Almogaren XX/ 1 / 1989 Hallein 1990 139-151
Helmut Stumfohl
Bemerkungen zur Ethnogenese der alten Kanarier
Unter den alten Kanariern sind alle voreuropäischen, vorislamischen
und vorarabischen Bewohner der kanarischen Inseln
vor der Conquista zu verstehen - einschließlich der Guanchen
Tenerifes, die durch ihren Anteil an wenig pigmentierten, blonden
bis brünetten cromagnoiden Typen einen Sonderfall darstellen.
Sie erinnern an die blonden Kabylen des Rif und die
blonden Libyer der ägyptischen Quellen, die aber anthropologisch
nicht mit ihnen identisch sind. Es dürfte sich wohl in keinem
Falle um versprengte Indogermanen - Germanen (Wandalen)
oder Keltiberer ( die selbst zweifelhaft sind) - gehandelt
haben. Die Wandalen Nordafrikas waren selbst viel zu gering
an Zahl und vermutlich auch anthropologisch stark gemischt,
als daß sie dominante Gene hätten hinterlassen können, davon
abgesehen, daß sie ja erst der Zeit der Völkerwanderung angehören.
Eugen Fischer (1) hat eindeutig gezeigt, daß die alten
Kanarier, speziell die Guanchen, keineswegs aiisgerottet wurden
oder ausgestorben sind, sondern in Typen fortleben, die im
Sinne Fritz Paudlers zu den depigmentierten cromagnoiden Typen
gehören, die andere Rassensystematiker fälische oder dalische
Rasse nannten; sie finden sich von den Kanaren über Westeuropa
bis nach Südschweden, parallel zu einem dunkleren cromagnoiden
Typus (2). ErnestA. Hooton hingegen leugnete -
mit unzulänglichen Beweisen (erhielt die cromagnoiden Merkmale
für eine statistische Zufallsselektion) - die Anwesenheit
von Cromagnon-Typen auf den Inseln überhaupt (3). Auch meinte
er, die blonden Guanchen seien nur das westlichste Vorkom-
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men der blonden Libyer.
Fischer will fünf verschiedene anthropologische Typen oder
Rassen unterscheiden:
1.) Den mediterranen Typus, den er größtenteils auf die spanischen
oder portugiesischen Einwanderer zurückführt.
2.) Einen vergröberten mediterranen, den er für berberisch erklärt.
3.) Einen grazilen orientaliden Typus mit leicht geschwungener
Nase.
4.) Einen sehr seltenen alpinen Typus - und
5.) eben den cromagnoiden Typus, teilweise aufgehellt.
1.) und 2.) sind zweifellos auch schon vor der Conquista,
d.h. der ersten Berührung mit Europäern, heimisch gewesen,
aber durch sie sicher verstärkt worden. 3.) wird eberrf alls schon
vorhanden gewesen, aber durch Zuwanderung nach der Conquista
von "Moros" oder "Africanos" - also arabisierten Berbern
-verstärkt worden sein. 4.) wird ebenfalls schon vorhanden gewesen
sein, aber Gallegos und Basken werden auch diesen Typus etwas
vermehrt haben. Eine "ma-μrische", also berberische Zuwanderung
ist vor allem für Tenerife festzustellen, wozu allerdings im
Verlauf des 1.5. Jahrhunderts adelige Krieger aus Gran Canaria
kommen, die auf Tenetife angesiedelt werden, was den
Cromagnon-Typus verstärkt.
Ein geringes negroides Element, das aber bald absorbiert
wurde, kam natürlich mit Berbern und Sklaven mit.
Ernest Zyhlarz' Meinung ( 4 ), daß sich auf Gran Canaria
deutliche Spuren des Indogermanischen fänden, ist nicht haltbar.
