! Almogaren XX/ 1 / 1989 Hallein 1990 7-19
Helmut Stumfohl
Aufgabe und wissenschaftliche Position des
Institutum Canarium
Das IC sieht sich einer doppelten, sozusagen selbstgewählten
Aufgabe gegenüber: Es vertritt die Altkanarierforschung,
es vertritt die Saharaforschung. Beide Aufgaben, schon Wölfel
gestellt, sind ineinander verschränkt, aber nicht so, wie manche
Leute es wollen, daß die alten Kanarier einfach ein in den
Atlantik verschlagener Berberstamm wären.
I. Aufgaben und Themenkreise
Daraus ergibt sich eine Reihe von Themenkreisen oder
Themenkomplexen, die unsere Arbeit unmittelbar betreffen.
a) Mit den alten Kanariern ergibt sich als Thema die Geschichte
der Kanarischen Inseln, hiermit insbesondere die Frage
der ursprünglichen Besiedelung und der europäischen Penetration
und Eroberung seit dem frühen Mittelalter. In weiterer
Linie ist damit auch ein Arbeitsgebiet der historischen Geographie
und der frühen atlantischen Seefahrt berührt, die wiederum
von der Geschichte der frühen Mittelmeerfahrt nicht zu
trennen ist.
b) Daraus ergeben sich alle die Fragen, die mit Felsritzungen
und Felsbildern zusammenhängen, besonders des nordafrikanischen
und westmediterranen Raumes.
c) Damit ist auch das Thema möglicher Schriftzeugnisse
gesetzt, die sich als Felsritzungen erhalten haben. Und damit
tritt wiederum das Thema der Sprache, der altkanarischen Dialekte
oder Sprachen auf, die Deutung ihrer Überreste in den
Berichten der Conqui!$.tadoren, in Orts- und Flurnamen und Lehn-
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wörtern des Inselspanischen.
Das ergibt Fragen des Zusammenhangs mit anderen Sprachgruppen,
besonders den Berbersprachen; des weiteren die Frage,
wieweit das Altkanarische mit dem voridg. Wortschatz des alten
mediterranen Raumes Beziehungen aufweist; dazu kommen
die engeren Fragenbereiche, inwieweit die einzelnen Inselsprachen
nun untereinander verständliche Dialekte oder
eigentliche Sprachen gewesen sind, die untereinander nicht mehr
ohne weiteres verständlich waren. Es war vor allen Dingen das
Verhältnis zu den Berbersprachen zu klären: Das Altkanarische
und das Berberische haben gemeinsamen Grund, ein
gemeinsames Substrat, was spätere Reberberisierungen durch
spätere Zuwanderung - nach der Conquista - nicht ausschließt.
Dieser gemeinsame Grund ist vermutlich auch dem Ligurischen
und Berberischen eigen und findet sich auch, mit oder
ohne Vermittlung des Berberischen, als alter Grund im Baskischen
- also nicht so, daß das Baskische einfach eine Fortsetzung
des Iberischen wäre, wie Alexander v. Humboldt und spätere
meinten und auch nicht so, daß das Baskische etwa eine Art
entartetes Berberisch wäre, wie dies v.d.Gabelentz meinte.
Damit ist auch das Problem der Schrift gesetzt; inwieweit
können Tifinagh und die altnumidischen Inschriften zur Deutung
kanarischer Inschriften herangezogen werden?
d) Wölfels etwas unglücklicher Ausdruck "Weißafrika" bringt
das Problem der alteuropäischen Zusammenhänge und des
Mediterranen mit herein. Klar ergibt sich sich, daß es neben
dem Indogermanischen und dem Semitischen noch eine dritte
Sprachwelt gibt, die der alten Mediterranea. Damit ist ein vorgeschichtlicher
Gesamtzusammenhang gemeint, der den ganzen
Mittelmeerraum umfaßt, mit Weiterungen, die nach Westund
Mitteleuropa, Kleinasien und zum Kaukasus reichen, ebenso
zum Nahen Osten, mit Ausstrahlungen bis in den indischen Raum.
Natürlich handelt es sich nicht um eine Sprache, die allen verständlich
von den Säulen des Herakles bis zum Kaukasus ge-
8
sprochen worden wäre -wohl aber eine Fülle untereinander mehr
! oder weniger verwandter Dialektgruppen und -populationen,
die verschiedenartig überschichtet und ausgeformt waren: um
eine Art Einheit in Vielheit.
