Almogaren XX/ 1 / 1989 Hallein 1990 20-31
Helmut Stumfohl
Die Urbevölkerung der Kanaren - Inselberber?
Eine Klarstellung
Zwei Versuche, die Herkunft der alten Kanarier zu bestimmen,
überkreuzen sich; der eine möchte dartun, daß sie erst
römerzeitlich die Insel betraten oder gar numidische Flüchtlinge
vor den Römern gewesen seien; der zweite, neuere Versuch,
stark ideologisch, chauvinistisch, separatistisch bestimmt,
will sie einfach für Inselberber halten, unabhängig von chronologischen
Überlegungen.
In der krassesten Form dieses Inselseparatismus, dem
"berberismo", wirkt eindeutig eine ideologische Komponente
mit: Das afrikanisch-berberische Erbe soll betont werden, man
will zugleich autochthon und afrikanisch sein. Wir sehen hier
Widerspiegelung und Übertragung der Bemühungen afrikanischer
Völker, sich von allem abzuheben, was einmal mit dem
kolonialen Status zu tun hatte, ihre "africanita", ihre "negritude"
zu entdecken.
Nun wird niemand bestreiten, daß es starke Beziehungen
der altkanarischen Sprachen zu den Berbersprachen, zum
Numidischen und Libyschen gibt; das hat schon Wölfel zur Genüge
getan. Er hat aber gleichzeitig betont - und daran hat sich nichts
geändert - daß diese Beziehungen nicht ausreichen, die altkanarische
Bevölkerung sprachlich und ethnisch zu bestimmen.
Im kanarischen Separatismus - politisch eine vöJlig unbedeutende
Gruppe - sind wieder einmal die "terrible simplificateurs"
am Werke, die Jacob Burckhardt für das 20. Jahrhundert
kommen sah ( 1 ).
Was Jacob Burckhardt nicht so deutlich sehen konnte, ist
die Tatsache, daß die Bestrebungen solcher "schrecklichen
20
Vereinfacher" ideologisch verstärkt, d.h. verschlimmert werden
können; und dies dazu noch mit nationalen Eitelkeiten verknüpft.
Man braucht die Beispiele nicht lange zu suchen: Die Türken
erklären, alle Zyperngriechen seien nichts als die Nachkommen
gewaltsam christianisierter Türken, während historisch genau
das Umgekehrte zutrifft: Die Inseltürken stammen zum guten
Teil von islamisierten Griechen ab, die infolge gesellschaftlichen
oder finanziellen Drucks (Kopfsteuer für "Ungläubige"!)
sich entschlossen, den Islam anzunehmen. Die offizielle albanische
Ideologie macht die Albaner zu "reinblütigen" (was immer
das heißen soll) Illyrern, während doch alles darauf hindeutet,
daß die Albaner einer sehr komplizierten Mischung und Überlagerung
thrakischer und illyrischer Elemente entstammen, die
nicht nur eine vorindogermanische Bevölkerung überschichtete,
sondern auch im Süden des heutigen Siedlungsgebietes Gruppen
bulgarisch-mazedonischer Zugehörigkeit aufnahm und einschmolz.
Sprachliche Heimat und ethnisches Bewußtsein müssen
sich nicht decken, wie eine "romantische" Ansicht will. Viele
Terroristen, die angeblich für ein freies Baskenland streiten,
sind gar keine wirklichen Basken, ja können gar keinen baskischen
Dialekt; viele madjarischen Fanatiker und Chauvinisten
vom vorigen Jahrhundert an bis zum heutigen Tage sind gar
keine geborenen Madjaren, sondern Slowaken, Schwaben, Juden ....
Petöf i war Sohn slowakischer Eltern und hieß eigentlich Petrovic.
Elsässer deutscher Muttersprache zählen und zählten
zu den chauvinistischsten Franzosen. Die Liste ließe sich beliebig
fortsetzen.
In diese Welt gehören - als bescheidene Anfänger - die
kanarischen Separatisten in ihrer schärfsten Ausprägung wie
Antonio Cubillo Ferreira (2). "Wir werden in den Schulen die
Berbersprache lehren" erklärt Cubillo. Damit zeigt er bereits,
wie wenig er von der Sache wirklich versteht. Welche Berbersprache
will er denn lehren lassen? Schlöch? Tuareg? Kabylisch?
