Almogaren XXXIV / 2003 Wien 2003 297 - 308
Werner Pichler
Die "Megalithikum"-Diskussion im
Zusammenhang mit den Steinbauten von EI Julan
(EI Hierro, Islas Canarias)
Key words: Canary Islands, EI Hierro, EI Julan, megalithic structures
Zusammenfassung:
Diese Arbeit versucht einen ersten Überblick zu geben über die Frage, ob der
Fundstelle EI Julan auf EI Hierro mit Recht megalithische Aspekte zuerkannt
werden können. Beginnend mit D.J. Wölfe! werden sämtliche Stellungnahmen
verschiedener Forscher behandelt und aus heutiger Sicht diskutiert.
Abstract:
This paper gives a first overview about the discussion ifthe site EI Julan (EI
Hierro) comprises megalithic aspects. Starting with D.J. Wölfe! several
opinions of different researchers are listed up and discussed from todays
point of view.
Resumen:
Este trabajo intenta dar una orientaci6n sobre Ja cuesti6n de si al yacimiento
de EI Julan en Ja isla de EI Hierro pueden asignarse con derecho aspectos
megaliticos. Comenzando con D.J. Wölfe!, se tratan todas las opiniones de
diversos investigadores y se discuten desde el punto de vista actual.
Der erste, der die Region El Julan in Zusammenhang mit materiellen Phänomenen
der Megalithkulturen brachte, war der Entdecker der Petroglyphen,
Aquilino Padr6n. Bei seinen Besuchen in den Siebzigerjahren des vorigen
Jahrhunderts fielen ihm in der Nähe des "tagoror" u.a. auch "grandes piedras
levantadas" auf, die ihn - wie wir bei Berthelot (1879/1980: 93) lesen - an
keltische Menhire aus den nördlichen Ländern erinnerten.
Obwohl Reifenberger (1986: 161) diesen Vergleich für unzutreffend hält
und meint, dass Padr6n keine klare Vorstellung von megalithischen Bauten
gehabt hätte, wird die Äußerung Padr6ns durch eine Zeichnung Berthelots
bekräftigt: Auf einem relativ steil zum Meer abfallenden Hang vor gebirgigem
Hintergrund sehen wir zwei markante viereckige Steine säulenartig emporragen
(Viera y Clavijo 1776/1982/I: 140). Der einzige, der sich bislang mit
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dieser Problematik befasste, war Nowak (1976: 25). Er stellte fest, dass die
beiden Menhire sehr gut zum überlieferten Kult eines männlichen (Eraorahan)
und weiblichen Götzen (Moneiba) passen würden. Nowak hat - zusammen
mit ortskundigen Führern - viele Jahre lang vergeblich nach diesen
beiden Steinen gesucht. Schließlich kam er zu der Überzeugung, dass es sich
"um eine heute völlig unbekannte Anlage" an einem anderen Ort handle. Bei
genauer Überprüfung aller Zeichnungen Berthelots kommt man allerdings
zu folgendem Schluss: Die Ortsangaben sind in allen Fällen exakt, die zeichnerischen
Darstellungen sind zwar manieristisch überhöht, aber niemals inhaltlich
falsch. Das heißt, Berthelot zeichnete die "Menhire" möglicherweise
höher oder markanter in ihrer Form, aber er zeichnete nicht zwei aufrecht
stehende Steinsäulen, wo keine waren. Es ist also realistisch anzunehmen,
dass es zu Zeiten Berthelots die Steinsäulen im zentralen Bereich von El
Julan gab und sie in der Zwischenzeit zerstört wurden. Wahrscheinlich
stammten die dafür verwendeten Steine ebenso wenig aus der Landschaft
des Julan wie die Steinplatten des meist als "tagoror" bezeichneten Hauptbaus
der Kultstätte des El Julan.
