ALMOGAREN XXXIX/2008MM113
ALMOGAREN
XXXIX/2008
IC INSTITUTUM CANARIUM
ICDIGITAL Separata XXXIX-6
114MMALMOGAREN XXXIX/2008
ICDIGITAL
Eine PDF-Serie des Institutum Canarium
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Hans-Joachim Ulbrich
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Inhaltsverzeichnis
(der kompletten Print-Version)
Alain Rodrigue:
Les chars gravés du Jbel Aoufilal (Taouz, Maroc) .......................................... 7
Robert G. Bednarik:
Die Kranichberger Petroglyphen bei Gloggnitz, Niederösterreich ................... 19
Yves & Christine Gauthier:
À propos des Monuments À Alignements du Sahara .................................... 27
Franz Trost:
Bemerkungen zum Papyrus Louvre I. 3079, Kol. 111, Zeile 82-86 ................ 89
Joaquín Caridad Arias:
El título canario Mencey "rey",
un derivado del teónymo púnico Melkart................................................... 105
Werner Pichler:
Bericht über den aktuellen Stand der Erforschung und Erhaltung der
libysch-berberischen Felsinschriften auf den Kanarischen Inseln .................. 117
Andoni Sáenz de Buruaga:
Nota sobre un panel con grabados de équidos en el abrigo rupestre
de Galabt El Jeil 2 (Tiris, Sahara Occidental) ............................................ 137
Julio Cuenca Sanabría et alii:
El culto a las cuevas entre los aborigenes canarios:
el almogaren de Risco Caído (Gran Canaria) ................................................................. 153
Werner Pichler:
The rock art sites in the region of Igherm/Anti-Atlas (S-Morocco) ................... 191
Dolores García Padrón:
Agustín Millares Cubas y los inicios de la lexicografía canaria .............. 239
HartwigE. Steiner:
Die Jungfrauen-Höhle auf der Osterinsel "Ana O Keke"
auf Poike / Rapa Nui, Polynesien ............................................................... 253
HartwigE. Steiner:
Das Areal der "weißen Steinhügel" auf Selvagem Grande.
Ilhas Selvagens, Portugal ........................................................................... 321
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Pichler, Werner (2008): Bericht über den aktuellen Stand der Erforschung und
Erhaltung der libysch-berberischen Felsinschriften auf den Kanarischen Inseln.-
Almogaren XXXIX (Institutum Canarium), Wien, 117-135
Zitieren Sie bitte diesen Aufsatz folgendermaßen / Please cite this article as follows:
ALMOGAREN XXXIX/2008MM117
Almogaren XXXIX / 2008 Wien 2008 117 - 135
Werner Pichler
Bericht über den aktuellen Stand der Erforschung
und Erhaltung der libysch-berberischen
Felsinschriften auf den Kanarischen Inseln
Key words: Canary Islands, Libyco-Berber epigraphy, preservation
Zusammenfassung:
Dieser Artikel soll einen kurzen Überblick über die derzeitige Situation der Erforschung
und Erhaltung der libysch-berberischen Felsinschriften der Kanarischen Inseln geben.
Abstract:
The aim of this paper is to give a review of the current situation of the documentation and
preservation of the Libyco-Berber rock inscriptions on the Canary Islands (Spain).
Resumen:
El presente artículo pretende ofrecer una breve panorámica de la situación actual del estu-dio
y de la conservación de las inscripciones rupestres líbico-bereberes en las Islas Canarias.
In den letzten zehn Jahren häufen sich einerseits Pressemeldungen über
die Unterschutzstellung zahlreicher Fundstellen von Petroglyphen, darunter
auch solche mit libysch-berberischen Inschriften, andererseits aber auch
Horrormeldungen über mutwillige Zerstörungen und Berichte über lautstar-ke
Proteste engagierter Canarios über die Untätigkeit der Behörden. Es er-scheint
somit durchaus angebracht, einen Überblick sowohl über den gegen-wärtigen
Forschungsstand als auch über den Erhaltungszustand der libysch-berberischen
Felsinschriften auf dem kanarischen Archipel zu geben.