21
Alte Völker oder Stämme zimmerten sich eine Stammbaumideologie,
erfanden sich einen gemeinsamen Stammvater;
die Vertreter des "berberismo" entdecken ihren berberischen
Stammvater in seiner afrikanischen Heimat. Ein anderer
Vertreter ist J ose Antonio Cebrian Latasa, dem Manuel Suarez
Rosales erwidert, der vor allem die falschen Etymologien angreift,
die Cebrian zur Unterstützung seiner Thesen (Guanchen
- Berber) vorbringt (3).
Aber auch bei kanarischen Wissenschaftlern entdecken
wir Bestrebungen, die alten Kanarier einfach zu Berbern zu
ernennen. Man kann aber den ganzen Fragenkomplex nicht
beurteilen, wenn man sich nicht Klarheit über Herkunft und
Beziehungen des Berberischen zu verschaffen versucht.
Die althergebrachte Meinung nun, die eine hamitischsemitische
Sprachgemeinschaft behauptet, mit einer Ursprache,
wonach alle semitisch-hamitischen Sprachen nach dem
Stammbaummodell abstammen, ist längst aufgegeben. An die
Stelle des veralteten linearen genetischen Modells tritt die Ansicht,
daß die hamitischen Sprachen, insbesondere die berberischen
Sprachen und das Altägyptische, starke, sekundäre Beienflussungen
von den semitischen Sprachen erfahren haben. Es gab
auch keine Ursprache des Berberischen, von der aus sich die
einzelnen Berbersprachen bzw. -dialekte abgezweigt hätten. Schon
der Altmeister der Semitistik und lingustischen Afrikanistik,
Carl Brockelmann, bezweifelte, daß es je einen hamitischen
Sprachstamm gegeben hätte, aus reinen Wortanalysen heraus,
ohne daß er neuere lingustische Theorien heranziehen hätte
können, wie Überlegungen zu den Arten der Sprachverwandtschaft,
der Konvergenz und der linguistischen Populationstheorie
(4).
Schon solche Erwägungen machen es wahrscheinlich,
zusammen mit chronologischen Ansätzen, daß die alten Kanarier
nicht einfach ein versetzter Berberstamm sind, der sich auf
den einzelnen Inseln verzweigte und aufgespalten hätte. Das
22
neolithisch-megalithische Inventar der alten Kanarier setzt eine
wahrscheinlich schon mesolithische Einwanderungszeit voraus,
eine Sonderentwicklung, die schon begonnen haben muß, als
noch von eigentlichen Berbern keine Rede sein konnte; man
spricht am besten von Proto-Berbern.
Aus der geographischen Nähe zu Afrika und allgemeineren
afrikanischen Beziehungen muß nicht geschlossen werden,
daß die Einwanderer, die natürlich einmal zu Schiff kamen, auch
aus Afrika gekommen sein müßten (5). Wind- und Strömungsverhältnisse
lassen mindestens ebenso sehr eine Herkunft aus
dem südwestiberischen Raum als möglich erscheinen. Das schließt
nicht aus, daß es nicht auch proto-berberische Elemente aus
dem nordwestafrikanischen Raum gegeben haben kann, die die
sprachlichen Elemente verstärkten, die auf das Berberische
hinzielten.
Eigentliche berberische Elemente können schon vor der
Conquista eingeströmt sein, aber sie können nicht sehr bedeutend
gewesen sein, denn sie müßten den Islam und arabische
Spuren mitgebracht haben. Die berberischen "maurischen"
Gruppen, die nach der Conquista auf die Inseln, besonders
Lanzarote und Fuerteventura, kamen, wurden jedenfalls rasch
hispanisiert und christianisiert, so sehr, daß islamische Spuren
nicht nachweisbar sind.
Im Mangel solcher Spuren liegt ebenfalls ein Hinweis, daß
die Besiedlung der kanarischen Inseln also mindestens vor der
Islamisierung Nordwestafrikas vor sich gegangen sein muß,
tatsächlich aber eben sehr viel früher.