Der nächste, der den El Julan mit dem Themenkomplex "Megalithikum"
in Verbindung brachte, war D. J. Wölfel. Schon in den Kommentaren zur
Torriani-Ausgabe nannte er die Idole von Fuerteventura und EI Hierro megalithisch
(1940: 238). In Wölfels Veröffentlichungen der 40er und 50er Jahre
wurde immer deutlicher, dass für ihn die Kultur der Altkanarier eine Hochkultur
archaischer Prägung war, charakterisiert durch zwei Einwanderungswellen:
eine altmittelmeerische und eine megalithische. In seiner Arbeit über
die Religionen des vorindogermanischen Europa definierte er diese Kultur
als "reich an megalithischen Zügen, aber kaum rein megalithisch" (1951: 436),
an anderer Stelle als einen "Gautypus des Megalithikums" (1950). Wölfel
glaubte an ein sehr langes Fortwirken des Megalithikums auf dem Kanarischen
Archipel bis in die Zeit der Entdeckung. Zu dieser Einstufung fühlte
er sich berechtigt aufgrund des "archäologischen Befundes und eigener Feststellungen"
(1951: 422). An archäologischen Indizien nannte er: Tumuli, Konservierung
der Toten, Steinkreise mit Sitzen, Bergheiligtümer, Menhire, Idole
und spiralförmige Petroglyphen. Wölfels Fachgebiet war jedoch nicht die
Archäologie, er war auch kein routinierter Feldforscher. Galand, dessen Verhältnis
zu Wölfel ein sehr freundschaftliches war, bestätigt anlässlich eines
gemeinsamen Aufenthaltes in Marokko, dass Wölfel nur zu gern bereit war,
"Megalithen" zu sehen, wo es in Wirklichkeit nur natürliche Felsformationen
gab (1989: 8). Eine Überinterpretation liegt auch vor, wenn Wölfel eine der
großen Mauern, die Fuerteventura von Küste zu Küste unterteilten, als end-
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megalithisch und kyklopisch bezeichnet und mit den subterranen Bauten
Maltas in Zusammenhang bringt (1940: 306).
Obwohl Wölfel selbst die Lokalität des El Julan in Augenschein genommen
hatte, ließ er sich durch die Abbildung des "tagoror" bei Verneau dazu
verleiten, den inneren, kleineren Steinkreis als "cella" zu interpretieren und
eine Überdachung derselben anzunehmen (1951: 426). Diesen Irrtum konnte
Closs Ende der Sechzigerjahre richtigstellen, auch Nowak (1976: 36) hat darauf
hingewiesen. Im Anschluss an diese Fehlinterpretation geisterte aber viele
Jahre lang die Vorstellung einer überdachten Kultstätte durch die Literatur.
Ein weiteres archäologisches Indiz, das die Gedanken Wölfels in Richtung
Megalithikum lenkte, waren die Petroglyphen des El Julan. Er glaubte vier
Schrifttypen unterscheiden zu können, deren älteste er die "Sinnschrift" megalithischer
Zeichen nannte. Tatsächlich gibt es hier zahlreiche augenscheinliche
Übereinstimmungen in der Formenwelt mit den Petroglyphen an megalithischen
Bauten in Schottland, Irland oder der Bretagne. Dies gilt allerdings
in einem noch viel größeren Maß für die Petroglyphen der Insel La Palma.
Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt hat sich allerdings noch niemand der Mühe
unterzogen, die Formenvielfalt der Felsbilder des El Julan systematisch zu
erfassen und zu analysieren. Erst wenn solche Untersuchungen vorliegen,
wird ein Urteil in dieser Frage möglich sein.
Die Hauptpfeiler von Wölfels Gedankengebäude einer archaischen Hochkultur
auf den Kanarischen Inseln waren jedoch nicht archäologischer Art,
sondern linguistischer und religionshistorischer. Der Untertitel seines Hauptwerkes
"Monumenta Linguae Canariae" hätte ursprünglich "Die Sprache der
Megalithkultur" heißen sollen. Damit ist die Thematik, die er als Hauptaufgabe
seines Lebenswerkes sah, angesprochen: der Nachweis einer gemeinsamen
Sprache der Megalithkultur im vorindogermanischen Europa und im
vorberberischen Nordafrika. Er nannte sie das "Atlanta-Libysche" und sah
als ihre Überreste das Libysche, das Baskische und das Altkanarische. Leider
war es Wölfel aus zeitlichen Gründen nicht mehr vergönnt, eine Antwort auf
diese Frage zu finden. Den Teil VI der "Monumenta" (Das Kanarische, das
Atlantolibysche und die Sprache der Megalithiker) können wir nur an Hand
einer - allerdings sehr ausführlichen (167 Kapitelüberschriften!) - Inhaltsübersicht
rekonstruieren.