Das mediterrane Substrat ist immerhin so deutlich, daß
an seiner Existenz nicht gezweifelt werden kann, wenn auch im
einzelnen die Dinge, die Deutungen im Fluße sind und man der
Tendenz mancher Linguisten (Hubschmid, Devoto) allzu viel
fürvoridg. zu erklären, mit vorsichtiger Kritik entgegentreten
muß.
Man sollte nicht von Weißafrika sprechen - das Wort hat,
aus der Zeit, da es geprägt wurde, einen unangenehmen, ideologisch-
rassistischen Beiklang. Man sollte vom "mediterranen
Afrika" sprechen.
e) Damit sind aber auch archäologische, chronologische
und anthropologische Probleme gestellt. Hier hat natürlich auch
etwaige Feldforschung ihren Platz, die eben leider stark von finanziellen
Bedingungen abhängig ist. Ein besonderes Problem
stellen nun Fragen der Datierung dar, sowohl im kanarischen
wie im saharischen Raum; hier wäre noch vieles zu tun. Überall
mangelt es uns an absoluten Daten. Immerhin stehen einige
Ausgangspunkte fest, seitdem es sich zeigte, daß das westliche
Megalithikum wenigstens um 4000 v.Chr. anzusetzen ist,
mehr als ein Jahrtausend früher als man sich das gedacht hatte;
damit ist ein östlicher Ausgangsraum des Megalithikums,
etwa das Ostjordanland auszuschließen.
Aus dem ergibt sich das Sonderproblem, wie das kanarische
Megalithikum chronologisch und in seinem kulturellen
Inventar zu beurteilen ist.
f) Damit ergibt sich als eine Sonderaufgabe die frühe
Schiffahrt, deren mögliche Routen festzustellen und zu analysieren
sind. Was war möglich? Fest steht, daß die Vorfahren
der Kanarier auf dem Seewege angekommen sein müssen und
daß es sich um bewußte Kolonisation gehandelt haben muß,
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nicht um verschlagene Cro-Magnon-Leute oder Urberber. Daß
die Bewohner einiger Inseln keine Boote kannten, als die ersten
Europäer ankamen, beweist nicht, daß sie die Schiffahrt
nicht einmal gekannt hätten. Als wesentliche Folgefrage ergibt
sich die weitere Frage nach dem Ausgangspunkt: Nordwestafrika
oder Südspanien, verknüpft mit der weiteren Frage, handelte
es sich um eine einmalige "Invasion" oder um ein allmähliches
Einsickern, das vielleicht über Generationen hinweg dauerte
und von vorneherein verschiedenartige, wenn auch verwandte
Bevölkerungsgruppen betraf ?
g) Als Sonderfrage stellt sich die Frage nach möglichen
Beziehungen des Altkanarischen zum Indogermanischen. Für
einige wenige, aber schwer weg zu erklärende Spuren wollte
man die Wandalen verantwortlich machen oder die Keltiberer.
Eine direkte Berührung ist indessen wenig wahrscheinlich;
Beziehungen sind viel eher auf dem gemeinsamen Grund des
Mediterranen und Indogermanischen anzunehmen.
h) Als weitere Sonderfrage ergibt sich das Problem einer
möglichen Megalithsprache. Sie hängt auch mit dem Problem
der altkanarischen Anthropologie zusammen. Ein eigentliches
Megalithvolk ist sehr unwahrscheinlich, da die Verbreitung
megalithischen Denkens und Glaubens sicher durch Diffusion
von den westlichen Küsten Europas her erfolgte; es hat sicher
eine Art Kerngruppe gegeben, die aber gewiß eher religiös als
ethnisch formiert war. Es gab aber einen möglichen megalithischen
Wanderwortschatz, der in Reliktwörtern noch trümmerhaf
t angedeutet ist. Anthropologisch sind Zusammenhänge mit
dem Cro-Magnon-Komplex und den Menschen des Capsien zu
bedenken.
i) Mit der Frage nach dem Megalithikum ist auch die Frage
nach dem Wesen der altkanarischen Religion gesetzt, die sicher
kein Monotheismus war, wie Wölfel ursprünglich meinte;
es handelte sich um einen mehr oder weniger diffusen Hochgottglauben.
