Zeit der vollen Nacht, wird die Braut von jungen Frauen abgeholt, in die Mitte des fürsorglichen Zuges genommen und in einer sehr langsamen Prozession zum Hochzeitszelt geführt. Nur mit winzigen Schritten geht es vorwärts, ein Gehrhythmus, der sich sehr von dem des nächsten Tages unterscheidet. Die Braut hat nur gewöhnliche Alltagskleider angelegt, ist nicht geschminkt und trägt keinen Schmuck; ihr Kopf ist durch ein einfaches Gewandtuch namens afer verhüllt. Dieser bescheidene Auftritt ist ein an den Bräutigam gerichteter Hinweis, seine künftige Frau wegen ihrer offenen We-sensart und ohne Hinzufügung irgendwelcher Kunstmittel (Schmuck, Schmin-ke etc.) zu begehren. Die Frauen des Geleitschutzes singen Lieder im tare- Rhythmus (11) und schwenken Räuchergefäße, in denen vorwiegend Benzoe-säure- hältiges Harz bestimmter Styraxbäume verbrannnt wird. Der entströ-mende Räucherstoff soll die spirituellen Wesen, die Kel-esuf, vertreiben und sie an eventuellen Handlungen hindern. Es ist die Sorge um den Schutz der künftigen Eheleute, welche auch die jeweilige Eskorte veranlasst, die Braut oder den Bräutigam in der Mitte gehen zu lassen. In gleichem Maße hat die Kopf- und Gesichtsverschleierung der beiden Brautleute eine primäre Schutz-funktion gegen die drohende Intervention der Kel-esuf während des Hochzeits-zeremoniells. Es sind vor allem die Haare, die eine beliebte Beute der Geist-wesen sind und deshalb verhüllt werden müssen. c) Die Sandalengabe Unterwegs wird das weibliche Gefolge von einer Gruppe junger Männer aufgehalten, die den Weg versperrt und laut ein Paar Sandalen (irhatimen) vom Agadez-Typ verlangt. Diese zu respektierende Forderung hat den Zweck, eine Opposition gegen die geplante Eheschließung zu symbolisieren. Der jun-gen Braut den Weg zu blockieren bedeutet auch, sich ihrer Hochzeit zu wider-setzen. Es folgt eine mehr oder weniger heftige Scheinauseinandersetzung, 90MMALMOGAREN 50/2019 bis schließlich ein vom Bräutigam bestimmter Gefolgsmann ein (manchmal sogar zwei) Paar der geforderten irhatimen einem der jungen Leute übergibt. Letzterer wird nicht zufällig ausgewählt, sondern ist in den meisten Fällen der väterliche Kreuzvetter der Braut. Erst wenn die Übergabe der Sandalen stattgefunden hat und deren Qualität von allen Beteiligten, auch seitens der Frauen, als ausreichend gut befunden wurde, wird die Blockade aufgehoben und der Weg wieder freigegeben. Die Sandalengabe ist ein unerlässlicher Bestandteil des Hochzeitszeremoniells: Sie stellt eine effektive Entschädigung des jungen Mannes an den Kreuzvetter dar, eine Frau zu heiraten, die nicht seine Kreuzkusine ist. Denn gemäß der Tradition hätte der Kreuzvetter die Priorität für die Eheschließung mit der Tochter des Onkels mütterlicherseits. Dieses privilegierte Verhältnis zwischen Braut und Kreuzvetter kommt auch im Lied 13: 4-7 zum Ausdruck, das nach dem Sandalengeschenk von den Frau-en gesungen wird (s. im Anschluss). In einem anderen Liedstück, in welchem die Mutter der Braut als Sängerin auftritt, wird der Aufbruch des Gefolges als Trennung von jenem Strick (tamdit) dargestellt, der die Braut an die Familie band: "Ich habe den Strick des Fohlens gelöst, das bei mir geboren wurde." (Liedtext 14: 15-16) d) Die Gegenüberstellung von Männern und Frauen vor dem Hochzeitszelt Nach dem formellen und öffentlichen Akt der Sandalengabe zieht der Zug singend bis zum Hochzeitszelt weiter, wo eine verbale Konfrontation zwischen dem weiblichen und dem männlichen Gefolge des Brautpaares stattfindet. In alten Zeiten lautete diese zwischen Frauen und Männern im Chor gesungene Auseinandersetzung folgend: nelluz wir haben Hunger atekshimet ihr werdet essen nerhlut wir sind nackt atelsimet ihr werdet bekleidet nerjih wir sind zu Fuß atarhermet ihr werdet reiten Anschließend wenden sich die Braut und die Frauen an den Bräutigam und singen die beiden folgenden Verse: "Ich will keine Hirse [getragen] von jungen Kamelen (isakan), ich bevorzuge Hirse [getragen] von starken und robusten Kamelen (ifudan)." [Vgl. dazu Liedtext 14: 20-21] Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, dass sie von ihrem Ehemann die Taten eines starken und mutigen Mannes erwartet und nicht ein kindli-ches Benehmen (Benhazera 1908: 17). ALMOGAREN 50/2019MM91 Nach dem rituellen Oratorium schreitet der Zug mit der Braut dreimal nach links um das Zelt herum, wobei die Frauen mit verstärkter Intensität ihre Räuchergefäße hin und her schwenken. Eine Verwandte oder enge Freundin führt die Braut in das Zelt und lässt sie auf dem Sandhügel neben dem Bräu-tigam Platz nehmen. Alle Begleiter verlassen jetzt das Zelt, als letzte die en-gen Freunde des Paares. Dieses sitzt mit tief verschleiertem Gesicht Rücken an Rücken und verharrt in dieser Position mehrere Stunden, meist ohne ein Wort zu wechseln; wenn doch, so ist es vorwiegend der Bräutigam, der als erster das Wort ergreift. In dieser Nacht kommt es zu keinem ehelichen Bei-sammensein der beiden. Um dies zu rechtfertigen, beruft man sich auf den Verhaltenskodex: Die Braut muss sich erst an die Gegenwart ihres künftigen Ehemannes gewöhnen, um sich nicht ängstigen zu müssen. Eine alte Regel sagt: "In der ersten Nacht ist die Frau deine Schwester, in der zweiten deine Mutter, in der dritten deine Schwiegermutter und erst in der vierten wird sie deine Ehefrau." e) Weitere Ritualelemente A. Wenn die Braut in das Hochzeitszelt geführt wird, kann es vorkommen, dass ihr mehrere Frauen folgen, die sich dicht hinter ihr drängen. Sie streiten laut mit den dazwischenschreitenden Männern aus dem Gefolge des Bräuti-gams und versuchen, dessen Turban und sogar seine Nase zu berühren. Die-ses Vorhaben wird jedoch in den meisten Fällen durch die ihn schützenden Freunde, die laute Warnrufe ausstoßen, vereitelt. Anschließend werden außer-halb des Hochzeitszeltes Lieder zur Ehre der Brautleute gesungen; die Mutter der Braut kommentiert: "Mein kleines Goldstück [= die Braut] will ich euch geben." (Liedtext 13: 10) Frauen richten Empfehlungen an den Bräutigam und singen ein Loblied auf die künftige Ehefrau: "Ich preise dich, oh Jemrha, du mit einem Antlitz so glatt wie eine Kiesel-fläche (adjriwal). Kein Mann kann zu ihr gehen außer jener mit überragenden Eigenschaften. Derjenige, der dir den richtigen Weg zeigen will und ihm nicht selbst folgt, hat keinen Verstand; er vergisst seine eigenen Fehler und befasst sich mit dem, was ihn nichts angeht." (Liedtext 6) B. Zwischen den Kreuzvettern und Kreuzkusinen besteht bis zur Hochzeit eine institutionalisierte Scherzbeziehung (tehandezzit), die u.a. ihren Ausdruck in der absichtlichen Übertretung oder Nichtbeachtung der sonst zu respektie-renden sozialen Gebote und Normen findet. Das bedeutet, dass sie sich ge-genseitig hänseln und verspotten, sexuelle Anspielungen machen und provo- 92MMALMOGAREN 50/2019 zierende Reden halten; sogar das Zerren am Gesichtsschleier in der Öffent-lichkeit ist üblich. Solche Dreistigkeiten ziehen immer Vergeltungen nach sich, die zu Scheinkämpfen (ar.: tebbillanin, sg. tebbillant) führen können und bei gegebenem Anlass rund um das Hochzeitszelt ausgetragen werden. C. Nach der ersten Zusammenführung des Brautpaares erfolgt eine erneute Trennung. Bräutigam und Braut verlassen das Zelt, um zu ihren jeweils in entgegengesetzter Richtung vom Hochzeitsplatz gelegenen Wohnstätten zu-rückzukehren. Es kann auch geschehen, dass der Bräutigam im Hochzeitszelt bleibt und auf dem Sandhügel schläft und nur die Braut zu ihren Eltern zu-rückgebracht wird. Alle anderen Personen treffen sich für den weiteren Ver-lauf der Festlichkeiten an einem abseits von den Behausungen liegenden Ort, der genügend Teilnehmer aufnehmen kann. Dort kommt es oft zur Auffüh-rung eines tazenrheriht genannten Tanzes, der einst den schwarzen Sklaven (iklan) vorbehalten war, aber seit geraumer Zeit auch bei den Dag-Rhali Ein-gang gefunden hat (12). Der nächtliche Tanz wird ohne Instrumente ausgeübt und nur von Gesang, Händeklatschen und gutturalen Brust-Kehllauten der Männer begleitet. 2. Ablauf des zweiten Festtages Am zweiten Tag der Hochzeit wird das ganze Zeremoniell des Vortages auf noch grandiosere Art wiederholt, denn dieser zweite Tag, an dessen Ende die Brautleute ihre erste Nacht im neuen Hochzeitszelt verbringen werden, wird als der eigentliche Hochzeitstag angesehen. Vormittag: a) Abschlagen des alten und Aufbau des neuen Hochzeitszeltes Diese rituelle Handlung wird von einer Gruppe von Frauen durchgeführt, die das alte Hochzeitszelt abschlagen und unweit davon ganz korrekt ein neues Zelt aufbauen. Die Zahl der dafür verwendeten Stütz-, Halte- und Spann-pfosten sowie der Quer- und Bogenstangen hängt von der jeweiligen hölzer-nen Tragkonstruktion des Zeltes ab. Die Größe des neuen Zeltes, die Reich-haltigkeit des Zierrats und das notwendige Zubehör (13) sollen Zeichen für den hohen Stellenwert sein, den man der Hochzeit zuschreibt. In seinem Inne-ren wird ein langer, flacher Sandhügel namens tuf(a)-adbel (wörtl.: "er ist besser als der [erste] adbel-Hügel") errichtet und mit bunten Wolldecken be-legt. Den Hügel des Vortages rührt niemand mehr an, man lässt ihn vom Win-de verwehen. Der Aufbau des neuen Hochzeitszeltes und die Errichtung des zweiten Sand-hügels wird in einem aliwen-Gesang durch die Schwester des Bräutigams zum Ausdruck gebracht: ALMOGAREN 50/2019MM93 "Ich möchte, dass die Hochzeit meines Bruders erfolgreich verläuft. Man wird hohe Pfosten (idjetten) einsetzen, man wird darüber eine gegerbte Ziegenhaut (ar.: herki) spannen, man wird sie mit Seide (ar.: elherir) und herki schmücken, man wird ihm ein Bett (tadabut) mit Decken (ihwaren) bereiten." (Liedtext 7) b) Besuch bei der Braut, Gesang der Frauen im aliwen-Rhythmus Während des Vormittags besuchen die im Lager anwesenden Frauen die Braut und helfen ihr, sich für die Feierlichkeit vorzubereiten. Man trinkt Tee und beginnt wieder mit Gesängen, in welchen gezielt die Frau als aktives Ele-ment dargestellt wird: "Heute (gibt es) keine andere Beschäftigung außer dem Flechten der Haare und dem Henna auf den Fingern oder ihre Frisur zu vervollkommnen." (Liedtext 8) Die Braut muss nun ihre schönsten Kleider und all ihren Schmuck anlegen; ist es doch sie, welche jetzt den Ehemann "ergreift". "Die von ihr vollbrachte Großtat war keiner Frau gelungen. Sie hat den Spross (ara) der Stute 'gefangen'*, den, der stolz schreitet." (Liedtext 9) [* Wörtlich: ermes "ergreifen, fangen"; p.ext. "nehmen"] "Sie hat den Spross (ara) 'gefangen', der sich im Sattel zu halten weiß, der fähig ist, Pferde im Galopp zu reiten, der fähig ist, ein Kamel im Trab zu reiten, der die Jubellaute (tirhelela) und Lobpreisungen (timulawin) verdient und die Gebete, welche Gott erhört." (Liedtext 10) c) Gegen Ende des Vormittags Der festlich gekleidete und fast völlig verschleierte Bräutigam begibt sich in Begleitung einer Gruppe von Männern, meist Verwandte und Freunde aus der gleichen Generation, zu dem neuen Zelt. Dieses Mal wird er nicht von ihnen eskortiert, sondern geht an der Spitze des Zuges. Er betritt selbstsicher das Zelt und setzt sich auf den für ihn bestimmten Teil des Sandhügels. Seine Begleiter versammeln sich schweigend um ihn; auch er vermeidet es zu spre-chen, und wenn, dann nur mit leiser Stimme. Nachmittag: Zweite Zusammenführung des Brautpaares (endgültige Eheschließung) Ist die tarut genannte Mittagszeit vorbei, veranstalten die männlichen Hochzeitsgäste eine Reiterparade vor dem Hochzeitszelt, so dass diese gut vom Bräutigam beobachtet werden kann. Noch bevor der iludjan endet, schrei-tet die Braut mit ihren Begleiterinnen zu dem für sie und ihren künftigen 94MMALMOGAREN 50/2019 Ehemann hergerichteten Zelt. Unterwegs wird der Zug von einer Gruppe ehe-maliger Sklaven aufgehalten, die laut Nadeln verlangen (14). Erst wenn diese Forderung erfüllt ist, können die Frauen ihren Weg fortsetzen. Beim Zelt an-gelangt, nimmt die Braut an der Seite des Bräutigams auf dem niedrigen Sand-hügel Platz, während die schon anwesenden Männer die Frauen mit Parfüm aus kleinen Flaschen besprengen. Wurde am ersten Abend versucht, die Kel-esuf mittels Räucherstoffen fernzuhalten, sind es am zweiten Tag Parfüms, die nun als Stimulans mit großer aphrodisischer Wirkung versprüht werden. Der Unterschied zwischen dem ersten und zweiten Tag der Hochzeit kommt aber nicht nur im differenzierten Gebrauch von Räucherstoff und Parfüm zum Ausdruck, sondern auch im Gegensatz von Tag und Nacht: Findet die Prozes-sion des Brautpaares am ersten Tag in der Nacht statt, so wird sie am zweiten Tag bei hellem Sonnenlicht abgehalten. So scheint der erste Tag – der zwar das Ritual einleitet, aber es in manchen Punkten