Ausgehend von einer Analyse der Lautlehre, Wortbildung und Grammatik
des Altkanarischen wäre im Hauptabschnitt (VI/6-VI/14) eine detaillierte
Vergleichung des Altkanarischen mit anderen relevanten Sprachen (z.B. Berberisch,
Haussa) bzw. solcher Sprachen untereinander (z.B. das Verhältnis
des Baskischen zum Libyschen) geplant gewesen. Das abschließende Kapitel
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VI/15 hätte ohne Zweifel den krönenden Abschluss seines Lebenswerkes darstellen
sollen: die Überschriften der geplanten Abschnitte geben bereits sehr
genau Auskunft darüber, wie Wölfels Thesen ausgesehen hätten:
§ 154: Eine neue Deutung für die italisch-keltisch-germanischen sprachli-chen
Gemeinsamkeiten
§ 155: Das Atlanto-Libysche und das vorindogermanische Europa
§ 156: Das Substratum beschränkt sich auf Halbinsel-Europa
§ 157: Die Verbreitung der atlanto-libyschen Sprachschicht und der Megalithkultur
decken sich: räumliche Deckung
§ 158: Die Bezeichnungen für Elemente der Megalithkultur gehören zum
Atlanto-Libyschen: zeitliche Deckung
§ 159: Das Atlanto-Libysche kann als Sprache der Megalithkultur gelten
§ 160: Die Westindogermanen übernahmen Bezeichnungen für Haustiere und
Viehzucht aus dem Atlanto-Libyschen
§ 161 : Die Westindogermanen übernahmen Bezeichnungen für Kulturpflanzen
und Pflanzenbau aus dem Atlanto-Libyschen
§ 162: Die Westindogermanen übernahmen Begriffe der Religion und des
höheren Staatslebens aus dem Atlanto-Libyschen
§ 163: Die Megalithiker waren kulturell Gebende und blieben ein Teil der
Oberschicht
§ 164: Kulturaktive Indogermanen auf dem vorindogermanischen Hoch-kulturboden,
kulturpassive Indogermanen im eurasiatischen Zwischenland
§ 165: Die Urheimat des Indogermanischen lag außerhalb Halbinseleuropas
§ 166: Lücken im Material und in der Beweisführung, ungelöste Aufgaben
§ 167: Das neue Geschichtsbild vom Sprach- und Kulturleben Alteuropas
Aus dem Vorhandensein dieses exakten Konzeptes zu folgern, dass für
Wölfel gedanklich bereits alle relevanten Fragen gelöst waren, wäre ein Trugschluss.
Schon in den ersten Sätzen des Vorwortes spricht Wölfel eine zweifache
Warnung aus:
"Man erwarte nicht, in diesem Buch die Sprache der Megalithkultur zu
finden" - es sollte nur gezeigt werden, dass es eine solche Sprache vor der
Indogermanisierungswelle gegeben haben muss.
Trotz zehnjähriger Vorarbeit und siebenjähriger Arbeit schreibt er: "Die
Arbeit ist unvollständig geblieben und musste es bleiben" (1965: XIII).
Eines kann aus heutiger Sicht vorweggenommen werden: Wölfel hat bis
heute keinen Nachfolger gefunden, der über ein so breites und tiefes Wissen
verfügt hätte, den von Wölfel bearbeiteten Sprachenkomplex zu überblicken
und seine Thesen zu überprüfen, zu ergänzen oder zu korrigieren.
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Letztlich waren es auch einige Aspekte der altkanarischen Religion bzw.
Spiritualität, die Wölfel mit dem Themenkomplex des Megalithikums in Verbindung
brachte (1951 /1980: 429 ff) :
· der Hochgottglaube (die Identifizierung von Himmel und Gottheit)
· der Ahnenkult (bezogen auf natürliche Monolithe)
· Priesterinnen als Repräsentantinnen des Mutterrechts
· das Doppelkönigtum.