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j) Vom Sprachwissenschaftlichen her ist es unumgänglich,
l eine Reihe liebgewordener, aus derverg]eichenden indogermanistisch
betonten Linguistik her fast unterbewußt gewordene
Begriffe zu klären und zu analysieren: Begriffe, wie Stammbaum,
Sprachverwandtschaft, Ursprache, Urheimat, Diffusion,
Kontakt - und Konvergenz, Mischsprache, Lehnwort, Substrat,
Relikt.
k) Mit den Kanariern ist das Problem großer vorgeschichtlicher
Zusammenhänge wieder einmal gestellt, Zusammenhänge,
die wenigstens Nordafrika, das Mittelmeer, Westafrika, Westund
Mitteleuropa, Balkan, Kleinasien betreffen. Die Probleme
von Diffusion und Autochthonie sind wieder einmal zu
behandeln.
1) Als Sonderproblem stellt sich das Problem der Berbersprachen
und ihres möglichen weiteren Zusammenhangs. Die
Beziehung zu den semitischen Sprachen, aber auch zu den im
weiteren Sinne hamitischen Sprachen ist nicht einfach die der
Urverwandtschaft, a1s hätten sie je gemeinsame Vorfahren gehabt;
weit eher ist anzunehmen, daß beide eine gemeinsame Substratbasis
besitzen, deren Verhältnis zum mediterranen Substrat
diskutabe] ist; und daß es erst später zu einer sekundären Berührung
mit semitischen Sprachen kam, wie dies zum Beispiel
beim Altägyptischen der Fall ist. Die Berbersprachen geben uns
in ihrem noch gegenwärtigen Zustand, wenn wir von sekundären
Einflüssen durch das Arabische absehen, ein Bild davon,
wie Dialektpopulationen verwandter Sprachen ausgesehen haben,
bevor sie regionalisiert, systematisiert und zu einheitlichen Sprachgebilden
wurden.
m) Damit läuft endlich die Erforschung der Berbervölker
und der Sahara parallel; hierher gehören die Fragen, die
Ackerbau und Viehzucht im Sahararaum betreffen, die Chronologie
und Archäologie dieses Raumes; die Frage der pferdezüchtenden
und wagen benützenden Völker. In diesem Zusammenhang
sind auch Fragen wesentlich, die mit der Austrock-
11
lf(
nung der Sahara verbunden sind, Fragen der historischen
Geographie. Dazu kommen die Querverbindungen Nordafrikas
zum ägäischen Raum und zu den Griechen, kurz, das ganze
verwickelte Beziehungsgefüge, für das man den Ausdruck
griechisch-libyscher Komplex bilden könnte.
II. Bemerkungen zum Methodischen und zur SteJJung der
Wissenschaft
Fragen der Methode sind für jede Wissenschaft wesentlich.
Es gibt immer Leute, denen diese Fragen akademisch dürr,
abstrakt, blutleer erscheinen - ganz zu Unrecht, denn eine falsche
und unzulängliche Methode bringt falsche Ergebnisse oder
gar keine.
Aus der eben skizzierten Aufgabenfülle ergibt sich zunächst
eine methodische Grundforderung: Es muß interdisziplinär
verfahren werden. Niemand von uns könnte den gesamten
Problemkreis gleichmäßig beherrschen. Spezialisten und echte
Liebhaber im weniger streng wissenschaftlichen Bereiche -
und in irgendeinem Bereich sind wir immer Dilettanten im besten
Sinne des Wortes, Amateure - sind notwendig; aber der wahre
Spezialist ist nur der, der wenigstens die Problemlage aller an
sein engstes Fach angrenzenden Wissenschaften kennt; wer nur
eine Wissenschaft kennt, der kennt auch diese nicht. Er gehört
dann zu den Leuten, die immer mehr über immer weniger wissen.
Das heißt methodisch gesehen: Eine Wissenschaft erscheint
immer wieder als Hilfswissenschaft einer anderen.