Die Wörter, die er als Stütze seiner Behauptungen anführt,
sind größtenteils zweifelhaft; "wada", daß er als "Wasser"wiedergibt
und offenbar mit dem idg. Stammwort zusammenbringen
will, ist in Wirklichkeit durch Abtrennung von Ortsbezeichnungen
gewohnen und von Dominik Josef Wölfel - zögernd -
als "Meeresspiegel" erklärt ( 5), später aber überhaupt nicht mehr
geführt (6). "Atis" ::,: "Vater" und "mai" = "Mutter" sind alte Lallwörter
und scheiden daher methodisch überhaupt aus; "cuna"
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= "Hund" (7) ist allein durch Bory de St. Vincent (8) belegt, bleibt
aber wegen seiner vielen anderen Formen "cancha, cucancha"
sehr zweifelhaft, so idg. es auch klingt. Es bleibt einzig und allein
"magada/maguada" (9) übrig, "Priester, Jungfrau". Wölfel stellt
es zu berberisch (Izdeg) "amgud" bzw. mit Feminin-Präfix "tamgutt"
= "Jungfrau" und will in der Beziehung zum germanischen Stamm
von gotisch "magaths", ahd. "magat ", nhd. "Magd", daß aber auch
keltische und iranische Verwandte hat ! - einen möglichen Beweis
für ein gemeinsames Substrat erblicken; dies wäre allenfalls
denkbar. Somit fällt schon der Ansatz direkter idg. Beziehungen
weg, wie sie zuerst der alte Franz v. Loeher (10) mit seiner
"Wantschen"-Theorie vertrat (Wantschen = Guanchen =
Wandalen!).
Mit Ilse Schwidetzky (11) lassen sich Fischers fünf anthropologische
Typen auf drei Einwanderungsschübe zurückführen,
die natürlich auch nicht "reinrassig", sondern gemischt waren -
eine "reinrassige" Bevölkerung ist historisch, aber auch gegenwärtig
nicht feststellbar; wirkliche "Reinrassigkeit" ergibt sich
nur aus extremen Inzuchtbedingungen, ist also stets sekundär -
aber vielleicht etwas weniger gemischt als die heutige Bevölkerung.
1.) Ein mesolithisches, proto-berberisches Element, das
auch die cromagnoiden Typen brachte und vielleicht in Zusammenhang
mit der Grottenkultur stand; diese Gruppe besiedelte
besonders Gran Canaria, Tenerif e, Gomera. Ein zweiter Einwanderungsschub,
der auf Gran Canaria die älteren Siedler ins
Innere drängt, bringt stärker mediterran bestimmte Gruppen,
die Megalithisches mitbringen; diese kamen eher aus dem Südwesten
der iberischen Halbinsel, vielleicht aus dem Mündungsgebiet
des Tejo. Das Megalithikum auf den Kanaren ist einesteils
"Kümmerform", andernteils Rückzugsform von Kulturelementen,
die sich auf iberischem und nordafrikanischem Boden
weiter entwickelt hatten. Die Kanarier blieben etwa auf der Stufe
des 3. vorchristlichen Jahrtausends stehen, bzw. entwickelten
sich unabhängig von ihren Ausgangspunkten weiter (12). Die-
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ser zweite Einwanderungsschub scheint speziell mit dem mediterranen
Substrat zusammenzuhängen,jener Gruppe ursprünglich
verwandter, aber nicht identischer Population~n rings um
das Mittelmeer, die auf ganz verschiedenartige Weise den Iberern,
Ligurern, Sikulern, Berbern, Libyern, Proto-Ägyptern, Pelasgern,
Etruskern, Eteokretern, Ägäern, Basken etc. zugrundeliegen,
aber auch im Indogermanischen erscheinen (13).
Alle Versuche, der kanarischen Kultur ein erst römerzeitliches
Alter zuzuschreiben ( 14) laufen auf argumenta e silentio
hinaus. Man darf daran festhalten, daß die iberische binnenländische
Grottenkultur, die das mesolithische Capsien fortsetzt,
ihr Äquivalent nicht nur in der nordafrikanischen Grottenkultur,
sondern eben auch auf den Kanaren hat (15). Vorsichtiger
äußert sich Eckhard Mencke (16), der das Capsien als mesolithisch
bestimmt, aber rassisch für unbestimmbar hält.
Anthropologische und archäologische Bestimmungen
können zwar zum Ethnogenetischen hinführen, sind selbst aber
direkt nicht beweisend. Etwas näher können uns sprachliche Bestimmungen
heranführen.
Man verdankt bekanntermaßen die Sammlung der altkanarischen
Sprachreste den Bemühungen Dominik Josef Wölfels.
Die Materalien stammen aus den spanischen bzw. kanarischen
Archiven und den publizierten Berichten der Eroberer,
von Kaufleuten etc. Es handelt sich insgesamt um Zufallsaufzeichnungen,
besonders, was die sprachlichen Materialien betrifft
- die z.T. überhaupt nicht bestimmbar sind - die überdies ausnahmslos
von linguistisch ungeschulten Berichtern gehört und
niedergeschrieben wurden. Sie modifizierten das Gehörte nach
den phonetischen Möglichkeiten ihrer eigenen Sprachen, meist
also einer Form des Spanischen; gelegentlich des Italienischen.