El Hierro
Die westlichste der kanarischen Inseln ist interessanterweise – zumindest
nach heutigem Wissensstand – diejenige Insel mit den meisten Felsinschrif-ten,
es sind dies ausschließlich libysch-berberische. Es ist nicht überraschend,
dass El Hierro in einigen Veröffentlichungen bereits "la isla del Tifinagh"
genannt wurde, wobei aus wissenschaftlicher Sicht korrigiert werden muss,
dass es sich nicht um junge Tifinagh-Inschriften, sondern um alte libysch-berberische
Inschriften handelt.
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Hier wurden in den Siebzigerjahren des 19. Jahrhunderts die ersten Inschrif-ten
entdeckt, die Liste der Publikationen darüber umfasst heute bereits über
70 Titel. Viele der Inschriften wurden auch schon in den letzten Jahrzehnten
des 19. Jahrhunderts zeichnerisch erfasst (z.B. Padron 1874, Grau-Bassas 1881,
O'Shea 1898, Campbell 1900, Bethencourt 1912). Es sind dies aber leider nur
sehr flüchtige Freihandzeichnungen, die oftmals nur wenig mit der Wirklich-keit
übereinstimmen und somit auch nicht für epigrafische Analysen heran-gezogen
werden können. Leider ist genau dieser Fehler in allerneuester Zeit
gemacht worden: Der Genetiker (!) Arnáiz Villena benutzte 2000 für seine
linguistisch waghalsigen Übersetzungen anstatt der zahlreichen aktuellen
Dokumentationen ausgerechnet jene allerältesten Freihandzeichnungen
(Pichler 2005a,b).
Soweit die Inschriften heute noch vorhanden sind, lassen sich diese alten
Zeichnungen aber eindeutig zuordnen. Umgekehrt können wir aus ihnen fol-gern,
dass allein im Bereich La Caleta/Barranco de Tejeleita mehr als zwei
Dutzend Inschriftenpaneele in den letzten hundert Jahren verloren gegangen
sind. Ein beträchtlicher Teil davon fiel dem Straßenbau und dem Wachstum
der Siedlungen zum Opfer. Nowak berichtete z.B. von einem durch Fotos aus
den Sechziger- und Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts mehrfach doku-mentierten
Inschriftenstein im untersten Bereich des Barranco de Tejeleita,
dessen Trümmer 1985 im Aushubmaterial einer Straße gefunden wurden, seit
diesem Zeitpunkt aber völlig verschwunden sind.
Wie ist der Umgang der Behörden mit diesem Kulturgut von unschätzbarem
Wert? Was die gesetzlichen Grundlagen des Schutzes betrifft, ist klar festzu-stellen,
dass El Hierro die Insel mit den meisten geschützten Fundregionen ist.
Abb. 1: Caleta 1.2
Die von Arnáiz Villena benutze
Zeichnung aus Bethencourt 1912
Aktuelle Dokumentation
Pichler 2007
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La Caleta:
Zu dem Zeitpunkt, als die archäologische Zone an der Küste von La Caleta
unter Schutz gestellt wurde, war bereits ein beträchtlicher Teil der Felsinschrif-ten
dem Straßen- und Häuserbau zum Opfer gefallen. Auch der heutige Zu-stand
ist alles andere als beruhigend. Der gesamte Küstenverlauf im Bereich
des Ortsgebietes wurde in den letzten Jahren zu einer Badelandschaft mit künst-lichen
Wegen, Brücken, Terrassen und mehreren Pools und zu einer Küsten-promenade
umgestaltet. So liegen heute fast alle der schützenswerten Fels-partien
inmitten einer stark frequentierten Freizeitlandschaft. Ein Felsblock
Abb. 2: La Caleta - archäologische Zone als Freizeitgelände!
Abb.3
Caleta 1.3 f rüher... ... und heute
120MMALMOGAREN XXXIX/2008
Abb.4
Letreros 1.6
(zerstört)
Letreros 1.5
Beschädigung
durch Abguss
(mit der Inschrift Caleta 3.5) wurde mit schwerem Baugerät transportiert und
mitten in der Badelandschaft einbetoniert. Der Rest der Inschriftensteine liegt
innerhalb eines privaten Gartens und ist zurzeit stark von Vegetation überwu-chert.