Ferner ergibt sich, besonders für den Sprachwissenschaftler,
aber keineswegs nur für diesen, die Forderung, unsere
Denkgewohnheiten, die durch unsere Sprache bedingt sind, kritisch
zu betrachten. Indogermanistik und klassische Philologie haben
in uns- nicht nur in den Sprachbewußten! - bestimmte Denkhaltungen
erzeugt, die zwangshaft, axiomatisch geworden sind,
z.B. die strenge Trennung von Subjekt und Objekt in unserer
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Grammatik. Unterbewußt gewordene Sprach- und Denkgewohnheiten
sind nicht nur ein bequemes Kleid, sie können auch zur
Zwangsjacke werden. Das heißt keineswegs, daß wir auf die
kritische und methodische Schulung verzichten könnten, die uns
Indogermanistik, vergleichende Sprachwissenschaft und klassische
Philologie vermittelt haben -wir haben sie einzubringen
in die Betrachtung anderer Bereiche, die nicht mehr indogermanisch
bestimmt sind.
Im weiteren Sinne heißt dies, daß wir methodisch sowohl
durch Vergleichung, Analogie, Analyse des Beziehungsgefüges
zu Schlüssen und Ergebnissen kommen als auch durch die
"werkimmanente Analyse", um einmal einen Ausdruck der
Literaturwissenschaft zu übernehmen, d.h. durch Analyse des
Gegenstandes an und für sich. Immer ist Vorsicht geboten, wenn
wir negative Schlüsse ziehen, die wir nicht immer vermeiden
können.
III. Der Personenkreis des IC
Aus all dem ergibt sich auch die Frage des Personenkreises.
Dieser besteht in hohem Maße aus echten Liebhabern, die
ein persönliches und oft leidenschaftliches Interesse an der Sache
nehmen; leider hat das gute alte Wort "Dilettant", das einst einen
Liebhaber der schönen Künste bezeichnete, der persönlich und
nicht streng wissenschaftlich interessiert war, einen unangenehmen,
herabsetzenden Beiklang angenommen und bezeichnet
nun häufig einfach den Laien gegenüber dem Fachmann. Auch
das Wort Amateur ist gerade dabei, daselbe Schicksal zu erleiden.
Aber auch das leidenschaftlichste Interesse bedarf der
Orientierung an kritischen und methodischen Positionen, die
nun einmal Sache der strengen Wissenschaften sind.
In der Natur eines solchen relativ kleinen Personenkreises
liegt es, daß sich auch Phantasten, Schwarmgeister, Monomanen,
Außenseiter und Eigenbrötler anschließen oder anzu-
13
schließen versuchen, um gehört zu werden - Leute, bei denen
Phantasie und Spekulation die Stimme der Vernunft übertönen.
Das heißt nicht sagen, daß es nicht außerhalb des streng
wissenschaftlichen Betriebes, der häufig in Routine zu erstarren
droht, Funde zu machen gäbe; das heißt nicht, daß es nicht
außerwissenschaftliches Wissen geben könnte. Denken Sie an
die Welt der Alchemie, deren Symbole eine Fülle von psychologischen
und erkenntnismäßigen Einsichten enthalten, nicht
nur in Symbolen, sondern auch in Allegorien, hermetischen
Verschlüsselungen, Rätseln und Paradoxen.
Da aber letztlich alle Bereiche des Wissens und der
Wahrheiten zusammenhängen, so darf es keine fundamentalen
Widersprüche geben: Die Hohlwelttheorie ist unter jedem
Betracht pathologischer Irrsinn, der nur psychiatrisch geklärt
werden kann. Nicht viel besser steht es mit Hörbigers "Glazialkosmogonie"
(1). Von der Bewohnbarkeit der Sonne konnte
William Hersehe 1, der bedeutendste Astronom seiner Zeit im
18. Jh. nur reden, weil er wie seine ganze Zeit nicht die geringste
Vorstellung vom Schichtenaufbau, vom Energiehaushalt und
von den Gravitationsweisen der Sonne hatte, wobei Herschel
an Wesen unserer Organisation dachte (2).
Gerade weil die Wissenschaften keine letzten Antworten
geben können, treten außerwissenschaftliche Systeme, die mit
absolutem Anspruch auftreten, an viele Menschen heran und
versprechen endgültige Antworten: Theosophie, Anthroposophie
(noch mit wissenschaftlichem Anspruch), Jugendsekten,
Neo-Rosenkreuzer etc.