zweitrangig werden lässt – sowohl eine obligatorische Etappe wie auch ein Gegenstück zum zweiten Tag zu sein, der durch den Vollzug der tatsächlichen Eheschließung des Paares gekennzeichnet ist. Vor dem Hochzeitszelt singen, trommeln (und tanzen) die Hochzeitsgäste die ganze Nacht. Erst gegen Morgen löst sich die Gemeinschaft auf, um all-mählich in ihre Lager zurückzukehren. Für sie ist damit die Hochzeit zu Ende. Das neu vermählte Paar bleibt hingegen allein im Zelt zurück, wo es bis zum siebten Tag verweilt, bevor auch sie es verlassen. Die nach der Eheschließung gültige Residenzfrage ist von Gruppe zu Grup-pe verschieden. Für die Dag-Rhali schreibt Pandolfi (1998: 328): "Tatsächlich halten die neuen Eheleute zuerst eine Periode von zwei Wohnsitzen ein und bleiben eine gewisse Zeit in den Lagern ihrer Eltern." Bei der Frau kann das mindestens einige Monate, wenn nicht zwei oder mehr Jahre dauern. In dieser Zeit ist der Ehemann oft als Gast bei den Schwiegereltern. Aber diese Periode endet mit der Trennung der Frau vom Haushalt des Vaters und dem Aufbruch in das Lager des Ehemanns, das oft durch eine Gemeinschaft mit seinen El-tern gebildet wird. Dieser Akt heißt azalay (von ezly, "trennen") und wird von einem Fest begleitet. Auch wenn der Effekt verschieden ist, so ist diese feier-liche Veranstaltung für die Eheleute ebenso wichtig wie die Hochzeit selbst. Die Liedtexte nach Mécheri-Saada, 1994: 1: aliwen I, 71.54: 4 2: aliwen I, 71.54: 11-12 3: aliwen IV, 82.10: 4-6 4: aliwen IV, hors annexe: 1-3 5: aliwen IV, 71.58: 35-41 ALMOGAREN 50/2019MM95 6: aliwen I, 71.61: 6-9 7: aliwen IV, 82.11: 11,18-19,22-23 8: aliwen IV, 82.10: 1-3 9: aliwen IV, 71.58: 30-31 10:aliwen IV, hors annexe: 1-5 11:tinde 80.39: 1-2 12:tinde 81.35: 1-2 Die Liedtexte nach Foucauld, 1930: 13:aliwen no. 515: 1-19 14:tare no. 516: 1-22 Lied 13 im aliwen-Rhythmus (Foucauld, Poesie no. 515) Chor des weiblichen Brautgefolges (gesungen von allen Frauen gemeinsam): 1 Als diese Hochzeit beschlossen wurde, geschah es gegen den Willen vieler (a); 2 seit darüber gesprochen wird, wächst [auf beiden Seiten] die Eifersucht, 3 die Frauen sind eifersüchtig, die Männer störrisch. 4 Ich bin berechtigt zu sagen: seit er geboren ist und ich existiere, 5 gibt mir mein Kreuzvetter (ababah) die Zügel für alles, was ich wünsche. 6 Meine Freundinnen, ich wünsche jeder von euch einen meiner Verwandten als Ehemann; 7 ich habe zehn Finger (b), ich ziehe zwei von ihnen den acht anderen vor. 8 Diese Hochzeit ist ein Ort, wo Wasser sickert, meine Tochter hat eine Was-serstelle gewählt (c); 9 das sind keine Prahlereien (iberadjen) und kein Vorwand für Entgegnun-gen. 10Mein kleines Goldstück will ich euch geben (d); 11wenn ihr wollt, wägt sie ab [wie Gold], wenn ihr wollt, lasst sie fallen [wie ein wertloses Ding]. 12 Die vergangene Nacht war jene, in der glühende Holzkohlenstücke (timakatin) [in den Herzen der Frauen] gebrannt haben; 13 die Leber (e) der Frauen war den Friedhöfen [dem Tode] nahe. Chor der anderen Frauen (gesungen von einer Solistin): 14 Ich schwöre beim Allerhöchsten (Ameqqar), dass wir nicht nahe den Fried-höfen [dem Tode] waren; 15 wir haben Geduld, die größer ist wie die Berge (tiderrhin). Chor der alten Frauen (gesungen von einer Solistin): 16 Einen jungen Mann (amestelli) zu heiraten, hat nichts Gutes: 17 es gleicht stachelige Zweige zu ehelichen, deren winzige Blätter schon ab 96MMALMOGAREN 50/2019 gefallen sind [und die jetzt nur ihre Stacheln haben]. Chor der Jungen (gesungen von einer Solistin): 18 Eine alte Frau (tamrhart) zu heiraten, gleicht Schilfrohre zu ehelichen 19 oder den mit Ohrringen (f) geschmückten Teufel (Iblis). Erklärung: (a)Weil viele Männer die Braut und viele Frauen den Bräutigam begehren. (b) Gemeint sind zehn ihrer jungen Verwandten. (c) Die Wasserstelle ist der Bräutigam. (d) Das kleine Goldstück ist die Braut. (e) Gemeint sind die Herzen der eifersüchtigen Frauen. (f) Die Ohrringe (zezabit, pl. tizabatin) werden von den Frauen im Ahaggar paarweise getragen und am Ohrläppchen oder häufiger am Haarzopf in Ohren-höhe befestigt. Lied 14 im tare-Rhythmus (Foucauld, Poesie no. 516) 1 Im Namen Gottes (Bismillaten) siebenmal 2 für unsere Tochter, die am Abend (tedwat) aufgebrochen ist [zum Zelt, wo ihr Bräutigam wartet], 3 möge ihr der Name Gottes (Yalla) vorausgehen. 4 Ich werde mich an diesen Tag erinnern: 5 meine Tochter wird [für ihre Hochzeit] bekommen, was ich nicht hatte; 6 ich habe mein Gold verkauft [um sie großzuziehen], ich habe sie genährt; 7 sie macht dem Bruder ihrer Mutter (anet-ma) keine Schande, 8 sie ist der Ruhm (der terherit-Ruf) ihrer Brüder. 9 Deine Brautgabe (taggalt) befindet sich beim Brunnen 10 deine Brüder zeigen sie einander: 11 deine Brautgabe ist ein Kamel mit Blesse (amulas), 12 gefolgt von zehn weiteren Kamelen (imnas). 13 Als der Morgenstern (tatrit ta-n-tufat) rot und strahlend wie ein glimmen-des Holzstück aufging 14 und der anbrechende Tag (ar.: elfeshur) sagte: da bin ich, 15 habe ich den Strick des Fohlens [= die Braut] gelöst, 16 das bei mir [in meinem Zelt] geboren wurde: 17 es brilliert unter seinen Schwestern; 18 ich habe über das Fohlen einen Seidenstoff (ar.: elkherir) gehängt, um ihm Schatten zu geben; 19 ich habe einen Lebensmittelvorrat mit Datteln angelegt. 20 Ich will keine Hirse [getragen] von "Kamelen zwischen zwei Altersstufen" (a), ALMOGAREN 50/2019MM97 21 ich bevorzuge Hirse [getragen] von jungen Kamelen (b), 22 welche [die Frauen] so fett macht, dass ihre Armbänder (ihebdjan) bersten (c). Erklärung: (a)wörtl. ifudan, sg. afuda: etwa siebenjähriges Kamel, d.h. nicht jung, nicht alt, aber noch stark. (b)wörtl. isakan, sg. asaka: Jungkamel, im Ahaggar von zwei bis sechs Jah-ren. (c) Die letzten drei Verse bedeuten: "Ich mag keine alten Männer, ich ziehe junge Männer vor, die kräftig sind." Notabene: Die Übersetzungen behaupten nicht, eine literarische Qualifikati-on zu besitzen. Der Leser möge daher Nachsicht für Transskriptions- und Übersetzungsfehler haben, die sich in diesen Texten finden könnten. Anmerkungen: (1) Als im 18. Jahrhundert unter dem amenokal Sidi ag Mokhammed el Kheir die Vasallenstämme in die drei noblen Stämme des Ahaggar aufgeteilt wurden, das sind die Kel-Rhela, Taytoq und Tedjehe-mellet, kamen die Dag- Rhali mit den Adju en-tehle, Ayt-Loayen und Iklan-en-tawsit zu der Kel-Rhela- Trommelgruppe (ettebel), die innerhalb der drei Bündnisse die wichtigste Position einnahm. Jeder Vasallenstamm, dessen wirtschaftliche Grundlage auf Kleinviehhirtentum beruhte, war in seiner ettebel weisungsgebunden und dem obersten Chef des Stammesverbandes tributpflichtig. Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts fehlte den Vasallen das Recht, eigene Reitkamele zu halten und die symbolischen Waffen der Kriegsaristokratie – Schwert und Ganzmetall-lanze – zu tragen. Heute erlaubt ihnen der für jedermann offenstehende Er-werb von Kamelen, deren Zucht und Handel ihnen Wohlstand garantiert, sich dem Einfluss ihrer Lehensherren zu entziehen. (2) aliwen: "('die Ölbäume'), Name eines poetischen Rhythmus. Sein Ge-brauch ist ausschließlich Versen vorbehalten, die von Frauen bei bestimmten Hochzeitszeremonien gesungen werden... Der aliwen-Rhythmus stammt aus dem Ajjer und ist sehr alt." (F. Dict. III: 1094) Zwischen dem alew, pl. aliwen, genannten Ahaggar-Ölbaum und den zur Debatte stehenden Gesängen glei-chen Namens besteht keine semantische Verbindung, es handelt sich einfach um eine Homonymie. Die aliwen sind ausschließlich Wechselgesänge der Frau-en, die heute nicht nur am Vormittag des ersten Hochzeitstages gesungen werden, sondern zu verschiedenen Abschnitten des Zeremoniells. Oft erfreu-en sich einige dieser Lieder so großer Beliebtheit, dass sie auch während der Arbeit oder bei anderen Zusammenkünften der Frauen angestimmt werden. 98MMALMOGAREN 50/2019 Gelegentlich findet eine Begleitung mit dem zweifelligen Tamburin oder der einfelligen Mörsertrommel statt, die aber allein der Klangfülle dient und nicht die Rolle einer rhythmischen Basis spielt, wie dies in dem musikalischen Genre tinde der Fall ist (s. 3c). Die Existenz der aliwen-Gesänge scheint mindestens bis zu jener Epoche zu reichen, in der die Kel-Ahaggar und die Kel-Ajjer noch unter derselben politischen Autorität standen, d.h. vor der Mitte des 17. Jahrhunderts. (3) Der Begriff tinde bedeutet a) einen Holzmörser, b) eine Mörsertrommel und c) ein musikalisches Zusammentreffen mit Gesang und Trommelbe-gleitung. Im eigentlichen Sinn ist die Vokabel tinde feminin, welche im Laufe der Zeit bei den Twareg maskulin wurde, besonders wenn sie in einer Sprache reden, die nicht die ihre ist, z.B. Arabisch oder Französisch; auch in der Lite-ratur ist dafür das männliche Substantiv üblich geworden. a) tinde: ein mit Standfuß versehener Holzmörser von etwa 40-60 cm Höhe und 30-50 cm Durchmesser. Zu seiner Herstellung wird das schlag- und stoß-feste Stammholz der Acacia albida (ahtes), Sclerocarya birrea (tuwila) oder Commiphora africana (adaras) bevorzugt, im Sahel auch das vom Afrikani-schen Mahagonibaum Khaya senegalensis. Das Holz wird sofort nach dem Schlagen des Baumes verarbeitet, da es trocken verwendet häufig zu Rissen am Fundament und/oder am Öffnungsrand des Mörsers führt. Ist seine Her-stellung beendet, wird er mit Kuhdung bestrichen, um das Austrocknen des frischen Holzes zu verlangsamen, und dann über ein Feuer gehalten, um es gut auszutrocknen. Der Mörser bleibt unverziert und besitzt keine Seitengriffe. Damit Hunde nicht den Öffnungsrand abschlecken können, ist seine häufigste ruhende Position mit der Öffnung gegen den sauberen Boden, meist in der Ecke des Zeltes; ihanan en Muharh lan tinde, "in den Twareg-Zelten befindet sich ein großer Mörser." (T.T.P. 1984: 47) Der tinde ist für eine Familie zum Zerstoßen von Feldfrüchten, Wildgräsern, Datteln etc. unentbehrlich. b) tinde: eine behelfsmäßige Trommel, die durch Bespannen der Mörser-öffnung mit einer enthaarten, gegerbten und spätestens am Tag des Auftritts angefeuchteten (Ziegen-)Haut entsteht. Diese Mörsertrommel wird üblicher-weise von einer auf dem Boden sitzenden Person mit bloßen Händen, mit fla-chen Fingern oder (für einen speziellen Rhythmus) nur mit der Handfläche geschlagen, und zwar auf die Membranmitte des geschlossenen Resonanz-körpers; manchmal sind es zwei Personen, die dann den gleichen Rhythmus spielen. Seit geraumer Zeit wird die hölzerne Mörsertrommel oft durch einen Benzinkanister aus Blech ersetzt. Die Bewohner des Ahaggar nennen diese Metalltrommel djermani, da die ersten als Trommelersatz verwendeten Ka-nister "made in Germany" waren. Sie werden flach auf den Boden gelegt, mit ALMOGAREN 50/2019MM99 den bloßen Händen geschlagen und produzieren einen der Mörsertrommel ähnlichen Ton. (c) tinde: ein musikalisches Genre, das schematisch als Sologesang defi-niert werden kann, der von einem Chor und von einem geschlagenen Rhyth-mus auf der Mörsertrommel (oder dem djermani) begleitet wird. Ein tinde kann sowohl exklusiv von Männern oder Frauen als auch von gemischten Gruppen abgehalten werden. Doch immer gibt es eine/n Vorsänger/in, eine/n Trommler/in – oft ident mit dem/der Vorsänger/in – umringt von einem (ge-mischten) Chor, der den Gesang mit rhythmischem Händeklatschen begleitet. Der Chor kann zwei verschiedene Rollen übernehmen: entweder unterlegt er den Sologesang mit einem vokalen Bordun aus einer oder mehreren unbedeu-tenden Silben, oder er flicht zwischen die Solostimmen eine Art Refrain ein. Bei der Kamelparade der Männer besteht der tinde im Prinzip nur aus einer Gruppe junger Mädchen/Frauen, unter denen sich gelegentlich Sängerinnen befinden, die ihre Lieder selbst komponieren oder aus dem Stehgreif vortra-gen, was besonders geschätzt wird. Sie erfreuen sich eines Rufes, der ihnen einen künstlerischen Status gewährt, vergleichbar mit den alten imzad-Spieler-innen und ihrem männlichen Hof. Beim iludjan findet der Vergnügungs-charakter des tinde seinen vollen Entfaltungsrahmen, wie auch die kollektive Beziehung zwischen Männern und Frauen klar zum Ausdruck kommt. Obwohl tinde-Gesangtexte ebenso zahlreiche wie unterschiedliche Themen behandeln, werden oft an den Beginn Verse gestellt, welche die Form einer Aufforderung zu einer Zusammenkunft oder einen Befehl zum Singen, zum Trommeln oder zum Händeklatschen annehmen: "Wenn der tinde spielt, darf man keine Fragen stellen, abgesehen davon, dass man dort mit seinem Kamel (aredjan) sein muss." (Liedtext 11) "Schlagt die Trommel oder singt im Chor, anderenfalls werde ich auf die Dünen gehen." (Liedtext 12) (4) Foucauld definiert: "elawedj: 'Lauf (in irgendeiner Gangart), unternom-men