Eine nichtidg. Sprache - oder eine Gruppe -wird also an romanischen
Sprachgewohnheiten gemessen.
Der älteste uns zugängliche Bericht - in einem Sammelband
der Bibliothek Magliabecchi in Florenz - beschreibt eine
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vom portugiesischen König Alfons IV. (1324-1357) im Jahre 1341
entsandte Expedition, die kastilische, florentinische, genuesische
und portugiesische Mitglieder hatte. Ihre gemeinsame
Verständigungssprache wird wohl die lingua franca des westlichen
Mittelmeeres gewesen sein, das Gemisch von Kastilisch,
Portugiesisch und Genuesisch, dessen sich auch Kolumbus noch
bediente. Man versucht Gran Canaria zu erobern ( 17). Einer
der Piloten war Niccoloso da Recco, der für die florentinischen
Kaufleute den Bericht verfaßte. Im "Recco" finden wir nun den
ersten der Hinweise auf die Sprachen der verschiedenen Inseln,
die aber nicht im einzelnen genannt werden. Dem Berichterstatter
klingt die Sprache einigermaßen gepflegt - satis politum
- und nach italienischer Weise ausgesprochen - more italico
expeditum; sie können sich aber untereinander nicht verstehen,
denn sie sprechen in verschiedenen Sprachen - et ultra hoc eas
dicunt idiomatibus adeo inter se esse diversas, ut invicem nullo
modo intelligantur - da sie nämlich keine Schiffahrt besitzen
und auch sonst keine Weise, von einer Insel zur anderen zu
gelangen, es sei denn sie schwimmen (18).
Wir wissen, daß die Behauptung, sie hätten keine Schiffe,
nicht zutrifft. Dies wird auch von Ca da Mosto, der die Inseln
1455 besuchte, wiederholt, nebst der Bemerkung, daß sich die
Kanarier sprachlich untereinander nicht verständigen können
(19). Der sogenannte "Canarien" - eine Handschrift, die die
Eroberung Lanzarotes, Fuerteventuras und Hierros durch die
frz. Familie Bethencourt ( eine ursprünglich normannische Familie,
später als Betancurte, Betancorte hispanisiert) im 15. Jahrhundert
schildert (20), dies in verschiedenen Redaktionen und einem
gefälschten Teil, der die Verdienste der Familie einseitig
herausstreichen sollte - macht ebenfalls Bemerkungen zur Sprache,
die dem nicht gefälschten Teil angehören: Alle Inseln, die
von Ungläubigen bewohnt sind -von "mescreants" - haben untereinander
verschiedene Sprachen und Gesetze (21 ). Wir hören,
daß für den Verkehr zwischen Fuerteventura und Lanza-
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rote ein Dolmetscher nötig war, ebenso für Hierro.
Wie vorsichtig man bei sprachlichen Angaben sein muß,
zeigen zwei Stellen aus dem gefälschten Teil. Hier ist die Rede
von einem angeblichen Dolmetscher Augeron aus Gomera, der
zugleich der Bruder des Königs von Hierro gewesen sein soll,
was vermutlich heißen soll, Gomera und Hierro hätten eine
Sprachgemeinschaft gebildet (22). Damit wollte der Fälscher,
der im Interesse der Bethencourts handelte, vermutlich darauf
hinweisen, daß aus der Sprachgemeinschaft Ansprüche abzuleiten
seien oder die Eroberungen der Unterworfenen zu übernehmen
seien. Man vergleiche hierzu die Ansprüche der Spanier
auf den Stillen Ozean, die sie aus den angeblichen Entdekkungen
und Fahrten der Inkas ableiteten.
Andererseits können wir bei Ca da Mosto lesen, daß die
Sprachen zwar verschieden, daß sich aber die Bewohner Lanzarotes,
Gomeras, Fuerteventuras und Hierros doch ganz wenig
untereinander verständigen konnten (23).