Auch die Phönizier, unbeschadet ihrer möglichen Entdekkung
der Kanaren, der Azoren und Madeiras, die Henning für
sehr wahrscheinlich hält (6), haben keine besondere Rolle in
der Akkulturation der alten Kanarier gespielt, wohl aber in der
der Libyer, weniger vielleicht der Numidier. Tejeras Meinung
(7), der aus einem einzigen Amphorenfund - Nachahmung
punischer Amphoren ohne Gebrauch der Töpferscheibe auf
23
Tenerife - auf phönizische Akkulturation schließt, geht jedenfalls
zu weit. Es genügt, gelegentlichen Kontakt anzunehmen
oder einen Zufallsfund.
Tejera hält Mogador - heute As-Sawirah, "Die Prächtige"
(französisiert Essaouira) - für einen möglichen Ausgangspunkt
phönizisch akkulturierter Berber, die auf die kanarischen Inseln
übergesetzt seien. Bei Mogador - die heutige Stadt wurde
erst im 8. Jahrhundert neu gegründet - handelt es sich um einen
karthagischen Handelsplatz, nicht um eine integrierte Dauersiedlung.
Hannos Bericht (Anm. I) wonach die Fahrt neuen
Siedlungen - mit insgesamt 30.000 Menschen ! - gegolten habe,
ist nicht wörtlich zu nehmen. Offensichtlich ging es in Wirklichkeit
um Gold (Anm. II) und um die Neubesetzung schon
vorhandener, vielleicht menschenleerer karthagischer (nicht altphönizischer
Stützpunkte. Eine einzige Stadt wird, sieht man
Hannos Text genauer an, tatsächlich als Neugründung genannt,
Thymiaterion, weit im Norden, deren merkwürdiger Name -
"Räucherf aß" - auf Handel mit Räucherharzen deutet. Mogador
(Anm. III) war ein reiner Handelsplatz mit geringer Dauerbesiedlung,
dessen Ro11e in einer möglichen Akkulturation
berberischer Stämme nie groß gewesen sein kann. Dazu kommt,
daß dieser Handelsplatz dem reinen Zwischenhandel mit vorübergehender
Lagerung von Gütern gedient haben dürfte, wenn
man bedenkt, daß das heutige Mogador durch einen großen
Wüstengürtel von seinem fruchtbarem Hinterland getrennt ist
und die Austrocknung der Sahara in der 2. Hälfte des letzten
vorchristlichen Jahrtausends wohl schon annähernd den heutigen
Stand erreicht haben dürfte. Eine karthagische Akkulturation
mußte nebenbei auch schon libysche Elemente enthalten
haben. Aber das gesamte Kulturinventar der alten Kanarier
- sowohl in der Sachkultur wie in der geistigen Kultur - zeigt
gerade keine irgendwie nennenswerte Beeinflussung durch die
Phönizier bzw. karthagischen Punier. Man so1Ite Widerspiegelungen
der punisch-libyschen Tanit oder des Baal Hammon
24
erwarten. Das ganze Geflecht der punisch-libyschen Beziehun-
• gen, in dem es sicher auch wechselseitige Beeinflussungen gab,
findet sich eben nicht auf den Kanaren.
Schlußfolgerungen aus Einzelfunden sind, wie alle isolierten
Phänomene, mit Vorsicht aufzunehmen. Man erinnere sich
in diesem Zusammenhange an die voreiligen Schlüsse, die aus
den Keramikfunden von Valdivia in Ekuador gezogen wurden.
Die ( tatsächlich verblüffende) Ähnlichkeit mit Keramiken der
japanischen Jomonkulktur führte zu viel zu weit gehenden
Folgerungen transpazifischer Einflüsse, ja der Entstehung der
indianischen Hochkulturen aus Asien (8).
Ein isoliertes Vorkommen einer libysch-berberischen
Inschrift auf einem Felsen in Süden Tenerifes, darf nicht zu so
weitreichenden Schlüssen führen, wie Tejera sie zieht. Er sieht
in diesem Fund den Beweis dafür, daß die Urbewohner diese
Schrift benützten, "die die gleiche Herkunft wie die Sprache
der Guanchen hat" (9).