von einem Standort zu einem wenig entferntliegenden anderen, von ei-nem Mann auf seinem Mehari (oder von Meharisten unbestimmter Zahl) in der Art einer Fantasia.' Die elawedj werden gewöhnlich in einem gemäßigten Trab abgehalten; sie können in allen Gangarten stattfinden; p.ext. der Plural iludjan bezeichnet eine 'Mehari-Fantasia (bestehend aus mehreren aufeinander folgenden elawedj)'. Die iludjan genannte Mehari-Fantasia ist das glanzvoll-ste und feierlichste Vergnügen der Kel-Ahaggar; sie begleitet alle großen Fest-lichkeiten und besonders die Hochzeitsfeiern." (F. Dict. III: 1095) (5) Über die hierarchische Differenzierung schreibt Foucauld: "Im Ahaggar 100MMALMOGAREN 50/2019 gibt der Ehemann seiner Frau bei der Hochzeit eine im voraus festgesetzte Brautgabe, die ihr persönliches Eigentum ist. Über die Brautgabe wird debat-tiert: Sie ist unveränderlich, jeder soziale Rang hat die ihre, die Brautgabe für eine Adlige ersten Ranges (Kel Rhela, Inemba, Tedjehe-mellet, Taytoq) be-trägt sieben Kamelstuten; die für eine Adlige zweiten Ranges (Ihadanaren, Ikadeyen, Ikenbiben, Irheshshumen) beträgt zwei Kamelstuten; die für eine Vasallin beträgt eine Kamelstute." Obiger Text ist eingeflochten in einem um 1880 verfassten Gedicht von Shittu ag Rhabderrakhman, der Boqqa, eine Frau von den Iklan-en-tawsit zu heiraten beabsichtigte, die aber einen anderen vorzog: "Du hast den auserwählt, den du wolltest, das ist gut. Er hat dir [als Brautgabe] ein Kamel von geringer Qualität gegeben, sehr mager, sehr schwach, mit Ödemen an den Knöcheln (terezt), zerfressen von Zecken (tiselfen) und Bremsen (ihebben), mit einem zylindrischen, engen Loch (tedjaynot) im Herzinneren." (F. Poésies 148: 1-5) (6) Bei der Vasallengruppe Dag-Rhali besteht die Brautausstattung aus Dingen, die in einem durchschnittlichen Twareg-Haushalt unabdingbar sind: 1 Zelt (ehen), bestehend aus der Lederplane (ehakit) und dem gesamten Satz Pfosten und Stangen, sowie den Mobiliarstreben und Paravantstützen 2-3 Windschutzmatten (eseber, pl. isebran) 1 eimerartiger Behälter (ahadja) aus Kamel- oder Rindshaut 1 steppdeckenähnliche Plane (aseddekan) 1 gewebte Decke (tabroq), die auch als Wintergewand dient 2-3 Decken üblicher Herstellung 1-2 mehrfarbige Decken/Teppiche (ahwar) 1 (mindestens) Wasserschlauch (abayorh). Dazu kommen noch diverse Kissen (adafor), Stricke, Körbe (tesenit, adabun) und Flechtschalen (teseyt), heutzutage auch industrielle Küchengerä-te (nach Pandolfi 1998: 309, vgl. dazu Nicolaisen 1963: 460). Es ist unschwer zu erkennen, dass diese Gegenstände einen höheren Wert darstellen als die taggalt des Bräutigams. Meist sind die Eltern der Braut nicht in der Lage, alles aus eigenen Mitteln zusammenzutragen, so dass die nähere Verwandtschaft mithelfen muss, den Hausrat der künftigen Ehefrau zu ver-vollständigen. Im Falle der Dag-Rhali, deren Frauen im ganzen Ahaggar als Spezialistinnen für Lederarbeiten bekannt sind, werden verschiedene Objek-te, etwa die Zeltplane, in kollektiver Arbeit hergestellt und die hölzernen Pfos-ten und Stangen bei den Handwerkern (Schmieden) sowie die Windschutz-matten bei den Frauen der Iseqqemaren oder Adjuh en-tehle in Auftrag gege- ALMOGAREN 50/2019MM101 ben. Zu diesen inhärenten Ausgaben kommen noch die Kosten für den Gäste-empfang hinzu, da es fast immer das Lager der Brautfamilie ist, wo die Hoch-zeit stattfindet. Notabene: Mit Ausnahme der Adligen bringt bei den meisten tributpflichti-gen Gruppen die Frau das Wohnzelt in die Ehe ein, welches zeitlebens ihr Eigentum bleibt. Tatsächlich kann im Ahaggar ein unverheirateter Mann kein eigenes Zelt besitzen. Erst durch die Heirat hat er das Recht, diesen exklusi-ven Besitz seiner Frau zu benutzen und darin zu wohnen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass im Hochzeitsritual das Zelt den Mittelpunkt bildet. Kommt es zu einer Ehetrennung, kehrt die geschiedene Frau mit ihrem Zelt und dem gesamten Hausrat in das Lager ihrer Eltern zurück, und der verlas-sene Ehemann steht plötzlich ohne Unterkunft da. Er wird damit gewisser-maßen in den als unerträglich angesehenen Zustand eines pubertierenden Jünglings versetzt, der keine eigene Behausung hat. Diese Situation kann er nur mit einer Wiederheirat beenden. Was die Ehefrau betrifft, so zählt ihre ökonomische Unabhängigkeit zu einem der bedeutendsten Prinzipien der Twareg-Gesellschaft. Ihr neues Familienleben beginnt nicht nur ausgestattet mit einem Zelt und allen notwendigen Haushaltsgegenständen, sondern auch mit eigenen Kleintierherden, Gütern und genügend Hilfspersonal, was ihr gestattet, ein von ihrem Ehemann unabhängiges Leben zu führen. Nicht zuletzt hat diese Eigenart in der Literatur das Bild von der Frau als "Zeltherrin" ge-prägt. (7) Wörtlich tarhtest (erhtes "durch-, abschneiden"; p.ext. "schlachten"): Opfertier(e) des Bräutigams bei der Hochzeit. Foucauld verdeutlicht: "Diese Tiere können ein oder mehrere Kamele, Rinder, Ziegen, Schafe sein; sie wer-den am Hochzeitstag geopfert... Findet eine Hochzeit statt, bringen oft Ver-wandte, Freunde, Nachbarn den Brauteltern Tiere zum Schlachten, um ihnen zu helfen und sich an den Hochzeitskosten zu beteiligen; diese Tiere sind kei-ne tarhtest; nur die vom Bräutigam bereitgestellten Tiere mit der klaren Ab-sicht, dass sie von einem Mann anlässlich seiner Hochzeit geopfert werden sollen, sind tarhtest." (F. Dict. IV: 1792) Die Zahl der Tiere ist entsprechend des sozialen Standes der Braut festgesetzt, doch auf weniger strenge Art als die taggalt. (8) Wörtl. ehakit oder ilemawen, "die Häute". "Die Twareg stellen die Dach-plane des Zeltes, in welchem sie wohnen, mit den Häuten von Mähnenschafen (udaden) und Ziegen (ulli) her... Ein kleines Zelt besteht aus vierzig Häuten, ein mittleres aus sechzig, ein sehr großes zählt um die hundert Häute." (T.T.P. 1984: 43) Die Häute werden bei Bedarf innerhalb der Gruppe oder Verwandt-schaft im Voraus gesammelt, bereitgehalten und durch die Frauen der Lager- 102MMALMOGAREN 50/2019 gemeinschaft unentgeltlich zusammengenäht (und instandgehalten). Die künf-tige Zeltbesitzerin arbeitet dabei nicht mit, sondern bewirtet nur die Helfer-innen. Die einzelnen Häute werden zu Einzelbahnen (tarhda) und diese dann längsseits zur Dachplane aneinandergenäht; fünf Bahnen zu sieben Häuten ergeben im Ahaggar ein schönes, mittelgroßes Zelt (s. F. Dict. I: 249). Schließlich wird die fertige Plane mit einer Schicht aus Butter (udi) und rotem Ocker (tamedjhoyt) imprägniert. Bei dem Ocker handelt es sich um unreines, toniges Eisenoxid, das sich z.B. als Braun- oder Roteisenstein findet und das satte, warme Braunrot der Dachplane ergibt. Die Häute der äußeren Reihen werden nicht beschnitten, da die Hals-, Bein- und Schwanzansätze direkt an die Außenpfosten des aufgebauten Zeltes gebunden werden und die Dach-plane ohne Spannschnüre und Heringe halten. Ebensowenig werden über-schüssige Hautteile und Fäden abgeschnitten, die an der fertigen Plane deko-rative Fransen bilden. (9) "Bei den Kel-Ahaggar wird der Mittelteil der Dachplane entweder von einem einzelnen, geraden Pfosten oder von zwei gleich großen, im Abstand von 1,50 m parallel gesetzten Bögen aus Holz gehalten; der Zeltpfosten heißt tamankayt; jeder der Bögen heißt adjedju." (F. Dict. I: 408) Der bis zu 2,50 m hohe zentrale Stützpfosten trägt ein horizontal aufgesetz-tes Firstbrett und formt damit das charakteristische Kuppelgewölbe von dem im Ahaggar verbreiteten "Normtyp" des Lederzeltes. Hingegen sind die meist rechtwinkelig zur Längsrichtung angeordneten Bögen die Träger einer Konstruktionsart, deren Bauelemente oft mit einzelnen Halbbogenstangen kombiniert werden, die an der Spitze zusammengebunden sind. Zu ihrer Her-stellung dienen besonders die mit Hilfe von Stricken über dem Feuer geboge-nen Wurzeln der bis zu 12 m hohen Baumart Combretum glutinosum (ter-memmeya) sowie von gewissen Akazienarten: tamat, afagag, tazzeyt; die ex-trem langen Wurzeln der Tamarix aphylla (tabarekkat) ergeben Rundbögen aus einem einzigen Stück. Die in der Mitte des Zeltes eingesetzten Bögen sind etwas höher als die auf den Gabelpfosten liegenden Querstangen. (10) Alburda bzw. el-burda (ar.) ist ein aus dem 13. Jahrhundert stammendes Gedicht der sog. Mahdi-Literatur, das sich bei den islamischen Gläubigen großer Beliebtheit erfreut. Es enthält Lebensregeln, die Lobpreisung einer schönen Frau sowie die Huldigung des Propheten und Ehrerweisung des Is-lam. Die zeremonielle Rezitation dieses Gedichtes bzw. einiger auserwählter Verszeilen werden z.B. als Teil des Hochzeitsritus und bei Krankenheilung herangezogen. Bei den Nord-Twareg ist das außerordentlich weit verbreitete el-burda-Thema sowohl als (einzige religiöse) imzad-Melodie wie auch als Hochzeitsgesang der den Bräutigam begleitenden Männer bekannt; es ist so- ALMOGAREN 50/2019MM103 mit ein (rezentes) "männliches" Gegenstück zum traditionellen Gesang der Twaregfrauen. (11) tare: "Name eines poetischen Rhythmus. Sein Gebrauch ist ausschließ-lich Versen vorbehalten, die von Frauen bei bestimmten Hochzeitszeremonien gesungen werden. Die Verse im tare-Rhythmus sind alle sehr alt und stam-men aus dem Ajjer. Die Frauen des Lagers singen am Abend zur azuzedj ge-nannten Zeit im Chor Verse im tare-Rhythmus, wenn sie die Braut zum Hochzeitszelt begleiten, wo ihr Bräutigam wartet." (F. Dict. IV: 1558) (12) Foucauld nennt tazenrheriht "einen Tanz der Neger". Das Wort tazenrheriht ist vom Verb zenrhireh abgeleitet: "aus Leibeskräften mit offe-nem Mund unartikuliert laut schreien; p.ext. muhen, brüllen (Rind)." (F. Dict. III: 1409) Tatsächlich zeichnet sich der Gesang durch die Vielfalt von vokalen Timbres und der oft gutturalen Laute der Chorpartien aus. Die Verse, in de-nen sich die Gefühle der ehemaligen Sklavinnen ausdrücken, enthalten Wör-ter, die zu den südlichen Twareg-Idiomen gehören und dem subsaharischen Ursprung zugrunde liegen. (13) Bei allen Typen des Lederzeltes gehören zwei bis drei Windschutz-matten zur Standardausrüstung. Sie werden aus den harten Halmen der Trockengrasart Panicum turgidum (afezu) von 5-10 m Länge und etwa 1 m Höhe hergestellt. Im oberen Teil der Vorderseite verlaufen fünf horizontale, reich dekorierte Reihen, die ihre geometrischen Muster durch das Einflech-ten schmaler Lederstreifen in die pflanzlichen Halme erhalten; jede der ver-zierten Reihen trägt einen Namen. An der vierten Reihe namens tirhatimin hängt in Abständen von 20-30 cm ein Bündel aus unterschiedlich gefärbten Lederstreifen (meist rot und grün). Die Rückseite der Matte ist entsprechend mit einem Lederfransenbesatz verziert, während die seitlichen Enden und der obere Rand mit einer Ledereinfassung verstärkt sind, so dass die lederne Zeltdachplane von den spitzen Enden der harten Grashalme geschützt bleibt. Die zu den Beispielen der hohen Schule der Twareg-Flechtkunst gehören-den Windschutzmatten werden – ganz ähnlich den kollektiven Arbeitsme-thoden bei der Herstellung der Lederplanen – von mehreren Frauen angefer-tigt. Im Ahaggar sind es die Frauen der Iseqqemaren und Adjuh en-tehle, welche das Geschick für diese langwierige Arbeit entwickelt haben. Die Mat-ten stehen halbkreisförmig im Inneren des Lederzeltes und schützen seine Bewohner vor Wind, Staub und neugierigen Blicken; auch dienen sie als eine Art Einfriedung vor dem Zelt, wo man sich versammelt und Tee trinkt. Sofern sich die Matten nicht unmittelbar an den Zeltpfosten abstützen, werden sie von speziellen, oft mit reichhaltiger Dekorskulptur versehenen Zierbrettern gehalten. Die heute im Inneren von Hütten (ikebran) oder Häusern aufgestell- 104MMALMOGAREN 50/2019 ten Matten haben ihre Zweckmäßigkeit verloren und dienen nur zur reinen Dekoration. (14) Die Übergabe von (Näh-)Nadeln (stenfassen, sg. stenfus) an das Hilfs-personal ist ein zeremonieller Akt im Lebenszyklus einer Dag-Rhali-Frau: Bei den Twareg erhält jedes Mädchen nach der Geschlechtsreife ein ziemlich weit geschnittenes Schulter-Kopftuch namens ekerhey. Zu diesem Anlass fin-det ein Fest statt, bei dem das Mädchen zum ersten Mal dieses Kleidungs-stück trägt, dessen zwei Bahnen unter dem Kinn mit einer Nadel zusammen-gehalten werden. Die versammelten Frauen wählen unter den anwesenden Männern einen aus, der aufgrund seiner Eigenschaften die Ehre haben wird, diese Nadel zu zerbrechen. Mit diesem Akt wird angezeigt, dass das Mädchen von nun an eine Frau ist, die jetzt das Recht hat, an den galanten Zusammen-künften und Liebestreffs (ihallen) der jungen Leute teilzunehmen. Es bedeu-tet weiter, dass ab jetzt eine Frau in den Stand der "Sittenfreiheit" (asri) tritt, in welchem sie ein ungebundenes Leben und freizügige Handlungen mit jeder andersgeschlechtlichen Person führen kann. Dieser Zustand endet jedoch mit der Hochzeit, und die neue Ehefrau zeigt dieses Ende an, indem sie dasselbe Objekt, welches ihren Eintritt in den asri symbolisiert hatte, der Dienerschaft übergibt, die ihr den Weg versperrt. Mit dem Geben der Nadeln geschieht der Bruch mit der Vergangenheit und es beginnt der Eintritt in den neuen Stand der Ehe. Literatur: Benhazera, Maurice (1908): Six mois chez les Touareg du Ahaggar. Alger: Adolphe Jourdan. Blanguernon, Claude (1955): Le Hoggar. Paris: B. Arthaud. Brandes, Edda (1989): Die imzad-Musik der Kel-Ahaggar-Frauen in Süd- Algerien. Orbis Musicarum, Band 4. Göttingen: Edition Re. Claudot-Hawad, Hélène (1993): Les Touaregs. Portrait en fragments. Aix-en- Provence: Edisud. Foucauld, le Père Charles de (1925-30): Poésies Touarègues I-II. Ouvrage publié par A. Basset. Paris: Ernest Leroux. Foucauld, le Père Charles de (1951-52): Dictionnaire Touareg-Français. Dialecte de l'Ahaggar, 4 Bände. Paris: Imprimerie nationale de France. Gast, Marceau & Jacob, J.