Hingegen bemerkt Andres Bernaldez - ein Chronist zur
Zeit Ferdinands und Isabellas, also gegen Ende des 15. Jahrhunderts
- daß die sieben Inseln sieben verschiedene Sprachen
hätten, die untereinander gar keine Beziehung hätten (24 ). In
Gaspar Fructuosos (1522-1591, aus Sao Miguel auf den Azoren)
"Saudades da Terra" hören wir, daß nicht nur jede Insel
ihre eigene Sprache habe, sondern sogar auf den einzelnen Inseln
mehrere Dialekte bestünden, besonders auf Gran Canaria, nach
Aussage eines Eingeborenen. Ferner weiß er zu sagen, daß die
Dialekte von Gran Canaria, Tenerife und Gomera von den
"mouros" ( den Mauren), also den Berbern, verstanden würden
(25). Ferner berichtet er, daß er ein Gespräch eines Portugiesen
mit Antonio Delgado gehört habe, daß sich dieser an der
Eroberung der Berberei beteiligt und nebst seiner Muttersprache
von Gran Canaria auch die Sprachen Gomeras und Tenerif
es kennengelernt habe, die alle untereinander und mit den
Berbersprachen verwandt seien (26).
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----------..
Die Berichte Alonso Espinosas ( 1594); Leonardo Torrianis
(1590) und Juan de Abreu Galindos (1623) müssen alle auf
eine gemeinsame Quelle zurückgehen, zugleich enthalten sie
Zusätzliches (27).
Espinosas Bericht schließt sich dem Fructuosos an; auch
er sagt (28), daß die einzelnen Inselsprachen einander ähnlich
seien - nun mehr aller Inseln, nicht nur Tenerifes, Gran Canarias
und Gomeras.,. und daß sie dem Berberischen verwandt seien,
was sich besonders im Vergleich mit den berberischen Zahlen
zeige; freilich sind die kanarischen Zahlwörter, die er bringt,
stark romanisiert. Auch die Sitten und Gebräuche entsprächen
denen der Berber.
Abreu Galindo erwägt zunächst, ob die Kanarier nicht von
den Kariben her stammen könnten, weist die Ansicht zurück,
sie seien zu den verlorenen Stämmen Israels zu zählen und
entscheidet sich dafür, daß die Inseln von Mauretanien aus
besiedelt worden seien, was die Übereinstimmung zahlreicher
Wörter und Ortsnamen beweise. Er will sie aber von den Arabern
abstammen lassen, er sieht nicht, daß es sich nur um Berber
handeln könnte. Die Dialekte von Lanzarote und Fuerteventura
seien sehr verschieden, die Palmas und Tenerif es hätten
gemeinsamen Wortschatz, aber Tenerife habe eine sehr verschiedenartige
Aussprache (29).
Leonardo Torriani hat mit Abreu Galindo vieles gemeinsam.
Von allen dreien, die eine gemeinsame Quelle haben, bringt
er relativ am meisten kanarisches Sprachmaterial - größtenteils
allerdings Eigennamen und geographische Bezeichnungen (30).
Entgegenzutreten ist der Meinumg, daß die Kanarier keine
Schiffahrt gekannt hätten; selbst wenn sie die Kunst der Schiffahrt
verloren hätten, die sie einst besessen haben müssen (31), so
zeigen die Schiffsdarstellungen im Barranco de Balos im Süden
Gran Canarias (32) und die Hinweise Torrianis (33) zur
Genüge, daß man sehr wohl einfache Formen der Schiffahrt und
des Segelns vor dem Winde kannte.
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Zur Expedition des Juba (34) ist zu sagen, daß Plinius hier
drei Berichte durcheinander warf: einen von der Fahrt zu den
Purpurinseln, die küstennahe Inseln an der mauretanischen Küste
gewesen sein müssen, die inzwischen landfestwurden; einen von
einer Fahrt zu den kanarischen Inseln und endlich den Periplus
des Hanno, der die Küste nach Süden fuhr. Daß Juba die Inseln
leer vorgefunden habe, von früheren Bewohnern entblößt,
ist eine Fehldeutung: Er sah entweder die ärmlichen Felsenund
Schilfmattenbehausungen für verfallene Behausungen an
oder, wahrscheinlicher, die Bewohner hatten sich in unzugängliches
Gebiet zurückgezogen. Im Gefolge vom Jubas Expedition
kann es nun sehr wohl zur Einwanderung von Berbern - d.h.
Numidiern und Gaetulern - gekommen sein, die das protoberberische
Element auf den Inseln verstärkten.