Wissenschaft gibt beschränkte, aber ehrliche Antworten.
Hier ist freilich auch der Versuchung zu gedenken, die besonders
mit dem methodischen Positivismus heraufkam, das nicht
Erklärbare für nicht vorhanden zu er klären. Als Beispiel nennen
wir die Parapsycholog.ie. Die parapsychischen Phänomene
gibt es ohne jeden Zweifel, aber wie sie zu interpretieren und
zu erklären sind, das ist die -wissenschaftliche! - Frage.
14
IV. Geisteswissenschaft und Naturwissenschaft
Im 19. Jh. entstand die Trennung von Natur- und Geisteswissenschaft,
die mit dem Heraufkommen der modernen Naturwissenschaften
und der modernen Technik gegeben war. In
unserem Jahrhundert spricht man von einer Krise der Geisteswissenschaften;
diese ist aber weniger eine Krise der Geisteswissenschaften,
als vielmehr eine Krise der Wissenschaften
überhaupt und der Wissenschaftler. Sie zeigt sich in der wachsenden
Kritik, besonders eben an den technisch ausgerichteten
Natur-Wissenschaften, besonders in der Kritik an der Atomphysik
(3 ). Sie entzündet sich an der blinden Wissenschaftsgläubigkeit
und an der scheinbaren Voraussetzungslosigkeit der
Wissenschaft.
Der Angriff der modernen Naturwissenschaften führte zu
einer Verdrängung oder Beschränkung der sogenannten
Humaniora, die einmal fast allein das klassische Gymnasium
beherrscht hatten. Aber es ist besonders deren Einengung durch
bloße Schulfüchse auf die Philologie der klassischen Sprachen,
endlich auf bloße grammatische Exerzitien gewesen, die den
Angriff der Naturwissenschaften herausforderte. Am Ende des
vorigen Jahrhunderts versuchte ein Mann wie Wilhelm Dilthey
( 4) alle Wissenschaften, die sich auf den Menschen beziehen,
als die Geisteswisssenschaften zu definieren und zu begründen.
Er nannte ausdrücklich (5) Geschichte, Nationalökonomie, Rechtsund
Staatswissenschaften, Religionswissenschaft, Literatur und
Dichtung, Raumkunst, Musik, Philosophie, Psychologie. Es fällt
dabei auf, daß die Sprachwissenschaften nicht genannt werden,
aber auch die Soziologie nicht. Besonders aber fällt die Nichtnennung
der anthropologischen Wissenschaften auf.
Eine solche Trennung ist nicht haltbar. Mathematische
Grundlagenforschung und reine Mathematik sind im strengen
Sinne des Wortes gar keine Naturwissenschaften. In der Anthropologie
kann man ihren physiologischen und biologischen
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Teil in Wirklichkeit richt von ihrem philosophischen und kulturellen
Bereich trennen. Was hätte Dilthey zur experimentellen
Psychologie gesagt? Was etwa zur Paläobotanik oder zur
historischen Geographie ? Schon eine solche flüchtige Betrachtung
zeigt, daß hier Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften
möglicherweise unterschieden, aber nicht getrennt werden
können. In Wirklichkeit müssen wir einfach sagen: Viele Wissenschaften
gehören beiden Bereichen zugleich an.
Dies gilt in besonderem Maße für den Arbeitsbereich des
IC. Jede Unterscheidung zwischen bloßer Wortwisssenschaft,
wie man die Geisteswissenschaften gelegentlich herabsetzend
nannte, und sogenannten Tatsachenwissenschaften ist hier müßig.
Im Aufgabenbereich des IC überschneiden sich die beiden
Möglichkeiten der Wissenschaften unauflöslich; damit ist zugleich
die Methode der gegenseitigen interdisziplinären Stütze
am deutlichsten gegründet: Natur- und Geisteswissenschaftliches
stützt sich gegenseitig.