Zusammenfassend kann Wölfels Thesengebäude über das Vorhandensein
eines "eurafrikanischen Megalithikums" so präzisiert werden:
Die Megalithkultur war für Wölfel ein einheitlicher religiöser und kultureller
Komplex, zusammengehalten von einer großen, vorgeschichtlichen Weltreligion,
der zweiten nach der "Urreligion", und einer gemeinsamen Sprache.
Die Diffusion fand nicht von Osten nach Westen, sondern umgekehrt
statt. Archäologie, Linguistik und Religionswissenschaft liefern Indizien,
dass auf den Kanarischen Inseln ein Ableger dieser maritimen Kultur zu finden
ist. Somit war auch die altkanarische Kultur eine Hochkultur archäischer
Prägung, vergleichbar mit den mittelmeerischen Kulturen des 3. und 2. Jahrtausends
v. Chr.
Wo aber sollte das Zentrum der "weißafrikanischen Westkultur" liegen?
Darüber hat sich Wölfel schriftlich nie dezidiert geäußert. In Gesprächen mit
Biedermann (1975: 9) bezog er sich jedoch dabei ausdrücklich auf das nordwestafrikanische
Festland, auf die damals "Spanische Sahara", wo er in der
Nähe von Flussmündungen stadtähnliche Siedlungsstrukturen mit megalithischen
Steinbauten vermutete. Die ersten Forschungsfahrten des Institutum
Canarium (1971 Nowak/Ortner, 1973 Nowak/Biedermann) erbrachten zwar
großartige Ergebnisse im Bereich der Felsbildforschung, jedoch keinerlei
Bestätigungen der vermuteten Siedlungen.
Es gibt sehr ernsthafte Indizien dafür, dass Wölfet mit "Westkultur" eigentlich
die Kultur von Atlantis meinte. Dass er den durch vielfachen Missbrauch
kompromittierten Begriff "Atlantis" konsequent und geradezu ängstlich
vermied, ist verständlich, wenn man berücksichtigt, dass dieser Themenkomplex
fast ausschließlich zum Exerzierfeld wissenschaftlicher Phantasten
und Scharlatane geworden ist. Als erste hat auf diesen Zusammenhang wohl
Cles-Reden (1960) hingewiesen, Biedermann (1975) konnte nachweisen, dass
Wölfe! die einschlägigen Werke von Harmann kannte und z. T. sogar ihre
Nomenklatur verwendete.
Die intensive Befassung Wölfels mit den megalithischen Aspekten der altkanarischen
Kultur veranlasste Heine-Geldern, beim ersten Symposion österreichischer
Anthropologen 1958 in Wartenstein, ein grundsätzliches Referat
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über "Das Megalithproblem" (1959) zu halten, was intensive Diskussionen
innerhalb der "Wiener Schule" auslöste. Die kanarischen Aspekte verfolgte
Closs in den Sechziger- und Siebzigerjahren in einer Reihe von Publikationen,
von denen in der Folge nur diejenigen, die El Julan bzw. El Hierro betreffen,
erwähnt werden sollen.
Der Mangel an eigener Feldforschung wirkte sich anfangs in so mancher
Fehldeutung aus. So beschrieb Closs die "concheros" des Julan als "muschelförmige
Vertiefungen im Gestein" und brachte sie mit Vielkammernbauten
auf Kreta und in Tunesien in Verbindung (1966/1:106). Closs hat diesen Irrtum
jedoch rasch erkannt und ihn richtiggestellt (1968/69: 893). Auch die
Beschreibung des "tagoror" als einen fünf Meter hohen Altar, der auf gepflastertem
Boden errichtet ist und von Norden her über Steinstufen zu besteigen
ist, entspricht in keiner Weise dem archäologischen Befund. Andererseits
äußerte sich Closs kritisch über Wölfels Einordnung des "tagoror"
als "typisch megalithisches Heiligtum", da doch weder eine Konzentrik von
Steinkreisen noch eine Mittelsäule gegeben seien. Ebenso vermisste er nähere
Untersuchungen über den von Wölfel angenommenen Bezug der Brandopferaltäre
zur megalithischen Religiosität. Andererseits akzeptierte Closs
sowohl die Nähe von Höhlengräbern zum Kultplatz als auch den für ihn unbestreitbaren
Zusammenhang zwischen Felsinschriften und Kultplatz als starke
Argumente für eine megalithische Grundhaltung. In einer weiteren Publikation
(1970) zog er in Betracht, dass der "tagoror" auch als Ahnensitz gegolten
haben könnte, forderte aber im übrigen eine genauere Untersuchung der
Übereinstimmungen und Verschiedenheiten zwischen kanarischen und kontinentalen
bzw. mediterranen Bauten.