Aus dem Jahre 1967 liegt uns ein Bericht über Blutgruppenbestimmungen
auf Tenerif e vor ( 10) Sie bringen - m.A. noch
immer auf zu geringer statistischer Breite - das Ergebnis, daß
altkanarische Mumien einen hohen Anteil an Blutgruppe 0
aufweisen, gegenüber der rezenten Bevölkerung, die einen zu
erwartenden (allgemein südeuropäisch-iberischen) hohen Anteil
an den Blutgruppen A und B aufweist. Ein isolierter Berberstamm
- die Ait Hadidou - wies ebenfalls einen hohen Anteil
an O auf. Daraus kann nun durchaus kein sicherer Schluß auf
die Herkünfte gezogen werden, nur der, daß die vors panische
Bevölkerung - genetisch ''verdünnt" und durchmischt mit einem
hohen spanischen Anteil - dennoch fortlebt, in einem Anteil,
der einer Durchmischung und Selektion nach nicht ganz 20
Generationen entspricht. Blutgruppenuntersuchungen haben
für sich allein keinerlei Beweiskraft; sie sind nur in Verbindung
mit anderen Methoden, historischer, linguistischer, ethnographischer
und geographischer Art brauchbar.
25
Man wird dabei an Heyerdahls Fehlschlüsse aus Blutgruppenuntersuchungen
auf den Tuamotu-Inse]n erinnert ( 11 ).
Immerhin zeigt die Blutgruppenanalyse einen hohen Anteil
spanischer Gene, was man ja ohnedies wissen kann; nur der
"berberismo" nimmt dieses spanische Erbe nicht zur Kenntnis.
Die Beziehungen zwischen Kanariern und Berbern sind
eben verwickelter als es sich die "schrecklichen Vereinfacher"
vorstellen, was ja für einen großen Teil der sprachlichen Wirklichkeit
gilt. Diese Forschungs'richtung, zuerst von Wölf el eingeschlagen
(12), von Biedermann (13) fortgeführt und ergänzt
und erweitert durch den Verfasser (14), entspricht am ehesten
der Komplexheit der sprachlichen und historischen Erscheinungen.
Es kann keine Rede davon sein, daß etwa die alten Guanchen
schlechthin einen Berberdialekt sprachen (15).
Eine kurze Zusammenfassung unserer Vorstellungen bzw.
Ergebnisse:
1) Die Berbersprachen sind eine lose Einheit einander nahestehender
Dialekte, in zahlreichen Übergangs- und Konvergenzformen,
die nie eine genetische Einheit im Sinne eines reinen
Stammbaummodells gebildet haben ( 16). Berührungen mit
semitischen Sprachen sind sekundär und beruhen nicht auf
gemeinsamer Abstammung. Außerdem können weitere Gemeinsamkeiten
auch auf einen gemeinsamen Substratgrund innerhalb
des mediterranen Substrats zurückgehen.
2) Die Berbersprachen widerspiegeln einen sehr altertümlichen,
gleichsam, musealen Zustand einer Dialektpopulation,
die es nie zu überregionalen Sprachen, Schriftsprachen oder
Nationalsprachen im strengen modernen Sinne der Begriffe gebracht
haben. Sie geben uns ein Beispiel dafür ab, wie auch andere
Sprachgruppen in für uns schriftlich nicht faßbarer Zeit beschaffen
gewesen sein werden.
3) Ein loser, aber deutlicher Zusammenhang mit dem mediterranen
Substrat ist gegeben. Den sprachlichen Zustand dieses
Bereichs muß man sich, etwa nach dem Muster der Berberspra-
26
chen, als eine weitgespannte Dialektpopulation vorstellen. D.h.
· eine lose Gemeinschaft untereinander mehr oder weniger
ähnlicher bzw. verständlicher Dialekte in verschiedenen Entwicklungsstufen
und Verwandtschaftsgraden, die auf verschiedene
Weise zustande kamen, durch Abstammung, Konvergenz,
Ausgleich, Mischung, Überlagerung etc. Für das ganze Gefüge
gilt als Kurzbeschreibung: Einheit in Vielheit.