-P. (1978-79): Le don des sandales dans la cérémonie du mariage en Ahaggar. In Libyca XXVI-XXVII: 223-232. Göttler, Gerhard (1989): Die Tuareg. Kulturelle Einheit und regionale Vielfalt eines Hirtenvolkes. Köln: DuMont. Lhote, Henri (1984): Les Touaregs du Hoggar. Paris: Armand Colin. ALMOGAREN 50/2019MM105 Mécheri-Saada, Nadia (1994): Musique Touarègue de l'Ahaggar (Sud-algérien). Paris: L'Harmattan-Awal. Nicolaisen, Johannes (1963): Ecology and Culture of the Pastoral Tuareg. The National Museum of Copenhagen. (Erweiterte Neuauflage 1997, 2 Bände. London: Thames and Hudson). Pandolfi, Paul (1998): Les Touaregs de l'Ahaggar. Sahara algérien. Parent et residence chez les Dag-Ghali. Paris: Karthala. Régnier, Jérome (1961): Mariage touareg. In Bulletin de Liaison Saharienne 42: 163-174. Ritter, Hans (2009): Wörterbuch zur Sprache und Kultur der Twareg. Band I: Twareg-Französisch-Deutsch, Band II: Deutsch-Twareg (in Zusammenar-beit mit Karl-G. Prasse). Wiesbaden: Harrassowitz. T.T.P. (1984) = Textes touaregs en prose, de Charles de Foucauld et A(dolphe) de Calassanti-Motylinski. Ed. crit. avec trad. par S. Chaker, H. Claudot, M. Gast. Aix-en-Provence: Edisud. Verbreitungsgebiet der Twareg (Grafik: Mark Dingemanse / Wikipedia)
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Calificación | |
Colección | Almogaren |
Título y subtítulo | Das Hochzeitszeremoniell beim Vasallenstamm der Dag-Rhali |
Autor principal | Trost, Franz |
Entidad | Institutum Canarium |
Publicación fuente | Almogaren |
Numeración | Número 50 |
Tipo de documento | Separata |
Lugar de publicación | Wien |
Editorial | Institutum Canarium |
Fecha | 2019 |
Páginas | pp. 083-105 |
Materias | Prehistoria ; Islas Canarias ; Etnografía ; Sáhara ; Matrimonio ; Ritos y ceremonias ; Tuaregs |
Notas | 50 Jahre Institutum Canarium 1969-2019 |
Copyright | http://biblioteca.ulpgc.es/avisomdc |
Formato digital | |
Tamaño de archivo | 604160 Bytes |
Texto | ALMOGAREN 50/2019MM79 IC INSTITUTUM CANARIUM ALMOGAREN 50/2019 50 JAHRE INSTITUTUM CANARIUM 1969–2019 ICDIGITAL Separatum 50/3 80MMALMOGAREN 50/2019 ICDIGITAL Eine PDF-Serie des Institutum Canarium herausgegeben von Hans-Joachim Ulbrich Technische Hinweise für den Leser: Die vorliegende Datei ist die digitale Version eines im Jahrbuch "Almogaren" ge-druckten Aufsatzes. Aus technischen Gründen konnte – nur bei Aufsätzen vor 1990 – der originale Zeilenfall nicht beibehalten werden. Das bedeutet, dass Zeilen-nummern hier nicht unbedingt jenen im Original entsprechen. Nach wie vor un-verändert ist jedoch der Text pro Seite, so dass Zitate von Textstellen in der ge-druckten wie in der digitalen Version identisch sind, d.h. gleiche Seitenzahlen (Pa-ginierung) aufweisen. Der im Aufsatzkopf erwähnte Erscheinungsort kann vom Sitz der Gesellschaft abweichen, wenn die Publikation nicht im Selbstverlag er-schienen ist (z.B. Vereinssitz = Hallein, Verlagsort = Graz wie bei Almogaren III). Die deutsche Rechtschreibung wurde – mit Ausnahme von Literaturzitaten – den aktuellen Regeln angepasst. Englischsprachige Keywords wurden zum Teil nach-träglich ergänzt. PDF-Dokumente des IC lassen sich mit dem kostenlosen Adobe Acrobat Reader (Version 7.0 oder höher) lesen. Für den Inhalt der Aufsätze sind allein die Autoren verantwortlich. Dunkelrot gefärbter Text kennzeichnet spätere Einfügungen der Redaktion. Alle Vervielfältigungs- und Medien-Rechte dieses Beitrags liegen beim Institutum Canarium Hauslabgasse 31/6 A-1050 Wien IC-Separata werden für den privaten bzw. wissenschaftlichen Bereich kostenlos zur Verfügung gestellt. Digitale oder gedruckte Kopien von diesen PDFs herzu-stellen und gegen Gebühr zu verbreiten, ist jedoch strengstens untersagt und be-deutet eine schwerwiegende Verletzung der Urheberrechte. Weitere Informationen und Kontaktmöglichkeiten: institutum-canarium.org almogaren.org Abbildung Titelseite: Original-Umschlag des gedruckten Jahrbuches. Institutum Canarium 1969-2019 für alle seine Logos, Services und Internetinhalte ALMOGAREN 50/2019MM81 Inhaltsverzeichnis (der kompletten Print-Version) Marcos Sarmiento Pérez 50 años de relaciones del Institutum Canarium con instituciones e investigadores de las Islas Canarias (1969-2019) .................. 11 Hans-Joachim Ulbrich Der Hype um Illustrationen von toten Guanchen im Europa des 18.-19. Jahrhunderts .............................................................. 41 Franz Trost Das Hochzeitszeremoniell beim Vasallenstamm der Dag-Rhali ................ 83 Hartwig-E. Steiner, Paz Fernández Palomeque, María Luisa Morales Ayala, Marcos Sarmiento Pérez Ysla del Hierro de José Agustín Álvarez Rixo del legado del erudito canario universal ..................................................... 107 Hartwig-E. Steiner Altkanarische Stätten in Las Playas / El Hierro IV: Siedlungsspuren im Gebiet Los Cardones sind Zeugnisse herrenischer Transhumanz .................................................. 151 Hartwig-E. Steiner El Hierro im Fokus des Institutum Canarium. Erfolgreiche IC-Forschungsprojekte seit 50 Jahren. ..................................... 265 Franz Rudolf Ertl 50 Jahre im Dienst der Erforschung der Kanaren, der vergleichenden Felsbildforschung und der Mittelmeerkulturen ............................................ 275 • 82MMALMOGAREN 50/2019 Trost, Franz (2019): Das Hochzeitszeremoniell beim Stamm der Dag-Rhali.- Almogaren 50 / 2019 (Institutum Canarium), Wien, 83-105 Zitieren Sie bitte diesen Aufsatz folgendermaßen / Please cite this article as follows: ALMOGAREN 50/2019MM83 Franz Trost Das Hochzeitszeremoniell beim Vasallenstamm der Dag-Rhali Keywords: Sahara, Twareg, wedding-ceremonies, songs Zusammenfassung: Die vorliegende Arbeit versucht eine ethnographische Beschreibung über das Hochzeits-zeremoniell eines Vasallenstammes der Twareg in der zentralen Sahara zu geben. Im Prin-zip gilt eine strenge Endogamieregel, die Ehen sind monogam. Eine bevorzugte Eheschlie-ßung besteht zwischen Kreuzvetter und Kreuzkusine. Die in den beiden ersten Haupt-festtagen abgehaltenen Zeremonien sind charakteristische Übergangsriten (rites de pas-sage), die mit eigenen, von Frauen im Chor gesungenen Hochzeitsliedern begleitet wer-den. Danach verweilt das frisch vermählte Ehepaar etwa sieben Tage in einem neu errich-teten Hochzeitszelt. Résumé: L'article donne une description ethnographique des cérémonies de mariage chez une tribu-vassalle des Twareg dans le Sahara central. En principe il y règne une sévère règle d'endogamie et les mariages sont monogames. Un mariage de préférence consiste entre un cousin croisé et une cousine croisée. Les cérémonies qui accompagnent les deux premiers jours principeaux sont en fait des rites de passage caractéristiques. Ils sont marqués par les chants chorégraphiques nuptiaux des femmes. Après les nouveaux mariés passent sept jours ensembles dans une nouvelle tente de mariage. Abstract: This article gives an ethnographic description of the wedding ceremonies of a vassal tribe of the Twareg in the central Sahara. A strict rule of endogamy is obeyed and matrimony is monogamous. The principally preferred mode of wedding is between cross-cousins. The ceremonies held in the first two principle festive days are characteristic rites of passage, accompanied by wedding songs sung by a chorus of women. After the ceremony the freshly wed couple stays in an especially erected wedding tent for about seven days. Die Dag-Rhali sind ein relativ wohlhabender Vasallenstamm im vorwie-gend westlichen Zentralgebiet des Ahaggar (1). Ihre Hochzeitsriten und -zeremonien sind bei den anderen Twareggruppen gleichen sozialen Standes sehr ähnlich und werden – vor allem, wenn es sich um die erste Eheschlie-ßung der betreffenden Partner handelt – streng eingehalten. Im Folgenden soll das Hochzeits-Hauptzeremoniell, welches auf einem komplexen Synkretismus berberischer, islamischer und sudanesischer Tradition beruht, in möglichst kurzer Form beschrieben werden. Almogaren 50 Wien 2019 83 - 105 84MMALMOGAREN 50/2019 1. Ablauf des ersten Festtages Vormittag: Gesang der Frauen im aliwen-Rhythmus (2) Im Ahaggar findet das Hochzeitszeremoniell fast immer innerhalb dersel-ben sozialen Gruppe im Lager der Brautfamilie statt. Schon am Vormittag des ersten Hochzeitstages begeben sich die Frauen des Lagers/Dorfes und der am Morgen oder bereits am Vortag eingetroffenen Familien zur Braut. Man trinkt Tee, stimmt Lieder im aliwen-Rhythmus an und beteiligt sich an der gemein-samen Zubereitung der Speisen. Diese Verbindlichkeit führt zu einer festen Stabilität innerhalb der Gemeinschaft, die auf dem aktiven Einsatz sämtlicher Mitglieder beruht: "Niemand soll fehlen, selbst der Kranke nicht." (Liedtext 1) Für die Frauen ist es nahezu eine Verpflichtung, den Familien des Brautpaa-res Dienstleistungen zu bringen, statt einen Beitrag materieller Art zu liefern: "Frauen, seid bereit, auch wenn ihr nichts habt, wenn die Reihe an euch ist, wird jeder geholfen, ohne zu fragen." (Liedtext 2) Bei der als Verpflichtung geltenden Teilnahme soll gute Laune vorrangig sein: "Jener, der ankommt und kein Wort spricht, dessen Auftritt ist nichts wert; er hat nur die Beschmutzung seiner Kleider erreicht." (Liedtext 3) An diesem Vormittag versucht man das Alltagsleben immer mehr durch eine feierliche Atmosphäre zu ersetzen. Jede Vorbereitungsphase beginnt mit aliwen-Gesängen, zu denen da und dort von den jungen Burschen und Mäd-chen des Lagers kollektiv vorgetragene tinde-Lieder erklingen (s. 3 c). Früher begaben sich die Frauen mit ihren Geigen und Trommeln zur Braut (Benhazera 1908: 15), was bedeutet, dass außer den aliwen-Gesängen auch die imzad ge-spielt wurde. Nachmittag: Kamelparade der Männer Den spektakulären Höhepunkt der Hochzeitsfeierlichkeiten bilden paradie-rende Kamelrennen. Ihre Teilnahme ist für die jungen Männer das wichtigste Gebot, an dem sie von den aliwen-Sängerinnen auf eine Art erinnert werden, die bereits an Drohung grenzt: "Wenn ein gut dressiertes Kamel nicht angelaufen kommt auf dieser ebenen Fläche (tesawelt), soll es verflucht sein. Sein Eigentümer soll es nie wieder finden." (Liedtext 4) Eine Kamelparade wird iludjan genannt (4) und findet entweder in der Mitte eines breiten Oued oder auf einem flachen Areal in der Nähe des Lagers statt. Zahlreiche Zuseher finden sich ein, während die Frauen, gehüllt in ihre schwar- ALMOGAREN 50/2019MM85 zen oder indigoblauen Gewänder, sich in kleinen Gruppen ins Zentrum des Paradeplatzes begeben. Unterwegs mahnen sie ihre Gefährtinnen mit Gesang zur Eile, da die in mehreren Etappen sich abspielenden Reiterspiele zwangs-läufig vor Sonnenuntergang ihr Ende nehmen: "Der Nachmittag ist fortgeschritten, das gefällt mir nicht, die Nacht rückt heran und der Ort des Treffens ist noch weit; es ist am Ende des Nachmittags (tadeggat), der Tag ist kühl geworden, ihr habt geschlafen bis der Schatten länger wurde, beschleunigt euer Gehen. Wenn ihr den Platz erreicht, könnt ihr euch hinsetzen, ihr seid wie Schafe, so zu dösen." (Liedtext 5) Sind alle Frauen angekommen, drängen sie sich eng sitzend kreisförmig zusammen. Einige beginnen unter Trommelbegleitung im Turnus zu singen, andere klatschen skandierend mit den Händen und wiederholen im Chor die Phrasen der Solistinnen (s. 3c). Nun ist der Zeitpunkt gekommen, wo tief ver-schleierte und in ihre Festgewänder gehüllte Männer auf ihren besten und schönsten Kamelen (meist Stuten) in einem langsamen Trippelgang (terhedeyt) zu paradieren beginnen. Bald darauf steigern sie den Lauf der Tiere und krei-sen in Trupps zu zweien oder dreien dichter und dichter an die Frauen heran, die ihrerseits die Reiter mit hellen Trillerrufen (terhelelit) und Trommelschlä-gen anfeuern. Staub wirbelt auf und die langen Beine der Kamele scheinen die hockenden Gestalten zu zertreten. Ein fester Druck mit dem nackten Fuß auf den Hals des Tieres, ein Schnalzen mit der Peitsche (alekkod) und die Reiter stürmen ganz knapp vor ihnen vorbei. Lachen und Getuschel bei den Frauen, die anerkennende Blicke auf die jungen Männer werfen, die ihre Tie-re nun im langsamen Trab (regiregi) gehen lassen, bevor sie mit ihnen ein neues Kreisrennen starten. Obligatorisch endet das "Kamelkarussel" vor Son-nenuntergang durch einen opportunen Lauf aller anwesenden Kamelreiter. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wohnte der Bräutigam nur als regloser und schweigender Zuseher dem iludjan bei: "Er besteigt ein weißes Kamel und trägt die Prunkhaube (takumbut), sil-berne Amulette, drei weite Tuniken (tikemsin) und sechs um den Hals ge-kreuzte Seidenschnüre (ar.: elmedjuden). Er hält eine Eisenlanze (allarh) in seiner Hand und hat an der Seite einen Schild (arher) und ein fransenbehängtes Lederfutteral (egerwey) hängen. Den Mund und seine Augen hat er sich mit einem wie glimmendes Holzstück glänzenden Gesichtsschleier aus Indigo-stoff (tadjulmust) verhüllt." (T.T.P. 1984: 91f.) Heutzutage entzieht sich der künftige Ehemann den Blicken der anwesen-den Gäste und beobachtet den iludjan nur von Weitem oder er hält sich in 86MMALMOGAREN 50/2019 einem der Zelte auf, mit denen seine Verwandtschaft angereist ist. Auch die Braut bleibt der Kamelparade fern und verbringt die Zeit im Zelt ihrer Eltern oder eines ihrer Verwandten mütterlicherseits. Noch vor kurzer Zeit geschah es, dass sie an diesem Nachmittag wegging, um irgendwo abseits des Lagers Ziegen zu hüten, damit keiner der Männer sie sehen konnte. Gegen Sonnenuntergang: a) Eheschließung durch einen Gesandten des Bräutigams und einer Beauftragten der Braut, die in ihren Namen handeln Gewöhnlich werden dafür nahe Verwandte des Brautpaares bestimmt, die im Beisein eines als offiziellen Zeugen fungierenden Korangelehrten (aneslem) und unter Ausschluss sämtlicher Frauen ihre Entscheidung über die schon zuvor beschlossene Brautgabe (taggalt) bekunden. Die Höhe der vom künftigen Ehemann für seine Frau aufgebrachte taggalt richtet sich nach deren sozialem Stand und darf zur Erhaltung ihres gesellschaftlichen Pres-tiges im Wert nicht geringer sein als seinerzeit ihre Mutter erhalten hat. An-fang des 20. Jahrhunderts war die Brautgabe mit bis zu sieben Kamelstuten für eine adlige Frau und mit nur einer Kamelstute für eine Frau einfachen Standes fixiert. Für eine Dag-Rhali-Frau sind allerdings zwei Kamelstuten und manchmal auch noch zwei Silberarmbänder vorgesehen. Dies zeigt deut-lich, dass die Frauen der Dag-Rhali in den Genuss einer höheren taggalt kom-men als andere weibliche Mitglieder desselben sozialen Standes (5). Ist es dem Pflichtigen nicht möglich, die Brautgabe in Kamelen zu entrichten, wird anstelle eines Kamels eine gewisse Anzahl Ziegen (bis zu dreißig) gegeben; Esel sind von der taggalt ausgeschlossen. Es kommt vor, dass auf Wunsch der Brauteltern die Tiere vorgeführt werden müssen. Finden sie Gefallen, gilt die Sache als abgemacht, wenn nicht, wird ein Austausch von einzelnen oder auch allen Tieren verlangt. Dies geschieht dann, wenn die Vertreter des Lagers der Braut die Tiere als zu alt bewerten. Das bevorzugte Alter bei den als Braut-gabe vorgesehenen Kamelstuten liegt zwischen zwei und drei Jahren, d.h. bevor sie ins Dressuralter kommen. Heute besteht die Brautgabe immer häu-figer aus einem Geldbetrag in bar, der sich meist an das alte System anlehnt und den einstigen Kamel- oder Ziegenpreis berücksichtigt. Herrscht Einigkeit über die taggalt, wird über ihre Übergabe verhandelt. Gewöhnlich kann sie in mehreren Raten nach der Hochzeit erfolgen, soll aber noch vor der Geburt des ersten Kindes aus der mit dieser Brautgabe geschlos-senen Ehe stattfinden. Auch muss sie zur Gänze abgeschlossen sein, bevor eine eventuelle Scheidung der Ehepartner erfolgt. Die gemäß der taggalt ent-richteten Tiere werden in die Obhut des Brautvaters (wenn nicht vorhanden, dem Vater-Bruder oder dem älteren Bruder) übergeben, bleiben aber rechtli- ALMOGAREN 50/2019MM87 ches und tatsächliches Eigentum der jungen Ehefrau, über das sie allein nach Belieben verfügen kann. Es wäre eine für die Frau entehrende Tat, wenn ein oder mehrere patrilineare Verwandte die taggalt für sich gebrauchen würden. Um eine solche extreme Handlung zu begehen, muss man schon sehr arm sein. Was die von der Brautfamilie zu entrichtende Aussteuer betrifft, s. Anm. 6. Die letzten Verhandlungspunkte betreffen das Tieropfer (7) und die Ver-köstigung der gesamten Hochzeitsgesellschaft. Ist man sich auch darüber ei-nig geworden, verkündet der aneslem vor den anwesenden Familienmitglie-dern die "Eheschließung" der beiden Fast-Eheleute, wobei es sich um eine Scheintrauungszeremonie handelt: Einer der anwesenden Schmiede ruft laut: "Allahu akbar!", Männer rezi-tieren die erste Sure des Korans (al-fatiha), um damit den Segen Allahs für die Neuvermählten zu erflehen, während die abseits des Versammlungsplatzes sich aufhaltenden Frauen gellende terhelelit-Rufe ausstoßen und Lieder über das taggalt-System singen, z.B.: "Die Tochter von Sidi, derentwegen ich in Verhandlung bin [über die Brautgabe], ich trage zusammen, was ich brauche, um sie zu heiraten. Wenn meine Verwandten (imerewen) mir ihre Hilfe leihen, wird sie in das gelbe Land* kommen, wo ihr Lager sein wird." (F. Poésies 290: 1-4) [* Name eines Teilgebietes im Atakor, Ahaggargebirge] Inzwischen erhalten die an der Verhandlung beteiligten Personen zerstoße-ne Datteln und Buttermilch serviert. Die Konsumation dieser beiden symbo-lischen Gerichte, die Rezitation der Fatiha und die Verkündigung des göttli-chen Segens (albaraka) durch den aneslem an die versammelte Gemeinschaft (doch unter Ausschluss von Braut und Bräutigam) sind die Zeichen, welche die eheliche Verbindung anerkennen und weihen, und die damit letztlich ab-geschlossen ist. Spät am Abend folgt für alle Anwesenden ein üppiges Mahl. Es ist dies einer der seltenen Anlässe, bei denen Twareg Fleisch essen – und das oft in großen Mengen! b) Errichtung des ersten zeremoniellen Sandhügels und des Hochzeitszeltes darüber Wenn alle gesättigt sind, begeben sich einige mit dem Bräutigam verwand-te Frauen zum Hochzeitsplatz und graben dort mit Hilfe von Topfscherben oder mit bloßen Händen den Boden auf, um einen niedrigen Sandhügel (adbel) zu errichten. Dieser muss gerade groß genug sein, dass darauf zwei Menschen sitzen können. Bis dahin wird unter lauten Beifallsrufen und schrillem Ge-schrei eine lederne Zeltdachplane (8) herbeigebracht. Frauen schlagen mit gelenkigen Fingern einen eindringlichen Rhythmus auf dem zweifelligen 88MMALMOGAREN 50/2019 Tamburin (ganga) oder auf der einfelligen Tontrommel (abeqqa oder aqellal). Ist die Plane angekommen, legt sich eine Frau – meist die Schwester oder die Kreuzkusine der Braut – auf den fertig errichteten Sandhügel und hält in je-der Hand eine lange, hölzerne Bogenstange fest (9). Zwei Männer nehmen zu beiden Seiten des Hügels Aufstellung und werfen die noch zusammengefalte-te Plane gemeinsam dreimal (Autoren sprechen auch von siebenmal) hin und her. Dabei rufen sie: "sawela yawlit", Worte, deren Bedeutung nicht mehr ge-läufig ist (awl: drehen, die Richtung ändern). Anschließend wird das Hochzeitszelt über dem Sandhügel aufgebaut. In der Regel sucht man sich für das Gerüst einfache Stangen im Gelände. Häufig sind es gerade gewachsene Stämme oder Hauptäste des turha-Strauches (Calotropis procera), auf welche die Lederplane gelegt und straff gespannt wird. Daraufhin erhebt sich die auf dem Sandhügel liegende Frau und hilft mit, den unteren Saum des Zeltdaches mittels Sand und Steinen am Boden festzuhalten. Zuletzt wird noch eine mehr-farbige Wolldecke (ahwar) auf den Sandhügel gebreitet. "Ein Zelt knüpfen", d.h. aufstellen, herrichten (durch Helfer im Rahmen der Hochzeitszeremonie) heißt ekres ehen und ist gleichbedeutend mit "eine Hochzeit machen, heiraten". Diese Synonymie zeigt, wie sehr das Zelt (ehen) eine zentrale Rolle im Hochzeitsritual spielt. Das Zelt ist aber nicht nur die traditionelle Behausung der Twareg, sondern auch ein Schutzort gegen die "Welt draußen", der sie als Jugendliche nach dem Verlassen des Mutterzeltes ausgeliefert waren und die sie schutzlos gegen die Kel-esuf durchqueren mussten. Das Wort ehen bedeutet im übertragenen Sinn auch Ehefrau, da sie die Besitzerin des Zeltes ist, welches das Paar nach ihrer Hochzeit beschützen wird. Es soll an dieser Stelle nochmals erwähnt werden, dass am ersten Abend das sog. Hochzeitszelt nicht mit einem Wohnzelt identisch ist. Es wird nur sehr notdürftig aufgestellt, und die einfachen Holzstangen gleichen nicht den dekorierten Pfosten, welche am nächsten Tag verwendet werden. Außerdem wird das einfache Hochzeitszelt bereits am nächsten Vormittag wieder abge-schlagen. Folglich stellt es bloß das Imitat des am zweiten Hochzeitstag er-richteten großen Zeltes dar. Etwa drei Stunden nach Sonnenuntergang zu der azuzedj genannten Zeit: Erste Zusammenführung des Brautpaares (symbolische Scheinehe) a) Das Gefolge des Bräutigams Der fast vollkommen verschleierte Bräutigam – die tadjulmust gibt gerade einen schmalen Spalt für die Augen frei – verlässt das Zelt seiner Verwandten mit einer Gruppe junger Männer, die ihn aufmerksam vor jedem Kontakt ab-sichern. Mit extrem langsamen Schritten und unter Rezitation von Koranversen ALMOGAREN 50/2019MM89 – heute meist unter der Psalmodie des religiösen Gedichtes el-burda (10) – begibt sich das Gefolge zum Hochzeitszelt und geht dreimal nach rechts um dieses herum. Anschließend begleitet einer der Männer, meist ein Verwandter oder enger Freund, den Bräutigam in das Zelt, wo dieser auf dem zuvor er-richteten Sandhügel Platz nimmt. Sein Begleiter setzt sich rechts vom Ein-gang auf den Boden, während sich die anderen Männer rund um das Zelt plat-zieren. Sie rezitieren die Fatiha, den Grundstein aller muslimischen Gebete, und warten auf die Ankunft des Brautgefolges. Richtet einer der Männer das Wort an den künftigen Ehemann, antwortet dieser nur ganz leise mit kaum hörbarer Stimme. b) Das Gefolge der Braut Etwas später, zur Zeit der vollen Nacht, wird die Braut von jungen Frauen abgeholt, in die Mitte des fürsorglichen Zuges genommen und in einer sehr langsamen Prozession zum Hochzeitszelt geführt. Nur mit winzigen Schritten geht es vorwärts, ein Gehrhythmus, der sich sehr von dem des nächsten Tages unterscheidet. Die Braut hat nur gewöhnliche Alltagskleider angelegt, ist nicht geschminkt und trägt keinen Schmuck; ihr Kopf ist durch ein einfaches Gewandtuch namens afer verhüllt. Dieser bescheidene Auftritt ist ein an den Bräutigam gerichteter Hinweis, seine künftige Frau wegen ihrer offenen We-sensart und ohne Hinzufügung irgendwelcher Kunstmittel (Schmuck, Schmin-ke etc.) zu begehren. Die Frauen des Geleitschutzes singen Lieder im tare- Rhythmus (11) und schwenken Räuchergefäße, in denen vorwiegend Benzoe-säure- hältiges Harz bestimmter Styraxbäume verbrannnt wird. Der entströ-mende Räucherstoff soll die spirituellen Wesen, die Kel-esuf, vertreiben und sie an eventuellen Handlungen hindern. Es ist die Sorge um den Schutz der künftigen Eheleute, welche auch die jeweilige Eskorte veranlasst, die Braut oder den Bräutigam in der Mitte gehen zu lassen. In gleichem Maße hat die Kopf- und Gesichtsverschleierung der beiden Brautleute eine primäre Schutz-funktion gegen die drohende Intervention der Kel-esuf während des Hochzeits-zeremoniells. Es sind vor allem die Haare, die eine beliebte Beute der Geist-wesen sind und deshalb verhüllt werden müssen. c) Die Sandalengabe Unterwegs wird das weibliche Gefolge von einer Gruppe junger Männer aufgehalten, die den Weg versperrt und laut ein Paar Sandalen (irhatimen) vom Agadez-Typ verlangt. Diese zu respektierende Forderung hat den Zweck, eine Opposition gegen die geplante Eheschließung zu symbolisieren. Der jun-gen Braut den Weg zu blockieren bedeutet auch, sich ihrer Hochzeit zu wider-setzen. Es folgt eine mehr oder weniger heftige Scheinauseinandersetzung, 90MMALMOGAREN 50/2019 bis schließlich ein vom Bräutigam bestimmter Gefolgsmann ein (manchmal sogar zwei) Paar der geforderten irhatimen einem der jungen Leute übergibt. Letzterer wird nicht zufällig ausgewählt, sondern ist in den meisten Fällen der väterliche Kreuzvetter der Braut. Erst wenn die Übergabe der Sandalen stattgefunden hat und deren Qualität von allen Beteiligten, auch seitens der Frauen, als ausreichend gut