Im Jahre 1970 listete Jimenez Sanchez 14 "megalithisch-kultische" Zeugnisse
der Urkanarier auf, erwähnt aber El Hierro mit keinem Wort. Ein Jahr
später versuchte Biedermann eine Typologie der altkanarischen Kultur. Er
ging von der Feststellung aus, dass "Megalithikum" auf den Kanaren nicht
unbedingt mit "Dolmenmegalithikum" gleichzusetzen sei. Große Grabbauten
dieser Art fehlten ganz offensichtlich, was aber leicht mit dem Fehlen geeigneten
Baumaterials zu erklären sei. Für Biedermann manifestiere sich das
kanarische Megalithikum neben natürlichen und künstlichen Menhiren, Idolen,
Libationsrinnen und Näpfchensteinen vor allem in den spiral- und
mäander-förmigen Petroglyphen.
Anfang der Siebzigerjahre nahm Pellicer mit zwei Artikeln (1971 und 1971 /
72) zu Fragen des kanarischen Megalithikums Stellung, wobei er allerdings
nicht konkret auf El Hierro einging. Deshalb sei diese Diskussion nur kurz
gestreift. Pellicier tadelte die Einbeziehung der Begriffe taro, quesera, tagoro1~
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banco votivo, betilo und estela in den Themenkomplex des Megalithikums,
blieb aber konkrete Gründe für seine Ablehnung schuldig.
Anlässlich eines Vortrages bei der IC-Tagung des Jahres 1975 in Hallein
nahm Closs ausführlich zur Position Pellicers Stellung, der sich direkt gegen
Jimenez Sanchez und Wölfel gerichtet hatte. Closs stellte vor allem die These
Pellicers in Frage, dass es keine Besiedlung der Kanaren vor 500 v. Chr. gegeben
habe. Umgekehrt bewirkten Pellicers kritische Ansätze, dass Closs in
eine noch stärkere Distanz zu einigen "Unzulänglichkeiten und Irrtümern"
Wölfels ging. Auf dieser Grundsatzdiskussion basierend ergab sich für Closs
auch eine neue Wertung des El Julan, das er vorsichtig als "zunächst
wenigstens anscheinend am meisten megalithischen Bezirk" bezeichnete
(1976: 74).
Zur Korrektur bisheriger Ansichten hat auch ganz wesentlich die Feldforschung
Nowaks beigetragen, der vor allem grundsätzlich klarstellte, dass die
Kultanlage ihren Namen "Los Concheros" von den unmittelbar benachbarten
Muschelhaufen erhalten habe. Weiters konnte Nowak klären, dass es
weder eine überdachte cella noch die von Berthelot gezeichneten Steinsäulen
gebe.
Somit wurde auch für Closs immer weniger einleuchtend, dass der "ganze
heilige Bezirk" von El Julan von der Grundvorstellung eines "monolithischen
deifizierten Ahnenpaares" bestimmt gewesen sein soll. Er wurde auch skeptisch
gegenüber der von Wölfel vorgenommenen Zuordnung des in den Quellen
vielfach (z.B. bei Torriani und Abreu Galindo) dokumentierten Begriffes
"tacuitunta" (= ein Heiligtum) zu El Julan. Wölfe} hatte geglaubt, diesen Begriff
aus dem Berberischen ableiten und mit "baladero" = Ort des Blökens
gleichsetzen zu können.
In einem stimmte Closs klar mit Wölfe} und Biedermann überein: in der
Wertung der spiralförmigen Petroglyphen. Sich auf eine These von Huth
(1950) beziehend, der den "Stufenweg nach aufwärts" geradezu zum Grundgedanken
des Megalithikums erklärte, stellte Closs gewissermaßen bedauernd
fest, dass es auf den Kanaren keine pyramidenartigen Bauten gebe. Falls
sich ein prähispanisches Alter der in den letzten Jahren vieldiskutierten "Pyramiden"
von Tenerife und La Palma herausstellen sollte, so wird dieser Aspekt
neu zu diskutieren sein.