4) Die Nachrichten über die gegenseitige Verständlichkeit
bzw. Unverständlichkeit der kanarischen Dialekte sind widersprechend
und verworren. Da aber gelegentlich von Dolmetschern
die Rede ist, muß es wenigstens einige kanarische
Sprachen gegeben haben, die den Sprechern anderer Inseln oder
Inselbereiche schwer- oder unverständlich waren. Niccoloso da
Reccos Bericht - etwa 1341 für seine florentinischen Auftraggeber
verfaßt (17)- enthält einen Hinweis auf Dolmetscher. Der
sogenannte Canarien - eine Handschrift mit einem manipulierten
oder gefälschten Teil - der die Eroberung Lanzarotes,
Fuerteventuras und Hierros durch die normannisch-französische
Familie Bethencourt beschreibt (18), spricht von verschiedenen
Sprachen und Gesetzen und daß für den Verkehr zwischen
Fuerteventura und Lanzarote bzw. Hierro Dolmetscher
nötig waren. Mindestens einige der Inselsprachen waren untereinander
unverständlich.
5) Das führt zu weiteren Fragen und Folgerungen. Um
welche Berbersprache sollte es sich denn nach Meinungen der
"Berberisten" bei der Einwanderung auf die Inseln gehandelt
haben? Wie weit sind die Beziehungen der einzelnen Inselsprachen
oder -dialekte zu einzelnen Berbersprachen gleichmäßig
zu beurteilen?
6) Es scheint, daß Gran Canaria, Tenerife und Gomera
Sprachen hatten, die dem Berberischen -welcher Sprache? -
etwas näher standen, wenigstens nach Gaspar Fructuoso ( 1522-
1591 ), einem Portugiesen der Azoren (19). Vielleicht hat auf
diesen Inseln eine Art Berberisierung oder Reberberisierung
27
stattgefunden?
7) Aber mindestens die ersten Einwanderungswellen, die
früh- oder gar vormegalithisch geprägt waren, kamen aus dem
iberischen Raum, der kulturell und anthropologisch vom nordwestafrikanischen
Raum kaum verschieden gewesen sein wird,
abgesehen von der Zeitstellung. Sie gehörten einem proto-berberischen
Substrat an; erst dessen nordwestaf rikanische Ableger
entwickelten sich selbständig zum spezifisch Berberischen
weiter; vielleicht kamen weitere schon berberische Elemente
aus diesem Raum auf die Inseln.
8) Eine Durchsicht der sprachlichen Materialien Wölfels
zeigt, daß nur etwa ein gutes Drittel aus berberischen Materialien
gedeutet werden kann. Ein Teil des nichtberberischen Wortschatzes
ist zweifellos isolierter Entwicklung zuzuschreiben; durch
Verkümmmerung und Vernachlässigung der Schiffahrt - über
deren Gründe man spekulieren kann -wurde die Entstehung
von Inselisolaten begünstigt. Ein weiterer Anteil des Wortschatzes
dürfte dem proto-berberischen oder mediterranen Substrat
entstammen. Gleichwohl gab es eine beschränkte Schiffahrt
entlang der einzelnen Inseln, aber wenig Schiffsverkehr von Insel
zu Insel.
9) Wäre die Einwanderung erst römerzeitlich oder zur punischen
Zeit vor sich gegangen, dann wäre es schwer verständlich,
daß sich überhaupt keinerlei Spuren von Metallbenützung
und der Nutzung anderer Güter fanden, die dann vorauszusetzen
wären -wenigstens Nachahmungen bronzener oder eiserner
Dolche oder Lanzenspitzen, die eine Anschauung der
Metallformen verrieten, wären dann vorauszusetzen. Auch aus
diesem Grunde folgt, daß wen.igstens die Einwanderung der
sprachlich und kulturell prägenden Gruppen eben vorher stattgefunden
haben muß.