Auf dem "Roque", an dem heute ein künstlich angelegter Weg unmittel-bar
vorbeiführt, wurden – ebenso wie im El Julan – Silikon-Kautschuk-Ab-güsse
vorgenommen. Leider kleben hier nicht nur die Ränder, sondern ein
Paneel (Caleta 1.3) wurde durch unsachgemäße Handhabung total zerstört.
El Julan:
Auch die gesamte archäologische Region des El Julan steht unter gesetzli-chem
Schutz. Ein hauptamtlicher Wächter fährt sechs Mal pro Woche mit ei-nem
Geländewagen in die Schutzzone und kontrolliert die Reisepässe der
Besucher. Trotzdem sind bereits bedauernswerte irreparable Schäden einge-treten.
Immer wieder werden kleinere Bruchstücke der riesigen Lavaplatten
herausgebrochen, einige davon sind sogar in kanarischen und europäischen
Museen ausgestellt. Die libysch-berberischen Inschriften sind davon insofern
betroffen, dass ein gesamtes Paneel (Letreros 1.6) völlig verschwunden ist.
Mehrere andere Paneele sind durch unsachgemäß durchgeführte Abgüsse
beschädigt, einige Resultate dieser Abgüsse hängen in kanarischen Museen.
Weit oberhalb der Fundstellen wurde ein großzügiges "Centro de Interpre-tación"
errichtet, dessen Eröffnung in den Medien für Ende 2005 angekündigt
wurde, das jedoch auch Ende 2007 noch leer stand.
Noch immer gibt es keine umfassende und wissenschaftlich korrekte Do-kumentation
der Felsbilder des El Julan. Auch das Buch "El Julan" (Hernández
2002) konnte diese Lücke nicht füllen. Es präsentiert zwar eine Fülle von Fotos,
die dazugehörigen Zeichnungen sind allerdings alles andere als exakt.
ALMOGAREN XXXIX/2008MM121
Barranco de La Candia:
Der Weg, der an einer schönen alten Hütte vorbei zu den kleinen Höhlen
dieses Tales führte, wurde schon früh von deutschen Touristen mit Farbtupfen
markiert und in Wanderführern erwähnt. Beides – Hütte und Weg – sind heu-te
durch die Anlage einer Piste zu Privathäusern zerstört. Die Felsinschriften
wurden durch häufige Besuche stark in Mitleidenschaft gezogen: sie wurden
nachgeritzt, mit Kreide und Farbstiften übermalt.
Seit dem Jahre 2000 wird in den Medien von der Errichtung eines "Parque
Cultural y Jardin Botánico" berichtet. Für die Zugangswege und ein Besucher-zentrum
wurden damals 52 Millionen Peseten veranschlagt. Außer einer ille-gal
errichteten Steinhütte, die halb fertig samt Baugerüst seit Jahren über dem
Abb.5: El Julan - Centro de Interpretación
Abb.6: Letreros 1.7: Foto Zeichnung Hernández Zeichnung Pichler
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Höhleneingang thront und einigen verroste-ten
Schubkarren ist auch 7 Jahre später noch
keinerlei Veränderung festzustellen.
Von kaum einer Inschrift der kanarischen
Inseln gibt es so viele und so stark vonein-ander
abweichende zeichnerische Dokumen-tationen
wie von Paneel Candia 1.1. Bisher
war allerdings niemandem aufgefallen, dass
an mindestens drei Stellen des großen Pa-neels
zwei Schichten von Inschriften überei-nander
gelagert sind, was nun mit den Me-thoden
digitaler Bildbearbeitung sehr deut-lich
demonstriert werden kann.
Abb.8: Detail aus Candia 1.1
Restinga:
Die von deutschen Touristen entdeckte und heute geschützte Fundstelle –
früher auch "Los Saltos" oder "Los Signos" genannt – liegt bedrohlich nahe
an der heutigen Ortsgrenze. Glücklicherweise sind bislang keinerlei Beschä-digungen
zu verzeichnen.
Hinsichtlich von Neufunden ist die Situation auf El Hierro durch zahlrei-che
gezielte Geländebegehungen heute ziemlich ausgereizt. Dennoch kommt
es immer wieder zu interessanten Entdeckungen. So konnten auf den Lava-platten
von "Los Numeros" oberhalb von "Los Letreros" zwei Inschriftenzeilen
Abb. 7: La Candia
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gefunden werden, die nicht einmal in der Gesamtpublikation von Hernández
2002 enthalten sind. Auch das Inventar des Barranco de Cuervo konnte um
eine neue Inschrift erweitert werden.