In den Achtzigerjahren wurde die Diskussion über das Thema des kanarischen
Megalithikums noch einmal von zwei Autoren des Institutum Canarium
aufgenommen:
Biedermann (1983) bekannte sich zur Auffassung, dass man eine Besiedlung
der Kanaren in der Epoche des Megalithikums durchaus ernst nehmen
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solle, auch wenn es Großsteinbauten im eigentlichen Sinn auf den Inseln nicht
gebe. Da viele Züge der altkanarischen Kultur im ethnologischen Sinne (als
Erscheinungsformen einer bestimmten Spiritualität) als megalithisch anzusehen
seien, halte er es für plausibel, "Mesolithiker" mit Ansätzen zu den
religiösen Ideenkomplexen des Megalithikums als erste maritime Besiedler
der Kanaren anzunehmen.
In einem Vortrag anlässlich der IC-Tagung 1988 referierte Stumfohl (1989)
über die "wissenschaftliche Position Dominik Josef Wölfels im Jahre 1988",
wobei er ein eigenes Kapitel dem Megalithproblem widmete. Stumfohl
stimmte dabei Wölfel in einigen wesentlichen Punkten zu, etwa dass das
Megalthikum nichtindogermanischer Herkunft sei. Andererseits stellt er klar,
dass Wölfels einheitliche Megalithsprache aus heutiger Sicht nicht fassbar
sei. Stumfohls Resümee sei wörtlich zitiert:
"Wölfels Begriff des Megalithischen war etwas zu einfach. Ihm erschien
das Megalithikum als distinkte, in sich geschlossene Einheit. Der starke Gegensatz
zwischen westlichem und östlichem Megalithikum wurde von ihm
nicht ins Kalkül gezogen. Sein Begriff des Megalithikums als einer missionierenden
und teilweise sogar erobernden Weltreligion war überhöht, zu hoch
angesetzt. In einem sah aber Wölfel schärfer als die meisten seiner Zeitgenossen:
er hielt das westliche Megalithikum für älter und dachte an einen
Ausgangsbereich im Westen des eurafrikanischen Raumes" (1989: 142).
Diese Aussagen Stumfohls haben auch über zehn Jahre später nichts an
ihrer Gültigkeit verloren.
Im übrigen ergibt ein Überblick über 60 Jahre Diskussion folgende Bilanz
in Bezug auf die behandelten Objekte:
Steinbauten: Die "Menhire" sind nicht auffindbar, der "tagoror" ist nach
zahlreichen Umhauten nicht mehr in seinem Urzustand rekonstruierbar.
Megalithsprache: aus heutiger Sicht nicht nachweisbar.
Hochgottglaube/Ahnenkult: Es ist kein Bezug zur Lokalität des El Julan
nachweisbar.
Petroglyphen: Formale Ähnlichkeiten zu typisch megalithischen Mustern
(Spiralen, Mäander, konzentrische Kreise etc.) sind unverkennbar.
Insgesamt steht die Argumentation in Richtung einer megalithischen Einordnung
der Kultstätte von El Julan aus heutiger Sicht auf einer sehr schwachen
Basis. Einzig verbliebenes Untersuchungsobjekt sind die Petroglyphen.
Erst eine vollständige und exakte Dokumentation, eine darauf beruhende Typologie
und ein konsequenter Vergleich mit anderen Felsbildregionen kann
die Frage entscheiden, ob es berechtigt ist, zumindest in diesem Teilaspekt
einen Zusammenhang zu megalithischen Kulturen zu sehen.
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Abb. 1: "Conchero" von El Julan nach Berthelot
Abb. 2: "Los Concheros" nach Verneau
CO....,C.I-IEROS
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Abb. 3 und 4:
Zustand des "tagoror" in den Siebziger- und Achtzigerjahren
des vorigen Jahrhunderts
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Abb. 5: Beispiel für die Petroglyphen des EI Julan (EI Hierro)
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