Man glaubte, die Naturwissenschaften von den Geisteswissenschaften
dadurch abheben zu könner, daß man sagte, den
Naturwissenschaften kommt das Experiment zu, das der Be~
stätigung und Verifizierung dient, die Geisteswissenschaften
müssen leider darauf verzichten, infolgedessen sind sie nicht
"exakt". Darin zeigt sich die Überschätzung des Experiments
und der starren Naturgesetzlichkeit, die z.B. für das Innere des
Atoms gar nicht zu gelten scheint. In Wirklichkeit kennt aber
auch der Bereich der Geisteswissenschaften sehr wohl das Experiment:
Der Stoff der Geschichte und des sprachlichen Werdens
stellt eine ununterbrochene Folge geglückter und nicht geglückter
Experimente dar. Die Trennung in exakte und nichtexakte
Wissenschaften ist überholt (6).
V. Zum Begriff des Verstehens
Im tiefsten Grunde geht es um die Analyse, die lnterpre-
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tation, das Erkennen, endlich, als Steigerung davon, das Verstehen.
Wir versuchen in einen Teilbereich menschlichen Tuns,
menschlicher Geschichte, menschlicher Kultur oder Sprache
nicht so sehr einzudringen, sondern eben ihn aus sich selbst heraus
und in seinen Beziehungen zu verstehen. Wirkliches Verstehen
bringt das Fremde ein und heim, wir eignen das Fremde,
das Andere uns an. Indem wir verstehen, stellen wir uns an den
Platz des anderen. Eine andere Weise des Verstehens beruht
auf der Vorstellung des Berührens und Zugreifens: Wir machen
uns einen Begriff, wir begreifen. Das gr. katalambanein,
das lat. comprehendere drücken denselben Gedanken aus (7).
Verstehen können wir aber nur, wenn wir im tiefsten auf
gemeinsamem Grunde stehen, wenn zwischen Erkennendem
und Erkannten schon eine verborgene, latente Beziehung besteht:
Es gibt nichts, das absolut fremd wäre (8).
Der Begriff des Verstehens stammt aus der alten Philologie
und bezeichnet ursprünglich das verstehende Eindringen
in einen - schwierigen - Text der klassischen Sprachen und der
Bibel. In dieser Hinsicht findet sich der Begriff noch bei Schleiermacher,
für den also Verstehen noch eine speziell philologische
Disziplin ist, aber doch schon mit Anwendungsmöglichkeiten
in anderen Bereichen (9). Bei Dilthey (10) ist das Verstehen
ein literarisch-künstlerischer Prozeß, der in erster Linie
auf dem Erlebnis des Dichters selbst beruht. Im Verstehen,
sagt Dilthey, gibt das Leben über sich selbst Auskunft - eine
typisch vage, "romantische" Definition, die uns nicht viel weiter
bringt.
Als Interpretation ethnologischer Zusammenhänge und
kultureller Befunde faßt das Verstehen Fritz Graebner auf; hier
wird der Begriff auf den ethnologisch-anthropologischen Bereich
übertragen ( 11).
Bei Gadamer (12) merkt man, daß er ein Heidegger-Schüler
ist, indem er etymologisch spielend deutet. Nach ihm beginnt
jedes Verstehen mit einem Vor-Urteil, was aber eben positiv
17
gemeint ist. Das ist im Grunde Bultmanns Begriff "Vorverständnis"
(13).
VI. Zum Begriff des Wahrscheinlichen
Wo eine Wissenschaft mit letztgültigen Antworten nicht
aufwarten kann, also nicht mit exakten Lösungen - die es im
Grunde nicht einmal in den Naturwissenschaften gibt - beruht
das Beweisverfahren auf Wahrscheinlichkeitserwägungen. Diese
können statistisch untermauert werden, womit ein mathematischer
Anschein erweckt wird. Die Mathematisierung des Begriffs
beginnt mit Pierre Pascal (14 ). Dies bedeutet dennoch
nicht, daß der Begriff der reinen Mathematik angehört, sowenig,
wie Unendlichkeit ein wahrer mathematischer Begriff ist, obgleich
mit ihm gerechnet wird (15). "Wahrscheinlich" tritt zuerst
als Adjektiv a.uf und gibt, vermutlich zuerst im Holländischen
des 17. Jahrhunderts, lat. verisimilis wieder; es enthält
zugleich den Bedeutungsgehalt von lat. probabilis, das dem gr.
dokimastikos nachgebildet ist; dies heißt ''was gut zu heißen ist".
Für die Geisteswissenschaften und den Zwischenbereich zu den
Naturwissenschaften hinüber ist Wahrscheinlichkeit ein Erkenntnismittel.