Aus all diesen Nachrichten ergibt sich ein sehr widersprüchliches
Bild der sprachlichen Verhältnisse. Die Beobachterwaren
alle keine Sprachwissenschaftler, sie gingen ausschließlich
von Nachrichten der Eingeborenen selbst und dem Kriterium
der Verständlichkeit aus. Dies ist aber ein sehr zweifelhaftes
Kriterium, das nur mit anderen, z.T. außersprachlichen Kriterien
zusammen brauchbare Resultate ergibt. Hier geht es besonders
um den Unterschied zwischen Sprache, d.h. Einzelsprache
und Dialekt, aber auch um die Tatsache, daß für verschiedene
Beobachter das Kriterium der Verständlichkeit verschiedene
Auslegungen zuließ. Je nach Inhalt, Umfang und Absicht
der Mitteilung und der dabei verwendeten außersprachlichen
Mittel - Gebärden, Zeichen - die unbewußt als Sprachmittel gedeutet
werden, kann die gegenseitige Verständlichkeit sehr
verschieden beurteilt werden. Mit Sicherheit darf mit einem starken
protoberberischen und dem Berberischen analogen Element
gerechnet werden, besonders auf Lanzarote, Fuerteventura,
Gomera und Hierro, aber auch mit einem starken nichtberberischen
Anteil, besonders auf Gran Canaria, Tenerif e, Palma;
dieser Anteil wird sich wieder aus verschiedenen Quellen zu-
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sammensetzen, besonders einem Anteil an mediterranem
Substratgut, aber auch kanerische Sonderentwicklungen, die von
Insel zu Insel verschieden gewesen sein müssen (35).
Ein Bewußtsein der Zusammengehörigkeit aller Kanarier
kann kaum vorausgesetzt werden - dies kann nur von Insel zu
Insel gelten, aber in welchem Grade, kann nicht gesagt werden.
Wie weit z.B. waren die verschiedenen Dialekte Gran Canarias,
die sich vermutlich auf Küsten- und Binnendialekte verteilten,
untereinandervorständlich, wie weit bestand ein Bewußtsein
der Zusammengehörigkeit, das von ethnischer Relevenz
war? Wir wissen es nicht. Ferner hängen unsere Überlegungen
von statistischen Größen ab - einzelne Inseln hatten nur eine
geringe Zahl von Einwohnern, wie Gomera oder Hierro; in solchen
Fällen kann es sich wohl um einen Kleinstamm mit einem relativ
einheitlichen Dialekt gehandelt haben, der sich mehr oder
weniger zur Isolatsprache entwickelt hatte. Für alle Inseln darf
im 14. Jahrhundert mit einer Einwohnerzahl gerechnet werden,
die bestenfalls etwa 50.000 betrug. Das allein deutet auf teilweise
isolierte Kleinstämme der verschiedenen Inseln hin und
auf größere Stämme der großen Inseln - aber auch diese Stämme
sind geringer an Kopfzahl als so manche Großfamilie der
Geschichte - sagen wir die Familie der Inkas oder der Nachkommen
des Konfuzius, die nach Zehntausenden zählten bzw.
zählen.
Mit Sicherheit kann gesagt werden: Es gab kein Ur kanarisch,
so wenig wie es je ein einheitliches Volk der Urkanarier
gegeben haben kann. Es muß das Einsickern - Eindriften -
verschiedener kleiner Populationen vorausgesetzt werden, die
z.T. verwandte Sprachen, z.T. unverwandte Sprachen anwendeten;
es muß hierauf auf den verschiedenen Inseln zunächst
zu einem Ausgleich von Clansprachen gekommen sein, die sich
zu Inselsprachen entwickelten. Parallel dazu muß es zu einem
Stammesbewußtsein gekommen sein, das vielleicht auf dem Wege
zu einem ausgeprägten Volksbewußtsein gewesen sein konnte.
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Ohne Zweifel kam es zu einem Rückgang der Schiffahrt, aber
nicht zu deren völligem Verschwinden, was das Entstehen isolierter
Inselbevölkerungen begünstigte. Wir hören aber etwa von
Gran Canaria nichts über eine gemeinsame Sprache, die über
den Inseldialekten gestanden hätte. Man kann daraus schließen,
daß die Dialekte der Stämme einander genügend ähnlich
waren, um ohne eine gemeinsame überregionale Sprache auskommen
zu können. Hätte die Conquista nicht stattgefunden,
wären wohl im Laufe der Zeit fast vollständig isolierte Inselsprachen
entstanden, die untereinander überhaupt nicht mehr
verständlich gewesen wären, parallel zur Entstehung eines stärkeren
Stammes- oder gar Volksbewußtseins.