Ein Inschriftenpaneel der Fundstelle Barranco Hondo/Cueva de Don Gabino,
das bei Ruiz 2003 mit nur 3 Zeilen/9 Zeichen dokumentiert ist, entpuppte sich
bei genauerer Analyse als wesentlich umfangreicher: 11 Zeilen/42 Zeichen.
Besonders interessant ist die Feststellung, dass neben den zahlenmäßig noch
immer weitaus dominierenden Punzierungen in den letzten Jahren auch immer
mehr geritzte Inschriften gefunden werden, nach denen man bis dahin auch
kaum gesucht hatte. Nach frühen Einzelfunden im Bereich des Barranco de
Tejeleita (Pichler 2004) konnten in den Jahren 2003 und 2007 bei besonders
günstigen Lichtverhältnissen weitere Beispiele der extrem seichten und
schmalen Ritzungen im Barranco Cuervo gefunden werden.
La Palma
Trotz sehr intensiver Forschungstätigkeit ist bis heute kein zweites Beispiel
einer libysch-berberischen Inschrift auf dieser Insel gefunden worden. So gel-ten
die bereits in den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts entdeckten
Inschriften am Eingang der Cueva de Tajodeque noch immer als die einzigen
ihrer Art. Sie genießen heute einen kaum zu überbietenden Schutz: Einerseits
ist die Höhle durch ihre Lage am Innenhang der Caldera als Teil des "Parque
Nacional de la Caldera de Taburiente" gesetzlich geschützt, andererseits ist
der Zugang zur Höhle durch die starke Erosionstätigkeit der letzten Jahre so
erschwert worden, dass eine Begehung nur noch unter Lebensgefahr möglich
ist. Eine der äußerst selten gewordenen Begehungen ist im Internet ausführ-lich
dokumentiert (http://www.chumajek.com/foros/viewtopic.php?id=1562).
Abb.9: Numeros 1.1 Numeros 1.2 Cue rvo 1.2
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Abb.10: Hondo 1.1
Ruiz et al. 2003
La Gomera
Jahrzehntelang galt die kurze Inschrift auf einem Holzstück aus der Cueva
de Herrera González (Navarro 1996) als das einzige – in seiner Echtheit nicht
unumstrittene – Beispiel libysch-berberischer Schrift auf La Gomera. Nun
wurde vor kurzem im Eingangsbereich einer kleinen Höhle im Osten der In-
50 cm
ALMOGAREN XXXIX/2008MM125
Abb.11: Cuervo 5.1/5.2
50 cm Jiménez 1982
126MMALMOGAREN XXXIX/2008
sel (Las Toscas del Guirre) eine Inschriftengruppe entdeckt, die zu den größ-ten
des Archipels gehört (Navarro et al. 2006).
Abb.12: Las Toscas del Guirre (Navarro et al. 2006)
Tenerife
Die einzige libysch-berberische Inschrift wurde in den Achtzigerjahren des
vorigen Jahrhunderts im Süden der Insel entdeckt. Interessanterweise gibt es
bis heute keine wissenschaftliche Dokumentation. Veröffentlicht wurden
bislang (unter den Fundortbezeichnungen "La Centinela" bzw. "El Cabuquero")
Abb.13: La Centinela
10 cm
ALMOGAREN XXXIX/2008MM127
nur zwei Fotos, die beide nur den linken Teil des Inschriftenpaneels zeigen
(Balbin/Tejera 1989, Valencia 2006). Im Gegensatz zu La Palma könnte die
Singularität dieser Fundstelle auf Tenerife durchaus mit einem Mangel an
konsequenter Feldforschung zusammenhängen.