befunden wurde, wird die Blockade aufgehoben und der Weg wieder freigegeben. Die Sandalengabe ist ein unerlässlicher Bestandteil des Hochzeitszeremoniells: Sie stellt eine effektive Entschädigung des jungen Mannes an den Kreuzvetter dar, eine Frau zu heiraten, die nicht seine Kreuzkusine ist. Denn gemäß der Tradition hätte der Kreuzvetter die Priorität für die Eheschließung mit der Tochter des Onkels mütterlicherseits. Dieses privilegierte Verhältnis zwischen Braut und Kreuzvetter kommt auch im Lied 13: 4-7 zum Ausdruck, das nach dem Sandalengeschenk von den Frau-en gesungen wird (s. im Anschluss). In einem anderen Liedstück, in welchem die Mutter der Braut als Sängerin auftritt, wird der Aufbruch des Gefolges als Trennung von jenem Strick (tamdit) dargestellt, der die Braut an die Familie band: "Ich habe den Strick des Fohlens gelöst, das bei mir geboren wurde." (Liedtext 14: 15-16) d) Die Gegenüberstellung von Männern und Frauen vor dem Hochzeitszelt Nach dem formellen und öffentlichen Akt der Sandalengabe zieht der Zug singend bis zum Hochzeitszelt weiter, wo eine verbale Konfrontation zwischen dem weiblichen und dem männlichen Gefolge des Brautpaares stattfindet. In alten Zeiten lautete diese zwischen Frauen und Männern im Chor gesungene Auseinandersetzung folgend: nelluz wir haben Hunger atekshimet ihr werdet essen nerhlut wir sind nackt atelsimet ihr werdet bekleidet nerjih wir sind zu Fuß atarhermet ihr werdet reiten Anschließend wenden sich die Braut und die Frauen an den Bräutigam und singen die beiden folgenden Verse: "Ich will keine Hirse [getragen] von jungen Kamelen (isakan), ich bevorzuge Hirse [getragen] von starken und robusten Kamelen (ifudan)." [Vgl. dazu Liedtext 14: 20-21] Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, dass sie von ihrem Ehemann die Taten eines starken und mutigen Mannes erwartet und nicht ein kindli-ches Benehmen (Benhazera 1908: 17). ALMOGAREN 50/2019MM91 Nach dem rituellen Oratorium schreitet der Zug mit der Braut dreimal nach links um das Zelt herum, wobei die Frauen mit verstärkter Intensität ihre Räuchergefäße hin und her schwenken. Eine Verwandte oder enge Freundin führt die Braut in das Zelt und lässt sie auf dem Sandhügel neben dem Bräu-tigam Platz nehmen. Alle Begleiter verlassen jetzt das Zelt, als letzte die en-gen Freunde des Paares. Dieses sitzt mit tief verschleiertem Gesicht Rücken an Rücken und verharrt in dieser Position mehrere Stunden, meist ohne ein Wort zu wechseln; wenn doch, so ist es vorwiegend der Bräutigam, der als erster das Wort ergreift. In dieser Nacht kommt es zu keinem ehelichen Bei-sammensein der beiden. Um dies zu rechtfertigen, beruft man sich auf den Verhaltenskodex: Die Braut muss sich erst an die Gegenwart ihres künftigen Ehemannes gewöhnen, um sich nicht ängstigen zu müssen. Eine alte Regel sagt: "In der ersten Nacht ist die Frau deine Schwester, in der zweiten deine Mutter, in der dritten deine Schwiegermutter und erst in der vierten wird sie deine Ehefrau." e) Weitere Ritualelemente A. Wenn die Braut in das Hochzeitszelt geführt wird, kann es vorkommen, dass ihr mehrere Frauen folgen, die sich dicht hinter ihr drängen. Sie streiten laut mit den dazwischenschreitenden Männern aus dem Gefolge des Bräuti-gams und versuchen, dessen Turban und sogar seine Nase zu berühren. Die-ses Vorhaben wird jedoch in den meisten Fällen durch die ihn schützenden Freunde, die laute Warnrufe ausstoßen, vereitelt. Anschließend werden außer-halb des Hochzeitszeltes Lieder zur Ehre der Brautleute gesungen; die Mutter der Braut kommentiert: "Mein kleines Goldstück [= die Braut] will ich euch geben." (Liedtext 13: 10) Frauen richten Empfehlungen an den Bräutigam und singen ein Loblied auf die künftige Ehefrau: "Ich preise dich, oh Jemrha, du mit einem Antlitz so glatt wie eine Kiesel-fläche (adjriwal). Kein Mann kann zu ihr gehen außer jener mit überragenden Eigenschaften. Derjenige, der dir den richtigen Weg zeigen will und ihm nicht selbst folgt, hat keinen Verstand; er vergisst seine eigenen Fehler und befasst sich mit dem, was ihn nichts angeht." (Liedtext 6) B. Zwischen den Kreuzvettern und Kreuzkusinen besteht bis zur Hochzeit eine institutionalisierte Scherzbeziehung (tehandezzit), die u.a. ihren Ausdruck in der absichtlichen Übertretung oder Nichtbeachtung der sonst zu respektie-renden sozialen Gebote und Normen findet. Das bedeutet, dass sie sich ge-genseitig hänseln und verspotten, sexuelle Anspielungen machen und provo- 92MMALMOGAREN 50/2019 zierende Reden halten; sogar das Zerren am Gesichtsschleier in der Öffent-lichkeit ist üblich. Solche Dreistigkeiten ziehen immer Vergeltungen nach sich, die zu Scheinkämpfen (ar.: tebbillanin, sg. tebbillant) führen können und bei gegebenem Anlass rund um das Hochzeitszelt ausgetragen werden. C. Nach der ersten Zusammenführung des Brautpaares erfolgt eine erneute Trennung. Bräutigam und Braut verlassen das Zelt, um zu ihren jeweils in entgegengesetzter Richtung vom Hochzeitsplatz gelegenen Wohnstätten zu-rückzukehren. Es kann auch geschehen, dass der Bräutigam im Hochzeitszelt bleibt und auf dem Sandhügel schläft und nur die Braut zu ihren Eltern zu-rückgebracht wird. Alle anderen Personen treffen sich für den weiteren Ver-lauf der Festlichkeiten an einem abseits von den Behausungen liegenden Ort, der genügend Teilnehmer aufnehmen kann. Dort kommt es oft zur Auffüh-rung eines tazenrheriht genannten Tanzes, der einst den schwarzen Sklaven (iklan) vorbehalten war, aber seit geraumer Zeit auch bei den Dag-Rhali Ein-gang gefunden hat (12). Der nächtliche Tanz wird ohne Instrumente ausgeübt und nur von Gesang, Händeklatschen und gutturalen Brust-Kehllauten der Männer begleitet. 2. Ablauf des zweiten Festtages Am zweiten Tag der Hochzeit wird das ganze Zeremoniell des Vortages auf noch grandiosere Art wiederholt, denn dieser zweite Tag, an dessen Ende die Brautleute ihre erste Nacht im neuen Hochzeitszelt verbringen werden, wird als der eigentliche Hochzeitstag angesehen. Vormittag: a) Abschlagen des alten und Aufbau des neuen Hochzeitszeltes Diese rituelle Handlung wird von einer Gruppe von Frauen durchgeführt, die das alte Hochzeitszelt abschlagen und unweit davon ganz korrekt ein neues Zelt aufbauen. Die Zahl der dafür verwendeten Stütz-, Halte- und Spann-pfosten sowie der Quer- und Bogenstangen hängt von der jeweiligen hölzer-nen Tragkonstruktion des Zeltes ab. Die Größe des neuen Zeltes, die Reich-haltigkeit des Zierrats und das notwendige Zubehör (13) sollen Zeichen für den hohen Stellenwert sein, den man der Hochzeit zuschreibt. In seinem Inne-ren wird ein langer, flacher Sandhügel namens tuf(a)-adbel (wörtl.: "er ist besser als der [erste] adbel-Hügel") errichtet und mit bunten Wolldecken be-legt. Den Hügel des Vortages rührt niemand mehr an, man lässt ihn vom Win-de verwehen. Der Aufbau des neuen Hochzeitszeltes und die Errichtung des zweiten Sand-hügels wird in einem aliwen-Gesang durch die Schwester des Bräutigams zum Ausdruck gebracht: ALMOGAREN 50/2019MM93 "Ich möchte, dass die Hochzeit meines Bruders erfolgreich verläuft. Man wird hohe Pfosten (idjetten) einsetzen, man wird darüber eine gegerbte Ziegenhaut (ar.: herki) spannen, man wird sie mit Seide (ar.: elherir) und herki schmücken, man wird ihm ein Bett (tadabut) mit Decken (ihwaren) bereiten." (Liedtext 7) b) Besuch bei der Braut, Gesang der Frauen im aliwen-Rhythmus Während des Vormittags besuchen die im Lager anwesenden Frauen die Braut und helfen ihr, sich für die Feierlichkeit vorzubereiten. Man trinkt Tee und beginnt wieder mit Gesängen, in welchen gezielt die Frau als aktives Ele-ment dargestellt wird: "Heute (gibt es) keine andere Beschäftigung außer dem Flechten der Haare und dem Henna auf den Fingern oder ihre Frisur zu vervollkommnen." (Liedtext 8) Die Braut muss nun ihre schönsten Kleider und all ihren Schmuck anlegen; ist es doch sie, welche jetzt den Ehemann "ergreift". "Die von ihr vollbrachte Großtat war keiner Frau gelungen. Sie hat den Spross (ara) der Stute 'gefangen'*, den, der stolz schreitet." (Liedtext 9) [* Wörtlich: ermes "ergreifen, fangen"; p.ext. "nehmen"] "Sie hat den Spross (ara) 'gefangen', der sich im Sattel zu halten weiß, der fähig ist, Pferde im Galopp zu reiten, der fähig ist, ein Kamel im Trab zu reiten, der die Jubellaute (tirhelela) und Lobpreisungen (timulawin) verdient und die Gebete, welche Gott erhört." (Liedtext 10) c) Gegen Ende des Vormittags Der festlich gekleidete und fast völlig verschleierte Bräutigam begibt sich in Begleitung einer Gruppe von Männern, meist Verwandte und Freunde aus der gleichen Generation, zu dem neuen Zelt. Dieses Mal wird er nicht von ihnen eskortiert, sondern geht an der Spitze des Zuges. Er betritt selbstsicher das Zelt und setzt sich auf den für ihn bestimmten Teil des Sandhügels. Seine Begleiter versammeln sich schweigend um ihn; auch er vermeidet es zu spre-chen, und wenn, dann nur mit leiser Stimme. Nachmittag: Zweite Zusammenführung des Brautpaares (endgültige Eheschließung) Ist die tarut genannte Mittagszeit vorbei, veranstalten die männlichen Hochzeitsgäste eine Reiterparade vor dem Hochzeitszelt, so dass diese gut vom Bräutigam beobachtet werden kann. Noch bevor der iludjan endet, schrei-tet die Braut mit ihren Begleiterinnen zu dem für sie und ihren künftigen 94MMALMOGAREN 50/2019 Ehemann hergerichteten Zelt. Unterwegs wird der Zug von einer Gruppe ehe-maliger Sklaven aufgehalten, die laut Nadeln verlangen (14). Erst wenn diese Forderung erfüllt ist, können die Frauen ihren Weg fortsetzen. Beim Zelt an-gelangt, nimmt die Braut an der Seite des Bräutigams auf dem niedrigen Sand-hügel Platz, während die schon anwesenden Männer die Frauen mit Parfüm aus kleinen Flaschen besprengen. Wurde am ersten Abend versucht, die Kel-esuf mittels Räucherstoffen fernzuhalten, sind es am zweiten Tag Parfüms, die nun als Stimulans mit großer aphrodisischer Wirkung versprüht werden. Der Unterschied zwischen dem ersten und zweiten Tag der Hochzeit kommt aber nicht nur im differenzierten Gebrauch von Räucherstoff und Parfüm zum Ausdruck, sondern auch im Gegensatz von Tag und Nacht: Findet die Prozes-sion des Brautpaares am ersten Tag in der Nacht statt, so wird sie am zweiten Tag bei hellem Sonnenlicht abgehalten. So scheint der erste Tag – der zwar das Ritual einleitet, aber es in manchen Punkten zweitrangig werden lässt – sowohl eine obligatorische Etappe wie auch ein Gegenstück zum zweiten Tag zu sein, der durch den Vollzug der tatsächlichen Eheschließung des Paares gekennzeichnet ist. Vor dem Hochzeitszelt singen, trommeln (und tanzen) die Hochzeitsgäste die ganze Nacht. Erst gegen Morgen löst sich die Gemeinschaft auf, um all-mählich in ihre Lager zurückzukehren. Für sie ist damit die Hochzeit zu Ende. Das neu vermählte Paar bleibt hingegen allein im Zelt zurück, wo es bis zum siebten Tag verweilt, bevor auch sie es verlassen. Die nach der Eheschließung gültige Residenzfrage ist von Gruppe zu Grup-pe verschieden. Für die Dag-Rhali schreibt Pandolfi (1998: 328): "Tatsächlich halten die neuen Eheleute zuerst eine Periode von zwei Wohnsitzen ein und bleiben eine gewisse Zeit in den Lagern ihrer Eltern." Bei der Frau kann das mindestens einige Monate, wenn nicht zwei oder mehr Jahre dauern. In dieser Zeit ist der Ehemann oft als Gast bei den Schwiegereltern. Aber diese Periode endet mit der Trennung der Frau vom Haushalt des Vaters und dem Aufbruch in das Lager des Ehemanns, das oft durch eine Gemeinschaft mit seinen El-tern gebildet wird. Dieser Akt heißt azalay (von ezly, "trennen") und wird von einem Fest begleitet. Auch wenn der Effekt verschieden ist, so ist diese feier-liche Veranstaltung für die Eheleute ebenso wichtig wie die Hochzeit selbst. Die Liedtexte nach Mécheri-Saada, 1994: 1: aliwen I, 71.54: 4 2: aliwen I, 71.54: 11-12 3: aliwen IV, 82.10: 4-6 4: aliwen IV, hors annexe: 1-3 5: aliwen IV, 71.58: 35-41 ALMOGAREN 50/2019MM95 6: aliwen I, 71.61: 6-9 7: aliwen IV, 82.11: 11,18-19,22-23 8: aliwen IV, 82.10: 1-3 9: aliwen IV, 71.58: 30-31 10:aliwen IV, hors annexe: 1-5 11:tinde 80.39: 1-2 12:tinde 81.35: 1-2 Die Liedtexte nach Foucauld, 1930: 13:aliwen no. 515: 1-19 14:tare no. 516: 1-22 Lied 13 im aliwen-Rhythmus (Foucauld, Poesie no. 515) Chor des weiblichen Brautgefolges (gesungen von allen Frauen gemeinsam): 1 Als diese Hochzeit beschlossen wurde, geschah es gegen den Willen vieler (a); 2 seit darüber gesprochen wird, wächst [auf beiden Seiten] die Eifersucht, 3 die Frauen sind eifersüchtig, die Männer störrisch. 4 Ich bin berechtigt zu sagen: seit er geboren ist und ich existiere, 5 gibt mir mein Kreuzvetter (ababah) die Zügel für alles, was ich wünsche. 