10) In der Analyse der sprachlichen Beziehungen des Altkanarischen
durch Wölfel wird ein Problem sichtbar, das er vielleicht
nicht mit der notwendigen Schärfe ins Auge gefaßt hat
28
oder, was noch wichtiger ist, dessen Folgerungen nicht mit ge-i
nügender Deutlichkeit dargestellt wurden. Indem Wölf el die
offensichtlichen, aber eben keinesfalls ausschließlichen Beziehungen
zum Berberischen etymologisch aufzudecken versuchte,
fand er sich fortwährend gezwungen, sozusagen wahllos, bald
die eine, bald die andere Berbersprache heranzuziehen, ja auch
weiter entfernte Sprachen wie Hausa etc. Dies aber eben nicht
so, daß etwa einem Inseldialekt eine Berbersprache besonders
entsprochen hätte, sondern wiederum gänzlich wahllos. Daraus
kann nur der Schluß gezogen werden, daß jene sprachlichen
Mittel, die berberisch zu deuten sind - oder analog dem
Berberischen - größtenteils eben schon früh anzusetzen, d.h.
vor der Ausbildung der heutigen berberischen Dialekte; dies
weist noch auf jene Dialektpopulationen hin, aus denen das
Berberische entstand.
Methodisch gesehen entspricht das etwa dem Verhältnis
des Baskischen zum Kaukasischen, in dessen Analyse ein ähnliches
Beziehungsgefüge vorwaltet. Die unzweifelhaft vorhandene
Beziehung zwischen dem Baskischen und dem Kaukasischen
läßt sich nicht so ausdrücken, als wäre etwa ein kaukasischer
Stamm nach Westen gezogen und hätte die Basis für die
Basken abgegeben. Alle Vergleicher - etwa Karl Bouda (20) -
sehen sich gezwungen, ganz verschiedene kaukasische Sprachen
heranzuziehen; daraus folgt, daß nur ein Anteil des Baskischen
in selbständiger Entwicklung und unter dem Einfluß anderer
Sprachen - Proto-Berberisch eben - in die Sprachwerdung des
Baskischen einging.
Im Besonderen zeigt eine Analyse der kanarischen Zahlwörter,
daß sie nur teilweise berberisch zu deuten sind. D.h.
wiederum, daß es sich bei einem so grundständigen Wortfeld
wie es Zahlen sind, um einen frühen Zustand handelt, der selbständig
auf den Inseln weitergebildet und vermutlich erst da zu
einem vollständigen dekadischen System erweitert wurde (21).
Aus all dem ist der zwingende Schluß zu ziehen, daß es
29
sich bei den alten Kanariern nicht einfach um Berber handelt,
sondern daß das Beziehungsgefüge ungleich verwickelter ist,
als es ideologisch bestimmte Vereinfacher und einseitig schliessende
Wissenschaftler wahrhaben wollen.
Anmerkungen:
(Anm. I) vgl. B.H. Warmington, Carthage, London 1964, Pelican Books pp. 74-
80; Gilbert Charles Picard, Le Periple d'Hannon, in: Die Phöni zier im Weste n.
Beiträge des intern. Symposiums über die phönizische Expansion im westlichen
Mittelmeerraum, Köln 24.-27.4.1979, ed. Hans Georg Niemeyer = Madrider Beiträge
8, Mainz 1982, pp. 175-180; dazu Richard Henning in: Terrae Incognitae Bd.l,
Leiden 19442,-pp. 86-96.
(Anm. II) nicht um Roheisen, wie Lienhard Delekat in seiner phantasievollen
Deutung der berühmt-berüchtigten Paraiba-Inschrift meint: "Phönizier in Amerika",
Bonner Biblische Beiträge 32, Bonn 1969, pp. 50-52.
(Anm. III) dazu A. Jodin, "Les fouilles executees a Mogador en mai et juin
1950", Bulletin Archeologique 1957, pp.118-125; ders. "Mogador, Comptoir phenicien
du Marne Atlantique", Tangier 1%6
(1) Brief an Friedrich von Preen vom 24.7.1889, in Jakob Burckhardt "Briefe",
ed. Fritz Kaphahn, Leipzig o.J. (Sammlung Dieterich Nr. 6, vermutlich 1943)
(2) "Wochenspiegel" vom 15.2.1988, Santa Cruz de Tenerife
(3) "EI Dia" vom 1.10.1988, p.4, Santa Cruz de Tenerife
(4) Carl Brockelmann "Gibt es einen hamitischen Sprachstamm?" in: Anthropos
27, 1932, pp.797-918.
(5) Hans Biedermann, schriftliche Mitteilung an den Verfasser.