Gran Canaria
Bis in die Achtzigerjahre des vorigen Jahrhunderts waren ausschließlich
einige Inschriftenpaneele im Barranco de Balos sowie die kaum sichtbaren
Inschriften am Portal einer Höhle in der Caldera de Bandama bekannt. Wie
sich nun immer deutlicher abzeichnet, stimmen die bislang publizierten Zeich-nungen
dieser Inschriften in wesentlichen Teilen nicht mit der Wirklichkeit
überein. Dies gilt leider auch für die umfangreiche und detaillierte Dokumen-tation
von Balos durch Antonio Beltran (1971). Somit ist auch den zahlreichen
Abb.14: Balos 1.5 Beltran 1971 Pichler 2007
Abb.15: Parque Arqueológico de Arteara
128MMALMOGAREN XXXIX/2008
darauf basierenden Übersetzungsversuchen (Campbell 1904, Rössler 1941,
Delgado 1964, Masellis 1995) jede Basis entzogen.
Seit den Neunzigerjahren des vorigen Jahrhunderts kamen dazu die Fund-stellen
Roque Bentaiga, Risco de la Sierra, Desharrapada, Llanos de Gamona,
Hoya Toledo und Arteara. Die Gruppe CHEC (Comisión de Historia y Etno-grafia
de Canarias) veröffentlichte in zahlreichen Zeitungsartikeln (La Provin-cia)
weitere Neufunde, allerdings grundsätzlich ohne Nennung des Fundortes.
Abb.17: Balos 2.1
Abb.18: Graffiti in Balos 1
ALMOGAREN XXXIX/2008MM129
Unter gesetzlichem Schutz stehen die archäologische Zone im Barranco de
Balos sowie die Nekropolis von Arteara.
In Arteara wurde ein Besucherzentrum errichtet, das jedoch heute wieder
geschlossen ist. Auf den Wächter (Tafel: "Ich Komme kleich! Security
Rounde") wartet man vergeblich. Eingeschlagene Glasscheiben kündigen den
baldigen Verfall dieses Zentrums an.
In Balos wurde der Basaltrücken von Balos I mit einem hohen Zaun umge-ben,
dessen dicke Eisenstäbe jedoch schon bald aufgebogen wurden. Über
Jahrzehnte war diese Schutzzone ein beliebtes Ausflugs- und Picknickziel für
Einheimische. So nimmt es nicht wunder, dass viele der Basaltflächen dicht
mit jungen Graffiti bedeckt sind. Zahlreiche Punzierungen, darunter auch ei-nige
libysch-berberische Inschriften wurden dadurch bis zur Unkenntlichkeit
zerstört. Vor einigen Jahren wurde der Zaun wieder geschlossen, ein "Centro
de Interpretación" ist in Planung.
Einer der wertvollsten Inschriftensteine der Insel (Balos 2.1) liegt leider
außerhalb des Schutzzaunes. Er wurde 2007 in einem brutalen Vandalenakt
zertrümmert, was in den Medien einen Sturm der Empörung entfachte. Die
zuständigen Behörden haben eine Rekonstruktion in Aussicht gestellt.
Im Barranco de Balos wurden in den letzten Jahren zahlreiche neue In-schriften
gefunden. Ihre detaillierte Behandlung würde den Rahmen dieses
Überblickes bei Weitem sprengen, deshalb soll sie einer eigenen Publikation
vorbehalten bleiben.
Zurzeit beschäftigen sich zwei Forschungsprojekte mit der Region "Balos
und Umgebung":
Grupo de Investigación Tarha (Ernesto Martín Rodríguez, María del
Cristo González Marrero, Manuel Ramírez Sánchez, Javier Velasco Vázquez):
"La memoria en la piedra: Análisis de la evolución diacrónica y pautas de
interpretación de las manifestaciones rupestres del Valle de Balos".
Proyecto Tamogante - Legado Canario (Julio Cuenca Sanabria, José J.
Montelongo Martin, Marco A. Martinez Torcal, Milagrosa García Navarro,
Pilar Ramos, Leticia González): "Redacción del proyecto para la museali-zación
del yacimiento arqueológico de los letreros de Balos".
Fuerteventura
Als einzige der sechs Fundstellen libysch-berberischer Inschriften genießt
der Barranco del Cavadero gesetzlichen Schutz. Weder die Kulturbehörden
noch die lokalen Forscher haben sich bisher intensiv mit diesem Kulturerbe
der Insel befasst. Es gibt kaum Veröffentlichungen, zahlreiche Paneele wur-den
in spanischen Publikationen bis heute nicht einmal erwähnt. Ihre Gefähr-
130MMALMOGAREN XXXIX/2008
dung hält sich in Grenzen, da sie meist weitab von Straßen und Siedlungen zu
finden sind, viele davon nahe der Gipfel von Hügeln und Bergen.