Wir können ähnliche Vorgänge analog verfolgen - so
entwickelte sich das maltesische Arabisch zu einem Insel-Isolat,
dessen verschiedene, nur geringfügig verschiedene Dialekte
(meist nur Ausprache-Varianten) im Verlauf des 19. Jahrhunderts
zusammen mit der Entstehung eines eigenen maltesischen
Nationalbewußtseins ausgeglichen wurden, das aber für
einen Araber, selbst maghrebinischer Herkunft (Tunis, Marokko),
nicht mehr verständlich ist; auch durch eine Re-Arabisierung
kann dies nicht mehr geschehen, wie ein Vergleich verschiedener
Bibelübersetzungen zeigt (36). Die Arabisierung eines
ursprünglich punischen Dialekts, der stark vom Lateinischen
beeinflußt gewesen sein muß, dem ein späterer starker Einfluß
des Italienischen folgte, der im Wortschatz und in der Morphologie
untilgbare Spuren zurückließ, sowie ein geringerer Einfluß
des Englischen, hinterließ eine eigenständige arabische
Sondersprache, deren besondere Eigentümlichkeit dadurch
gegeben ist, daß zwar ein Araber Maltesisch nicht versteht, ein
Malteser aber einfaches Arabisch !
Wären die alten Kanarier zivilisatorisch und endlich auch
militärisch weniger unterlegen gewesen und wären sie zu einer
schriftlichen Fixierung ihrer Sprache gelangt -was etwa durch
das libysche Alphabet kaum hätte bewirkt werden können - so
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hätte sich möglicherweise wenigstens auf Gran Canaria ein stark
durch das Spanische beeinflußtes Guanchisch als zweite Sprache
neben dem Spanischen gehalten und hätte vielleicht sogar
revitalisiert werden können, wie das Maltesische, das am Anfang
des 19. Jahrhunderts dem Italienischen zu erliegen schien.
Abschließend kann gesagt werden: Die alten Kanarier waren
auf dem Wege zu einer vollständigen Stammes-Ethnogenese in
verschiedenen Inselisolaten, ohne eine Gesamt-Ethnogenese
zu erreichen. Schriftlosigkeit, Conquista und Christianisierung
schnitten diese Möglichkeiten ab, d.h. der Prozeß kehrte sich
um. Es kam zur Entvolkung, zum Verlust der eigenen Sprache
und der Identität was nicht notwendig miteinander verknüpft
ist, aber bei den Kanariern war es der Fall: Sie überlebten
biologisch, aber nicht ethnisch (37).
Anmerkungen:
(1) Eugen Fischer: Sind die alten Kanarier ausgestorben? In: Zeitschriftf. Ethnologie,
Berlin 1930 (1931 erschienen), pp.258-281
(2) Fischer konnte sich auf Rene Vemeau stüt.7...en: Rapport sur une mission scientifique
dans l 'archipel Canarien, in: Archives des Missions Scientifiques et Litteraires,
ser. 3, vol. 13, Paris 18887; ders. Cinq Annees de sejour aux iles Canaries, Paris
1891; Fritz Paudler, Cro-Magnon-Studien, in: Anthroposl2/l3, 1917 /18; ders.
Die hellfarbigen Rassen und ihre Sprachstämme, Kulturen und U rheimaten, Heidelberg
1924.
(3) Emest A. Hooton, The Ancient Inhabitants of the Canary lslands, in: Harvard
African Studies, Cambridge (Mass.) , Nr. 7, 1925
( 4) Emest Zyhlarz, Das kanarische Berberisch in seinem sprachgeschichtlichen
Milieu, in: Zeitschrift d. deutschen Morgenländ. Gesellsch. Bd. 100 = N.F. 25,
1950, pp. 403-460, bes. pp. 449-450
(5) Leonardo Torriani, Die Kanarischen Inseln und ihre Urbewohner, Leipzig
1940, Neudruck Hallein 1979, pp. 276-277
(6) Dominik Josef Wölfe!, Monumenta Linguae Canariae. Die kanarischen
Sprachdenkmäler. Eine Studie zur Vor- und Frühgeschichte Weißafrikas. ed. Alois
Closs, Graz 1965. Als MLC zitiert.