6 Meine Freundinnen, ich wünsche jeder von euch einen meiner Verwandten als Ehemann; 7 ich habe zehn Finger (b), ich ziehe zwei von ihnen den acht anderen vor. 8 Diese Hochzeit ist ein Ort, wo Wasser sickert, meine Tochter hat eine Was-serstelle gewählt (c); 9 das sind keine Prahlereien (iberadjen) und kein Vorwand für Entgegnun-gen. 10Mein kleines Goldstück will ich euch geben (d); 11wenn ihr wollt, wägt sie ab [wie Gold], wenn ihr wollt, lasst sie fallen [wie ein wertloses Ding]. 12 Die vergangene Nacht war jene, in der glühende Holzkohlenstücke (timakatin) [in den Herzen der Frauen] gebrannt haben; 13 die Leber (e) der Frauen war den Friedhöfen [dem Tode] nahe. Chor der anderen Frauen (gesungen von einer Solistin): 14 Ich schwöre beim Allerhöchsten (Ameqqar), dass wir nicht nahe den Fried-höfen [dem Tode] waren; 15 wir haben Geduld, die größer ist wie die Berge (tiderrhin). Chor der alten Frauen (gesungen von einer Solistin): 16 Einen jungen Mann (amestelli) zu heiraten, hat nichts Gutes: 17 es gleicht stachelige Zweige zu ehelichen, deren winzige Blätter schon ab 96MMALMOGAREN 50/2019 gefallen sind [und die jetzt nur ihre Stacheln haben]. Chor der Jungen (gesungen von einer Solistin): 18 Eine alte Frau (tamrhart) zu heiraten, gleicht Schilfrohre zu ehelichen 19 oder den mit Ohrringen (f) geschmückten Teufel (Iblis). Erklärung: (a)Weil viele Männer die Braut und viele Frauen den Bräutigam begehren. (b) Gemeint sind zehn ihrer jungen Verwandten. (c) Die Wasserstelle ist der Bräutigam. (d) Das kleine Goldstück ist die Braut. (e) Gemeint sind die Herzen der eifersüchtigen Frauen. (f) Die Ohrringe (zezabit, pl. tizabatin) werden von den Frauen im Ahaggar paarweise getragen und am Ohrläppchen oder häufiger am Haarzopf in Ohren-höhe befestigt. Lied 14 im tare-Rhythmus (Foucauld, Poesie no. 516) 1 Im Namen Gottes (Bismillaten) siebenmal 2 für unsere Tochter, die am Abend (tedwat) aufgebrochen ist [zum Zelt, wo ihr Bräutigam wartet], 3 möge ihr der Name Gottes (Yalla) vorausgehen. 4 Ich werde mich an diesen Tag erinnern: 5 meine Tochter wird [für ihre Hochzeit] bekommen, was ich nicht hatte; 6 ich habe mein Gold verkauft [um sie großzuziehen], ich habe sie genährt; 7 sie macht dem Bruder ihrer Mutter (anet-ma) keine Schande, 8 sie ist der Ruhm (der terherit-Ruf) ihrer Brüder. 9 Deine Brautgabe (taggalt) befindet sich beim Brunnen 10 deine Brüder zeigen sie einander: 11 deine Brautgabe ist ein Kamel mit Blesse (amulas), 12 gefolgt von zehn weiteren Kamelen (imnas). 13 Als der Morgenstern (tatrit ta-n-tufat) rot und strahlend wie ein glimmen-des Holzstück aufging 14 und der anbrechende Tag (ar.: elfeshur) sagte: da bin ich, 15 habe ich den Strick des Fohlens [= die Braut] gelöst, 16 das bei mir [in meinem Zelt] geboren wurde: 17 es brilliert unter seinen Schwestern; 18 ich habe über das Fohlen einen Seidenstoff (ar.: elkherir) gehängt, um ihm Schatten zu geben; 19 ich habe einen Lebensmittelvorrat mit Datteln angelegt. 20 Ich will keine Hirse [getragen] von "Kamelen zwischen zwei Altersstufen" (a), ALMOGAREN 50/2019MM97 21 ich bevorzuge Hirse [getragen] von jungen Kamelen (b), 22 welche [die Frauen] so fett macht, dass ihre Armbänder (ihebdjan) bersten (c). Erklärung: (a)wörtl. ifudan, sg. afuda: etwa siebenjähriges Kamel, d.h. nicht jung, nicht alt, aber noch stark. (b)wörtl. isakan, sg. asaka: Jungkamel, im Ahaggar von zwei bis sechs Jah-ren. (c) Die letzten drei Verse bedeuten: "Ich mag keine alten Männer, ich ziehe junge Männer vor, die kräftig sind." Notabene: Die Übersetzungen behaupten nicht, eine literarische Qualifikati-on zu besitzen. Der Leser möge daher Nachsicht für Transskriptions- und Übersetzungsfehler haben, die sich in diesen Texten finden könnten. Anmerkungen: (1) Als im 18. Jahrhundert unter dem amenokal Sidi ag Mokhammed el Kheir die Vasallenstämme in die drei noblen Stämme des Ahaggar aufgeteilt wurden, das sind die Kel-Rhela, Taytoq und Tedjehe-mellet, kamen die Dag- Rhali mit den Adju en-tehle, Ayt-Loayen und Iklan-en-tawsit zu der Kel-Rhela- Trommelgruppe (ettebel), die innerhalb der drei Bündnisse die wichtigste Position einnahm. Jeder Vasallenstamm, dessen wirtschaftliche Grundlage auf Kleinviehhirtentum beruhte, war in seiner ettebel weisungsgebunden und dem obersten Chef des Stammesverbandes tributpflichtig. Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts fehlte den Vasallen das Recht, eigene Reitkamele zu halten und die symbolischen Waffen der Kriegsaristokratie – Schwert und Ganzmetall-lanze – zu tragen. Heute erlaubt ihnen der für jedermann offenstehende Er-werb von Kamelen, deren Zucht und Handel ihnen Wohlstand garantiert, sich dem Einfluss ihrer Lehensherren zu entziehen. (2) aliwen: "('die Ölbäume'), Name eines poetischen Rhythmus. Sein Ge-brauch ist ausschließlich Versen vorbehalten, die von Frauen bei bestimmten Hochzeitszeremonien gesungen werden... Der aliwen-Rhythmus stammt aus dem Ajjer und ist sehr alt." (F. Dict. III: 1094) Zwischen dem alew, pl. aliwen, genannten Ahaggar-Ölbaum und den zur Debatte stehenden Gesängen glei-chen Namens besteht keine semantische Verbindung, es handelt sich einfach um eine Homonymie. Die aliwen sind ausschließlich Wechselgesänge der Frau-en, die heute nicht nur am Vormittag des ersten Hochzeitstages gesungen werden, sondern zu verschiedenen Abschnitten des Zeremoniells. Oft erfreu-en sich einige dieser Lieder so großer Beliebtheit, dass sie auch während der Arbeit oder bei anderen Zusammenkünften der Frauen angestimmt werden. 98MMALMOGAREN 50/2019 Gelegentlich findet eine Begleitung mit dem zweifelligen Tamburin oder der einfelligen Mörsertrommel statt, die aber allein der Klangfülle dient und nicht die Rolle einer rhythmischen Basis spielt, wie dies in dem musikalischen Genre tinde der Fall ist (s. 3c). Die Existenz der aliwen-Gesänge scheint mindestens bis zu jener Epoche zu reichen, in der die Kel-Ahaggar und die Kel-Ajjer noch unter derselben politischen Autorität standen, d.h. vor der Mitte des 17. Jahrhunderts. (3) Der Begriff tinde bedeutet a) einen Holzmörser, b) eine Mörsertrommel und c) ein musikalisches Zusammentreffen mit Gesang und Trommelbe-gleitung. Im eigentlichen Sinn ist die Vokabel tinde feminin, welche im Laufe der Zeit bei den Twareg maskulin wurde, besonders wenn sie in einer Sprache reden, die nicht die ihre ist, z.B. Arabisch oder Französisch; auch in der Lite-ratur ist dafür das männliche Substantiv üblich geworden. a) tinde: ein mit Standfuß versehener Holzmörser von etwa 40-60 cm Höhe und 30-50 cm Durchmesser. Zu seiner Herstellung wird das schlag- und stoß-feste Stammholz der Acacia albida (ahtes), Sclerocarya birrea (tuwila) oder Commiphora africana (adaras) bevorzugt, im Sahel auch das vom Afrikani-schen Mahagonibaum Khaya senegalensis. Das Holz wird sofort nach dem Schlagen des Baumes verarbeitet, da es trocken verwendet häufig zu Rissen am Fundament und/oder am Öffnungsrand des Mörsers führt. Ist seine Her-stellung beendet, wird er mit Kuhdung bestrichen, um das Austrocknen des frischen Holzes zu verlangsamen, und dann über ein Feuer gehalten, um es gut auszutrocknen. Der Mörser bleibt unverziert und besitzt keine Seitengriffe. Damit Hunde nicht den Öffnungsrand abschlecken können, ist seine häufigste ruhende Position mit der Öffnung gegen den sauberen Boden, meist in der Ecke des Zeltes; ihanan en Muharh lan tinde, "in den Twareg-Zelten befindet sich ein großer Mörser." (T.T.P. 1984: 47) Der tinde ist für eine Familie zum Zerstoßen von Feldfrüchten, Wildgräsern, Datteln etc. unentbehrlich. b) tinde: eine behelfsmäßige Trommel, die durch Bespannen der Mörser-öffnung mit einer enthaarten, gegerbten und spätestens am Tag des Auftritts angefeuchteten (Ziegen-)Haut entsteht. Diese Mörsertrommel wird üblicher-weise von einer auf dem Boden sitzenden Person mit bloßen Händen, mit fla-chen Fingern oder (für einen speziellen Rhythmus) nur mit der Handfläche geschlagen, und zwar auf die Membranmitte des geschlossenen Resonanz-körpers; manchmal sind es zwei Personen, die dann den gleichen Rhythmus spielen. Seit geraumer Zeit wird die hölzerne Mörsertrommel oft durch einen Benzinkanister aus Blech ersetzt. Die Bewohner des Ahaggar nennen diese Metalltrommel djermani, da die ersten als Trommelersatz verwendeten Ka-nister "made in Germany" waren. Sie werden flach auf den Boden gelegt, mit ALMOGAREN 50/2019MM99 den bloßen Händen geschlagen und produzieren einen der Mörsertrommel ähnlichen Ton. (c) tinde: ein musikalisches Genre, das schematisch als Sologesang defi-niert werden kann, der von einem Chor und von einem geschlagenen Rhyth-mus auf der Mörsertrommel (oder dem djermani) begleitet wird. Ein tinde kann sowohl exklusiv von Männern oder Frauen als auch von gemischten Gruppen abgehalten werden. Doch immer gibt es eine/n Vorsänger/in, eine/n Trommler/in – oft ident mit dem/der Vorsänger/in – umringt von einem (ge-mischten) Chor, der den Gesang mit rhythmischem Händeklatschen begleitet. Der Chor kann zwei verschiedene Rollen übernehmen: entweder unterlegt er den Sologesang mit einem vokalen Bordun aus einer oder mehreren unbedeu-tenden Silben, oder er flicht zwischen die Solostimmen eine Art Refrain ein. Bei der Kamelparade der Männer besteht der tinde im Prinzip nur aus einer Gruppe junger Mädchen/Frauen, unter denen sich gelegentlich Sängerinnen befinden, die ihre Lieder selbst komponieren oder aus dem Stehgreif vortra-gen, was besonders geschätzt wird. Sie erfreuen sich eines Rufes, der ihnen einen künstlerischen Status gewährt, vergleichbar mit den alten imzad-Spieler-innen und ihrem männlichen Hof. Beim iludjan findet der Vergnügungs-charakter des tinde seinen vollen Entfaltungsrahmen, wie auch die kollektive Beziehung zwischen Männern und Frauen klar zum Ausdruck kommt. Obwohl tinde-Gesangtexte ebenso zahlreiche wie unterschiedliche Themen behandeln, werden oft an den Beginn Verse gestellt, welche die Form einer Aufforderung zu einer Zusammenkunft oder einen Befehl zum Singen, zum Trommeln oder zum Händeklatschen annehmen: "Wenn der tinde spielt, darf man keine Fragen stellen, abgesehen davon, dass man dort mit seinem Kamel (aredjan) sein muss." (Liedtext 11) "Schlagt die Trommel oder singt im Chor, anderenfalls werde ich auf die Dünen gehen." (Liedtext 12) (4) Foucauld definiert: "elawedj: 'Lauf (in irgendeiner Gangart), unternom-men von einem Standort zu einem wenig entferntliegenden anderen, von ei-nem Mann auf seinem Mehari (oder von Meharisten unbestimmter Zahl) in der Art einer Fantasia.' Die elawedj werden gewöhnlich in einem gemäßigten Trab abgehalten; sie können in allen Gangarten stattfinden; p.ext. der Plural iludjan bezeichnet eine 'Mehari-Fantasia (bestehend aus mehreren aufeinander folgenden elawedj)'. Die iludjan genannte Mehari-Fantasia ist das glanzvoll-ste und feierlichste Vergnügen der Kel-Ahaggar; sie begleitet alle großen Fest-lichkeiten und besonders die Hochzeitsfeiern." (F. Dict. III: 1095) (5) Über die hierarchische Differenzierung schreibt Foucauld: "Im Ahaggar 100MMALMOGAREN 50/2019 gibt der Ehemann seiner Frau bei der Hochzeit eine im voraus festgesetzte Brautgabe, die ihr persönliches Eigentum ist. Über die Brautgabe wird debat-tiert: Sie ist unveränderlich, jeder soziale Rang hat die ihre, die Brautgabe für eine Adlige ersten Ranges (Kel Rhela, Inemba, Tedjehe-mellet, Taytoq) be-trägt sieben Kamelstuten; die für eine Adlige zweiten Ranges (Ihadanaren, Ikadeyen, Ikenbiben, Irheshshumen) beträgt zwei Kamelstuten; die für eine Vasallin beträgt eine Kamelstute." Obiger Text ist eingeflochten in einem um 1880 verfassten Gedicht von Shittu ag Rhabderrakhman, der Boqqa, eine Frau von den Iklan-en-tawsit zu heiraten beabsichtigte, die aber einen anderen vorzog: "Du hast den auserwählt, den du wolltest, das ist gut. Er hat dir [als Brautgabe] ein Kamel von geringer Qualität gegeben, sehr mager, sehr schwach, mit Ödemen an den Knöcheln (terezt), zerfressen von Zecken (tiselfen) und Bremsen (ihebben), mit einem zylindrischen, engen Loch (tedjaynot) im Herzinneren." (F. Poésies 148: 1-5) (6) Bei der Vasallengruppe Dag-Rhali besteht die Brautausstattung aus Dingen, die in einem durchschnittlichen Twareg-Haushalt unabdingbar sind: 1 Zelt (ehen), bestehend aus der Lederplane (ehakit) und dem gesamten Satz Pfosten und Stangen, sowie den Mobiliarstreben und Paravantstützen 2-3 Windschutzmatten (eseber, pl. isebran) 1 eimerartiger Behälter (ahadja) aus Kamel- oder Rindshaut 1 steppdeckenähnliche Plane (aseddekan) 1 gewebte Decke (tabroq), die auch als Wintergewand dient 2-3 Decken üblicher Herstellung 1-2 mehrfarbige Decken/Teppiche (ahwar) 1 (mindestens) Wasserschlauch (abayorh). Dazu kommen noch diverse Kissen (adafor), Stricke, Körbe (tesenit, adabun) und Flechtschalen (teseyt), heutzutage auch industrielle Küchengerä-te (nach Pandolfi 1998: 309, vgl. dazu Nicolaisen 1963: 460). Es ist unschwer zu erkennen, dass diese Gegenstände einen höheren Wert darstellen als die taggalt des Bräutigams. Meist sind die Eltern der Braut nicht in der Lage, alles aus eigenen Mitteln zusammenzutragen, so dass die nähere Verwandtschaft mithelfen muss, den Hausrat der künftigen Ehefrau zu ver-vollständigen. Im Falle der Dag-Rhali, deren Frauen im ganzen Ahaggar als Spezialistinnen für Lederarbeiten bekannt sind, werden verschiedene Objek-te, etwa die Zeltplane, in kollektiver Arbeit hergestellt und die hölzernen Pfos-ten und Stangen bei den Handwerkern (Schmieden) sowie die Windschutz-matten bei den Frauen der Iseqqemaren oder Adjuh en-tehle in Auftrag gege- ALMOGAREN 50/2019MM101 ben. Zu diesen inhärenten Ausgaben kommen noch die Kosten für den Gäste-empfang hinzu, da es fast immer das Lager der Brautfamilie ist, wo die Hoch-zeit stattfindet. Notabene: Mit Ausnahme der Adligen bringt bei den meisten tributpflichti-gen Gruppen die Frau das Wohnzelt in die Ehe ein, welches zeitlebens ihr Eigentum bleibt. Tatsächlich kann im Ahaggar ein unverheirateter Mann kein eigenes Zelt besitzen. Erst durch die Heirat hat er das Recht, diesen exklusi-ven Besitz seiner Frau zu benutzen und darin zu wohnen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass im Hochzeitsritual das Zelt den Mittelpunkt bildet. Kommt es zu einer Ehetrennung, kehrt die geschiedene Frau mit ihrem Zelt und dem gesamten Hausrat in das Lager ihrer Eltern zurück, und der verlas-sene Ehemann steht plötzlich ohne Unterkunft da. Er wird damit gewisser-maßen in den als unerträglich angesehenen Zustand eines pubertierenden Jünglings versetzt, der keine eigene Behausung hat. Diese Situation kann er nur mit einer Wiederheirat beenden. Was die Ehefrau betrifft, so zählt ihre ökonomische Unabhängigkeit zu einem der bedeutendsten Prinzipien der Twareg-Gesellschaft. Ihr neues Familienleben beginnt nicht nur ausgestattet mit einem Zelt und allen notwendigen Haushaltsgegenständen, sondern auch mit eigenen Kleintierherden, Gütern und genügend Hilfspersonal, was ihr gestattet, ein von ihrem Ehemann unabhängiges Leben zu führen. Nicht zuletzt hat diese Eigenart in der Literatur das Bild von der Frau als "Zeltherrin" ge-prägt. (7) Wörtlich tarhtest (erhtes "durch-, abschneiden"; p.ext. "schlachten"): Opfertier(e) des Bräutigams bei der Hochzeit. Foucauld verdeutlicht: "Diese Tiere können ein oder mehrere Kamele, Rinder, Ziegen, Schafe sein; sie wer-den am Hochzeitstag geopfert... Findet eine Hochzeit statt, bringen oft Ver-wandte, Freunde, Nachbarn den Brauteltern Tiere zum Schlachten, um ihnen zu helfen und sich an den Hochzeitskosten zu beteiligen; diese Tiere sind kei-ne tarhtest; nur die vom Bräutigam bereitgestellten Tiere mit der klaren Ab-sicht, dass sie von einem Mann anlässlich seiner Hochzeit geopfert werden sollen, sind tarhtest." (F. Dict. IV: 1792) Die Zahl der Tiere ist entsprechend des sozialen Standes der Braut festgesetzt, doch auf weniger strenge Art als die taggalt. (8) Wörtl. ehakit oder ilemawen, "die Häute". "Die Twareg stellen die Dach-plane des Zeltes, in welchem sie wohnen, mit den Häuten von Mähnenschafen (udaden) und Ziegen (ulli) her... Ein kleines Zelt besteht aus vierzig Häuten, ein mittleres aus sechzig, ein sehr großes zählt um die hundert Häute." (T.T.P. 1984: 43) Die Häute werden bei Bedarf innerhalb der Gruppe oder Verwandt-schaft im Voraus gesammelt, bereitgehalten und durch die Frauen der Lager- 102MMALMOGAREN 50/2019 gemeinschaft unentgeltlich zusammengenäht (und instandgehalten). Die künf-tige Zeltbesitzerin arbeitet dabei nicht mit, sondern bewirtet nur die Helfer-innen. Die einzelnen Häute werden zu Einzelbahnen (tarhda) und diese dann längsseits zur Dachplane aneinandergenäht; fünf Bahnen zu sieben Häuten ergeben im Ahaggar ein schönes, mittelgroßes Zelt (s. F. Dict. I: 249). Schließlich wird die fertige Plane mit einer Schicht aus Butter (udi) und rotem Ocker (tamedjhoyt) imprägniert. Bei dem Ocker handelt es sich um unreines, toniges Eisenoxid, das sich z.B. als Braun- oder Roteisenstein findet und das satte, warme Braunrot der Dachplane ergibt. Die Häute der äußeren Reihen werden nicht beschnitten, da die Hals-, Bein- und Schwanzansätze direkt an die Außenpfosten des aufgebauten Zeltes gebunden werden und die Dach-plane ohne Spannschnüre und Heringe halten. Ebensowenig werden über-schüssige Hautteile und Fäden abgeschnitten, die an der fertigen Plane deko-rative Fransen bilden. (9) "Bei den Kel-Ahaggar wird der Mittelteil der Dachplane entweder von einem einzelnen, geraden Pfosten oder von zwei gleich großen, im Abstand von 1,50 m parallel gesetzten Bögen aus Holz gehalten; der Zeltpfosten heißt tamankayt; jeder der Bögen heißt adjedju." (F. Dict. I: 408) Der bis zu 2,50 m hohe zentrale Stützpfosten trägt ein horizontal aufgesetz-tes Firstbrett und formt damit das charakteristische Kuppelgewölbe von dem im Ahaggar verbreiteten "Normtyp" des Lederzeltes. Hingegen sind die meist rechtwinkelig zur Längsrichtung angeordneten Bögen die Träger einer Konstruktionsart, deren Bauelemente oft mit einzelnen Halbbogenstangen kombiniert werden, die an der Spitze zusammengebunden sind. Zu ihrer Her-stellung dienen besonders die mit Hilfe von Stricken über dem Feuer geboge-nen Wurzeln der bis zu 12 m hohen Baumart Combretum glutinosum (ter-memmeya) sowie von gewissen Akazienarten: tamat, afagag, tazzeyt; die ex-trem langen Wurzeln der Tamarix aphylla (tabarekkat) ergeben Rundbögen aus einem einzigen Stück. Die in der Mitte des Zeltes eingesetzten Bögen sind etwas höher als die auf den Gabelpfosten liegenden Querstangen. (10) Alburda bzw. el-burda (ar.) ist ein aus dem 13. Jahrhundert stammendes Gedicht der sog. Mahdi-Literatur, das sich bei den islamischen Gläubigen großer Beliebtheit erfreut. Es enthält Lebensregeln, die Lobpreisung einer schönen Frau sowie die Huldigung des Propheten und Ehrerweisung des Is-lam. Die zeremonielle Rezitation dieses Gedichtes bzw. einiger auserwählter Verszeilen werden z.B. als Teil des Hochzeitsritus und bei Krankenheilung herangezogen. Bei den Nord-Twareg ist das außerordentlich weit verbreitete el-burda-Thema sowohl als (einzige religiöse) imzad-Melodie wie auch als Hochzeitsgesang der den Bräutigam begleitenden Männer bekannt; es ist so- ALMOGAREN 50/2019MM103 mit ein (rezentes) "männliches" Gegenstück zum traditionellen Gesang der Twaregfrauen. (11) tare: "Name eines poetischen Rhythmus. Sein Gebrauch ist ausschließ-lich Versen vorbehalten, die von Frauen bei bestimmten Hochzeitszeremonien gesungen werden. Die Verse im tare-Rhythmus sind alle sehr alt und stam-men aus dem Ajjer. Die Frauen des Lagers singen am Abend zur azuzedj ge-nannten Zeit im Chor Verse im tare-Rhythmus, wenn sie die Braut zum Hochzeitszelt begleiten, wo ihr Bräutigam wartet." (F. Dict. IV: 1558) (12) Foucauld nennt tazenrheriht "einen Tanz der Neger". Das Wort tazenrheriht ist vom Verb zenrhireh abgeleitet: "aus Leibeskräften mit offe-nem Mund unartikuliert laut schreien; p.ext. muhen, brüllen (Rind)." (F. Dict. III: 1409) Tatsächlich zeichnet sich der Gesang durch die Vielfalt von vokalen Timbres und der oft gutturalen Laute der Chorpartien aus. Die Verse, in de-nen sich die Gefühle der ehemaligen Sklavinnen ausdrücken, enthalten Wör-ter, die zu den südlichen Twareg-Idiomen gehören und dem subsaharischen Ursprung zugrunde liegen. (13) Bei allen Typen des Lederzeltes gehören zwei bis drei Windschutz-matten zur Standardausrüstung. Sie werden aus den harten Halmen der Trockengrasart Panicum turgidum (afezu) von 5-10 m Länge und etwa 1 m Höhe hergestellt. Im oberen Teil der Vorderseite verlaufen fünf horizontale, reich dekorierte Reihen, die ihre geometrischen Muster durch das Einflech-ten schmaler Lederstreifen in die pflanzlichen Halme erhalten; jede der ver-zierten Reihen trägt einen Namen. An der vierten Reihe namens tirhatimin hängt in Abständen von 20-30 cm ein Bündel aus unterschiedlich gefärbten Lederstreifen (meist rot und grün). Die Rückseite der Matte ist entsprechend mit einem Lederfransenbesatz verziert, während die seitlichen Enden und der obere Rand mit einer Ledereinfassung verstärkt sind, so dass die lederne Zeltdachplane von den spitzen Enden der harten Grashalme geschützt bleibt. Die zu den Beispielen der hohen Schule der Twareg-Flechtkunst gehören-den Windschutzmatten werden – ganz ähnlich den kollektiven Arbeitsme-thoden bei der Herstellung der Lederplanen – von mehreren Frauen angefer-tigt. Im Ahaggar sind es die Frauen der Iseqqemaren und Adjuh en-tehle, welche das Geschick für diese langwierige Arbeit entwickelt haben. Die Mat-ten stehen halbkreisförmig im Inneren des Lederzeltes und schützen seine Bewohner vor Wind, Staub und neugierigen Blicken; auch dienen sie als eine Art Einfriedung vor dem Zelt, wo man sich versammelt und Tee trinkt. Sofern sich die Matten nicht unmittelbar an den Zeltpfosten abstützen, werden sie von speziellen, oft mit reichhaltiger Dekorskulptur versehenen Zierbrettern gehalten. Die heute im Inneren von Hütten (ikebran) oder Häusern aufgestell- 104MMALMOGAREN 50/2019 ten Matten haben ihre Zweckmäßigkeit verloren und dienen nur zur reinen Dekoration. (14) Die Übergabe von (Näh-)Nadeln (stenfassen, sg. stenfus) an das Hilfs-personal ist ein zeremonieller Akt im Lebenszyklus einer Dag-Rhali-Frau: Bei den Twareg erhält jedes Mädchen nach der Geschlechtsreife ein ziemlich weit geschnittenes Schulter-Kopftuch namens ekerhey. Zu diesem Anlass fin-det ein Fest statt, bei dem das Mädchen zum ersten Mal dieses Kleidungs-stück trägt, dessen zwei Bahnen unter dem Kinn mit einer Nadel zusammen-gehalten werden. Die versammelten Frauen wählen unter den anwesenden Männern einen aus, der aufgrund seiner Eigenschaften die Ehre haben wird, diese Nadel zu zerbrechen. Mit diesem Akt wird angezeigt, dass das Mädchen von nun an eine Frau ist, die jetzt das Recht hat, an den galanten Zusammen-künften und Liebestreffs (ihallen) der jungen Leute teilzunehmen. Es bedeu-tet weiter, dass ab jetzt eine Frau in den Stand der "Sittenfreiheit" (asri) tritt, in welchem sie ein ungebundenes Leben und freizügige Handlungen mit jeder andersgeschlechtlichen Person führen kann. Dieser Zustand endet jedoch mit der Hochzeit, und die neue Ehefrau zeigt dieses Ende an, indem sie dasselbe Objekt, welches ihren Eintritt in den asri symbolisiert hatte, der Dienerschaft übergibt, die ihr den Weg versperrt. Mit dem Geben der Nadeln geschieht der Bruch mit der Vergangenheit und es beginnt der Eintritt in den neuen Stand der Ehe. Literatur: Benhazera, Maurice (1908): Six mois chez les Touareg du Ahaggar. Alger: Adolphe Jourdan. Blanguernon, Claude (1955): Le Hoggar. Paris: B. Arthaud. Brandes, Edda (1989): Die imzad-Musik der Kel-Ahaggar-Frauen in Süd- Algerien. Orbis Musicarum, Band 4. Göttingen: Edition Re. Claudot-Hawad, Hélène (1993): Les Touaregs. Portrait en fragments. Aix-en- Provence: Edisud. Foucauld, le Père Charles de (1925-30): Poésies Touarègues I-II. Ouvrage publié par A. Basset. Paris: Ernest Leroux. Foucauld, le Père Charles de (1951-52): Dictionnaire Touareg-Français. Dialecte de l'Ahaggar, 4 Bände. Paris: Imprimerie nationale de France. Gast, Marceau & Jacob, J.-P. (1978-79): Le don des sandales dans la cérémonie du mariage en Ahaggar. In Libyca XXVI-XXVII: 223-232. Göttler, Gerhard (1989): Die Tuareg. Kulturelle Einheit und regionale Vielfalt eines Hirtenvolkes. Köln: DuMont. Lhote, Henri (1984): Les Touaregs du Hoggar. Paris: Armand Colin. ALMOGAREN 50/2019MM105 Mécheri-Saada, Nadia (1994): Musique Touarègue de l'Ahaggar (Sud-algérien). Paris: L'Harmattan-Awal. Nicolaisen, Johannes (1963): Ecology and Culture of the Pastoral Tuareg. The National Museum of Copenhagen. (Erweiterte Neuauflage 1997, 2 Bände. London: Thames and Hudson). Pandolfi, Paul (1998): Les Touaregs de l'Ahaggar. Sahara algérien. Parent et residence chez les Dag-Ghali. Paris: Karthala. Régnier, Jérome (1961): Mariage touareg. In Bulletin de Liaison Saharienne 42: 163-174. Ritter, Hans (2009): Wörterbuch zur Sprache und Kultur der Twareg. Band I: Twareg-Französisch-Deutsch, Band II: Deutsch-Twareg (in Zusammenar-beit mit Karl-G. Prasse). Wiesbaden: Harrassowitz. T.T.P. (1984) = Textes touaregs en prose, de Charles de Foucauld et A(dolphe) de Calassanti-Motylinski. Ed. crit. avec trad. par S. Chaker, H. Claudot, M. Gast. Aix-en-Provence: Edisud. Verbreitungsgebiet der Twareg (Grafik: Mark Dingemanse / Wikipedia) |
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