An der Cuchillete de Buenavista hat sich eine schon vor vielen Jahren ge-äußerte
Vermutung bestätigt. Von den exponierten Basaltwänden hoch oben
am Berg brechen immer wieder Säulen heraus und stürzen in Trümmer zer-legt
die Hänge hinunter. Dies hängt ursächlich mit den starken Ausschwem-mungen
der lockeren Gesteinsschichten unmittelbar unter der Basaltschicht
zusammen. So konnte eine noch 1994 dokumentierte latino-kanarische In-schrift
2007 nicht mehr gefunden werden.
Die Fundstelle Morretes de Montaña Blanca entzieht sich zurzeit jeder
wissenschaftlichen Bearbeitung, da der gesamte Hügel und seine Umgebung
von einem zwei Meter hohen Weidezaun umgeben ist.
Leider ist auch der wichtige Inschriftenstein von Morretes de Tierra Mala
nicht von Überkritzelungen verschont geblieben.
Lanzarote
Auch die Felsinschriften Lanzarotes wurden – so wie die Fuerteventuras –
relativ spät entdeckt und dokumentiert. Sie erfuhren eine ähnliche stiefmüt-terliche
Behandlung durch kanarische Behörden und Forscher. Keine einzige
Fundstelle wurde unter Schutz gestellt. Einige Fundstellen sind durch die
Ausweitung der Besiedlung und der landwirtschaftlichen Tätigkeit gefährdet.
Argana: liegt schon sehr nahe an der Siedlungsgrenze der Hauptstadt.
Abb.19: Morretes de Tierra Mala
ALMOGAREN XXXIX/2008MM131
Abb. 20: Manguia 1.2
Cabrera: die landwirtschaftlichen Flächen sind bis
auf wenige Meter herangerückt.
Femés: ein eingezäunter Ziegenstall liegt nur weni-ge
Meter daneben, die Felsplatten sind zum Teil von
Ziegenkot bedeckt.
Manguia: im offensichtlich in Privatbesitz befindli-chen
Barranco (neuerdings Tafel: Betreten verboten)
wurden mit schwerem Gerät Baggerarbeiten nur
wenige Meter neben der Fundstelle durchgeführt.
Ein Teil der Inschriften ist mit großen weißen Farb-kreuzen
bedeckt.
Tenezar: Trotz der Abgelegenheit wurden in den
letzten Jahren einige Paneele durch moderne Graf-fiti
beschädigt.
Abb. 21: Femés 1.2
10 cm
10 cm
132MMALMOGAREN XXXIX/2008
Auch auf Lanzarote wurde in den letzten Jahren keine neue Fundstelle
entdeckt, an den bereits bekannten konnten allerdings neue Zeilen dokumen-tiert
werden, z.B. in Femés und Manguia. In dem nun vorliegenden Versuch
einer Gesamterfassung aller Schriftzeilen des Paneels Cabrera 1.1 zeigt sich,
dass diese Felsplatte die zurzeit umfangreichste Inschriftengruppe aller kana-rischen
Inseln enthält.
Abb. 22a: Cabrera 1.1 oben
Abb. 22b: Cabrera 1.1 unten
10 cm
10 cm
ALMOGAREN XXXIX/2008MM133
Das Resümee dieser Bestandsaufnahme ist ernüchternd: Gewaltig ist der
Schaden, der in den letzten hundert Jahren eingetreten ist und auch in der
Gegenwart noch immer passiert.
Gesetzliche Schutzmaßnahmen für eine Region sind zwar notwendig, ha-ben
aber kaum eine praktische Bedeutung für den tatsächlichen Schutz.
Hauptamtliche Wächter sind natürlich begrüßenswert, garantieren aber
keine Rund-um-die-Uhr-Bewachung.
Besucher- und Informationszentren sind wünschenswert, aber nur dann,
wenn sie konsequent betrieben werden bzw. auch tatsächlich geöffnet sind.
Einzäunung ist ein hervorragender Schutz, aber nur dann, wenn Beschädi-gungen
des Zaunes auch sofort repariert werden.