Wir sprechen von einer gehäuften, einer multiplikativen
oder akumulierenden Wahrscheinlichkeit. Das heißt immer auch
die Rahmenbedingungen, den Wahrscheinlichkeitsrahmen
abstecken; dabei haben wir Annäherungen, mit Approximationen
zu tun. Wahrscheinlichkeit ist das Gleichgewicht zwischen
Möglichkeit und Gewißheit. Wo wir von höchster Wahrscheinlichkeit
sprechen, können wir sehr zufrieden sein.
Anmerkungen:
(1) Hanns Hörbiger; siehe Philipp Fauth: Hörbigers Glazialkosmogonie. Eine
neue Entwicklungsgeschichte des Weltalls und des Sonnensystems, Kaiserslautern
1913, Neudruck 1925 Leipzig, pp.40-48.
18
(2) William Hersehe! 1738-1822; Cyrano de Bergerac 1619-1655; Emmanuel
Swedenborg 1688-1772.
(3) Friedrich Wagner: Die Wissenschaft und die gefährdete Welt. Eine Wissenschaftssoziologie
der Atomphysik, München 1964.
(4) Wilhelm Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer
Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte, Bd.l, Leipzig
1881 = Gesammelte Schriften, Stuttgart/ Göttingen 1959, Bd. 1; derselbe:
Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, in: Abhandl.
d. Preuß. Ak. d. Wisssensch. Phil. Hist. Kl. 1910 = Gesammelte Schriften Leipzig
1927, pp.79-188. Zur modernen Krise vgl. Manfred Riede!: "Geisteswissenschaften
- Grundlagenkrise und Grundlagenstreit" in: Meyers Enzyklopädisches
Lexikon Bd. 9, Mannheim 1973, pp.838-843.
(5) Dilthey, Aufbau der geschichtlichen Welt, op.cit. nach suhrkamp taschenbuch
wissenschaft pp. 89-91.
(6) Richard Meister: Geschichte des Doktorats der Philosophie an der Universität
Wien, in: Sitzungsb. d. Öst. Akad. d. Wissenschaften . Phil. Hist. Kl. 223/2,
pp.1-158, bes. p.64.
(7) Walter Brugger: Philosophisches Wörterbuch, Wien 1948, pp.387-388; Johannes
Hcifmeister: Wörterb. der philosophischen Begriffe, Leipzig 1944, p.729.
(8) Theodor Reik: Hören mit dem dritten Ohr. Die innere Erfahrung eines
Psychoanalytikers. Fischer-TB 1983, zuerst Hamburg 1976, pp.270-281.
(9) Friedrich Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik, Berlin 1838, suhrkamp
taschenbuch wissenschaft Frankfurt a/M. 1977.
(10) Wilhelm Dilthey: Das Erlebnis und die Dichtung, Berlin 19103
•
(11) Fritz Graebner: Methode der Ethnologie, Heidelberg 1911, in: Kulturgeschichtliche
Bibliothek, 1. Reihe: Ethnologische Bibliothek. Kritisches zu Graebner:
Maria-Barbara Watson-Franke: lhterpretation und historische Methode.
Kritisches zu Fritz Graebner, in: Wiener ethnohistorische Blätter 6, Wien 1973,
pp.31-42.
{12) Hans Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen
Hermeneutik, Tübingen 1 %0, 1%6, 6. Aufl.
(13) Walter Muschg: Die Zerstörung der deutschen Literatur, 1956. Vgl. Joachim
Wach zum historischen Bereich: Das Verstehen. Geschichte der hermeneutischen
Theorien des 19. Jahrhunderts 1-3, Tübingen 1926-1933.
(14) Pierre Fermat 1601-1665; Blaise Pascal 1623-1662; Jacob Bernouilli 1674-
1766
(15) Fritz Mauthner, Wörterbuch der Philosophie, op.cit. 2, 568 - 578.
(16) Vgl. noch Alexius Meinong: Über Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit, Graz
1915; 1972 in der Grazer Gesamtausgabe; Rudolf Carnap: Induktive Logik und
Wahrscheinlichkeit, Wien 1959; Th. Erismann: Eine Theorie der Wahrscheinlichkeit
in ihrer Geltung im Naturgeschehen, Wien 1954.
19