(7) MLC pp. 445-446, 483-484
(8) Bory de St. Vincent, G~schichte und Beschreibung der Kanarier-Inseln, Graz
149
1970, p. 54, Neuausgabe durch Hans Biedermann (zuerst Weimar 1804, franz.
Paris 1803)
(9) MLC pp. 457-460
(10) Franzv. Loeher, Nach den glücklichen Inseln. Kanarische Reisetage, Leipzig
1876
(11) Jlse Schwidetzky, Die,vorspanische Bevölkerung der Kanarischen Inseln,
Anthropologische Untersuchungen, Göttingen 1963, bes. pp.118-119
(12) Hans Biedermann, Zur Typologie der altkanarischen Kultur, in: Almogaren
II, Hallein 1971, pp. 39-45
(13) Helmut Stumfohl, Über mögliche Beziehungen zwischen dem Indogermanischen
und dem Altkanarischen vom Standpunkt der Linguistik, in: Almogaren
III, Hallein 1972, pp. 59-83
(14) Werner Vycichl, Das Alter der kanarischen Kultur, in: Wiener Zeitschrift
f. d. Kunde des Morgenlandes 53, 1953/55, pp. 27-35
(15) Joseph Wiesner, Vor- und Frühzeit der Mittelmeerländer I, Das westliche
Mittelmeer, Berlin 1943, p.15 = Sammlung Göschen 1150; C.B. M.Burney, The
StoneAge d Northern Africa = Pelican Books A342, Penguin Books 1960, bes.
pp. 205-228
(16) Eckhard Mencke, Zur Altersfrage des Capsien, in: Forschungen zur Vorund
Frühgeschichte aus dem Museum vorgeschichtlicher Altertümer zu Kiel 6,
Neumünster 1938, ed. Gustav Schwantes; rez. L.Z. ( = Lothar Zotz), in: Quartär
4, Freiburg 1942, pp. 245-246
(17) MLC p.40
(18) MLC p.132
(19) Alvise da Ca da Mosto, Delle siete isole delle Canarie e delli loro costumi,
bei Ramusio III/II p.66, dazu MLC pp.55-56, 134
(20) MLC pp.40-47;
(21) MLC p.133;
(22) ibidem;
(23) MLC p.134;
(24) MLC p.57, 135;
(25) MLC pp. 137-139
(26) Dominik Josef Wölfel, Le Probleme des Rapports du Guanche et Ja Berbere,
in: Hesperis 1953, 3-4, Paris, pp.1-5
(27) MLC pp.83-100;
(28) MLC p.143
(29) MLC pp.83-100; J. de Abreu Galindo, Historia de Ja Conquista de las Islas
de Canaria, ed. A. Cioranescu, Sta. Cruz de Tenerife 1955, pp. 24-38 = 1,4 - 1,6
(30) Vgl. Torriani, op. cit. Wölfels Analysen pp.244-303
(31) Alois Goss, Die nautischen Voraussetzungen der kanarischen Landnahme
und transatlantische Kultureinflüsse aus dem eurafrikanischen Westeuropa, in:
150
Almogaren II, Hallein 1971, pp.21-38
(32) Hans Biedermann, Die Inseln der Seligen, Ur- und Frühgeschichte der
Kanarischen Inseln, in: Universum 24/1, 1969, pp.34-37
(33) Torriani op. cit. p.123
(34) Plinius n. H. VI, 36
(35) Helmut Stumfohl, Überlegungen zur Sprache der Altkanarier, in: Almogaren
V /VI, Hallein 1974/75, pp. 59-65
(36) Reinhold Konzi, Gibt es reines Maltesisch? in: Festschrift zum 70. Geburtstag
von Mario Wandruszka, Tübingen 1981, pp. 63-71
(37) Vgl. dazu Wilhelm Mühlmann, "Rassen, Ethnien, Kulturen" Neuwied/ Berlin
1964, pp.142-143, wobei allerdings "Umvolkung"für Mühlmann zugleich "Rassenwandel"
ist, was keineswegs immer der Fall sein muß; ferner Julian V. Bromley,
Ethnos und Ethnographie, Berlin 1977, pp.143-144 = Veröffentlichungen
des Museums für Völkerkunde zu Leipzig, Heft 28, aus dem Russischen übersetzt
von Wolfgang König.
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