Nicht zum ersten Mal wird hier die Anregung vorgebracht, die kanarische
Bevölkerung schon vom Kindergarten/Volksschul-Alter an mit ihrem Kultur-erbe
vertraut zu machen und für die Notwendigkeit ihres Schutzes zu sensibi-lisieren.
Ebensowenig neu ist die Anregung, bei Baumaßnahmen besser zwischen
verschiedenen Behörden zu koordinieren, sodass nicht noch weitere archäo-logische
Zonen der Bautätigkeit zum Opfer fallen.
Der begonnene Weg, Grundstücke mit bedeutenden Fundstellen von Seiten
der öffentlichen Hand aufzukaufen, sollte unbedingt fortgesetzt werden: ein
Großteil der Fundstellen libysch-berberischer Inschriften befindet sich noch
immer in Privatbesitz.
Bei Informations- und Besucherzentren sollte äußerste Sorgfalt auf fach-lich
und sprachlich korrekte Präsentation neuester Forschungsergebnisse ge-legt
werden.
Lionel Galand, der Doyen der Erforschung libysch-berberischer Sprach-denkmäler,
hat seit Jahrzehnten zu Recht immer wieder darauf hingewiesen,
dass eine fachgerechte und detaillierte Dokumentation der Funde die unver-zichtbare
Basis für jede weitere Betrachtung darstelle. Die Erforschung der
Felsinschriften der Kanarischen Inseln ist tatsächlich viele Irrwege gegangen:
meist hervorgerufen durch eine unzureichend exakte Wiedergabe der Schrift-zeichen.
Manchmal waren auch Sprachbarrieren daran Schuld, dass aktuelle
Forschungsergebnisse nicht zur Kenntnis genommen wurden.
Das vom Autor iniziierte und von Mitgliedern des Institutum Canarium
durchgeführte Forschungsprojekt
LBI - Libyco-Berber Inscriptions Online-Database
Digitalizing the Cultural Heritage
hat sich zum Ziel gesetzt, Startinitiative für eine neue Phase der Forschungs-geschichte
zu sein:
134MMALMOGAREN XXXIX/2008
Alle relevanten Daten über libysch-berberische Felsinschriften sollen in
standardisierter Form erfasst werden.
Diese Datenfülle soll in einer gut strukturierten Datenbank gespeichert
werden.
Die Datenbank soll im Internet präsentiert werden, um das gesammelte
Material allen Fachkollegen, aber auch der interessierten Öffentlichkeit zu-gänglich
zu machen.
Teil 1 dieses Vorhabens – Marokko und die Kanarischen Inseln – liegt nun
in der Version 1.0 vor: http://www.lbi-project.org
Ein unschätzbarer Vorteil dieser digitalen Speicherung und Präsentation
ist u.a. auch die ständige Erweiterbarkeit: Jedermann ist dazu aufgerufen, ei-nen
Beitrag zur Aktualisierung der Datenbank in Form von Ergänzungen und
Korrekturen bestehender Daten bzw. der Aufnahme neuer Fundstellen zu lie-fern.
Literatur:
Arnaiz Villana, A.; Alonso Garcia, J. (2000): Egipcios, Bereberes, Guanches y
Vascos. Madrid
Balbin Behrmann, R.; Tejera Gaspar, A. (1989): Arte rupestre en Tenerife. XIX
Congreso Nacional de Arqueología, Vol. 2, Zaragoza, 297-309
Beltrán Martínez, A. (1971): Los grabados del Barranco de Balos/Gran Canaria.
Zaragoza
Bethencourt Alfonso, J. (1912/1991): Historia del Pueblo Guanche. Tomo 1. La
Laguna
Campbell, J. (1900): Mexican Colonies from the Canary Islands traced by
Language. Proceedings and Transactions of the Royal Society of Canada,
second series, volume VI, Toronto/London
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Alfonso, of Tenerife. Transactions of the Canadian Institute, vol. VII, Toronto
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Grau-Bassas, (1881/82): Inscripciones numídicas de la isla del Hierro. El
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ALMOGAREN XXXIX/2008MM135
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Rössler, O. (1941): Libica. Wiener Zeitschrift für die Kunde des Morgenlan-des.
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Canario LV/2000. 27-57
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