(6) Richard Henning, "Terrae Incognitae" Bd.I, Leiden 19442, pp.40-50
(7) Antonio Tejera Gaspar "Neue Ergebnisse der Alt-Kanarier-Forschung", in:
Almogaren XVIII-XIX, pp.77-112, bes. p.104. Der Vortrag wurde 1985 in Seeboden
gehalten.
(8) Betty J. Meggers "Ecuador. Ancient Peoples and Places", New York 1966;
Peter Baumann "Die Entdeckung der ältesten Kultur Amerikas" Fischer-Taschenbuch
1981, bes. pp.55-57; allgemeiner zum Problem der transpazifischen Beziehungen:
Pedro Bosch-Guimpera ''Transpazifische Parallelen der amerikanischen
Hochkulturen und ihre Chronologie" in: Saeculum 22, 1971, pp.195-226, bes. p.196;
Betty J. Meggers "Tue Transpacific Origin cf Mesoamerican Civilization. A Preliminary
Review of the Evidence and its Theoretical Implications" in: American
Anthropologist 77, 1975, pp.1-17
(9) Tejera, op.cit. p.100
30
(lO) Ina-Susanne Rösing "Blutgruppen und Rh-Faktoren auf Teneriffa unter
besonderer Berücksichtigung des Vergleichs zwischen vors panischer und heutiger
Bevölkerung" in: Homo. Zeitschrift für vergleichende Forschung am Menschen
18, 1967, pp.96-104. Für die Blutgruppenuntersuchungen an altkanarischen
Mumien wurde von der Verfasserin benützt: F. Schwarzfischer & K. Liebrich:
"Serologische Untersuchungen an prähistorischen Bevölkerungen, insbesondere
an altkanarischen Mumien" ebenda 14, 1963, pp.129-133.
(11) Robert C. Suggs "The Island Civilizations of Polynesia" New York 1%0 pp.
27-28; zur Kritik an Heyerdahl vgl. pp.215-217.
(12) Dominik Josef Wölfe! "Le Probleme des Rapports du Guanche et du Ber}?
ere" in: Hesperis, Archives Herberes et Bulletin de l'institut des Hautes Etudes
Marocaines, Paris 1953, pp.3-5.
(13) Hans Biedermann "Die Spur der Altkanarier" Hallein 1983, bes. pp.115-
144.
(14) Helmut Stumfohl "Alteuropäisch und Altkanarisch. Eine Abgrenzung" in:
"Kanarische Studien l" Hallein 1986, pp.7-65, bes. pp.42-44 "Schlußfolgerungen";
ders. "Name und Lokalisierung der Kanarischen Inseln im Altertum und das
Problem der Canarii. Zu Jose Juan Jimenez Gonzales "Die Canarios. Ein Berberstamm
im Hohen Atlas" in: Almogaren XVI-XVII, Hallein 1988, pp.149-161.
(15) Helmut Stumfohl "Überlegungen zur Sprache der alten Kanarier" in: Almogaren
V-VI, Graz 1976, pp.59-62, 65. Dazu Lionel Galand "Einige Fragen zu
den kanarischen Felsinschriften" in: Almogaren XI-XII, Hallein 1983, pp.51-57;
ders. "Berberisch - der Schlüssel zum Altkanarischen ?" in: Almogaren XVIIIXJX,
Hallein 1989, pp. 7-16;
(16) Helmut Stumf ohl "Die wissenschaftliche Position Wölfels im Jahre 1988"
ibidem pp.113-155, bes. pp.141-144.
(17) Dominik Josef Wölfe! "Monumenta Linguae Canariae", ed. Alois Closs,
Graz 1 %5; = MLC p.132.
(18) MLC p.133.
(19) MLC pp.137-139.
(20) Karl Bouda "Eine jüngst ermittelte archasische Sprachgruppe in Asien und
Europa" in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 32=N.F. I, 1950/1951, pp.129-
142; ders. "Baskisch-Kaukasische Etymologien" Heidelberg 1949, bes. p.49.
(21) MLC pp.613-645. Zuerst in "Hesperis" 1954. Dazu M. Cabrera Baretto "Die
Zahlwörter der Altkanarier" in: Almogaren II, Hallein 1971, pp.161-167.
31