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Almogaren XX/ 2 / 1989 Hallein 1~ 1. Einleitendes Helmut Stumf ohl Probleme der Ethnogenese (1983) a) Stichwort „Ethnogenese" 101-154 Sieht man die einschlägigen Lexika auf ein mögliches Stichwort "Volkswerdung", "Völkerentstehung" oder eben "Ethnogenese" durch, stößt man auf eine erstaunliche Lücke: es gibt es nicht. In die Nähe kommt Bertil Lundmann mit seinem Begriff der "Ethnogonie", er geht aber auf die eigentliche Problematik kaum oder zu wenig ein. Unter dem Begriff "Ethnogenese" fassen wir jene Prozesse zusammen, die zur Herausbildung eines Stammes, eines Volkes, eines Ethnos führen, wozu auch die Entstehung eines bestimmten Bewußtseins der Idendität, der Zusammengehörigkeit gehören; dabei handelt es sich keineswegs nur um einen biologischen oder gar organischen Prozeß, der mit unanwendbarer naturgesetzlicher Notwendigkeit abrollt, sondern vor allen Dingen um einen sozialen Prozeß. Hier größere Klarheit zu erlangen, sollte nicht nur für Historiker und Linguisten, sondern auch für Staatswissenschaftler, Politiker und Politologen von Interesse sein. In der großen Masse politischer, historischer, geographischer und linguistischer Darstellungen werden Begriffe wie Volk, Stamm, Ethnos, Clan, Nation, Sprache etc. als feststehende Größen behandelt, die ein für allemal gegeben sind und gegeben waren; noch dazu als einsinnig bestimmbare Größen. Gewöhnliche Überlegungen - auch den und gerade den nationalistisch- chauvinistisch bestimmten liegt es ganz fern, auf das Phänomen des mehrfachen Bewußtseins etwa einzugehen, das doch in Wirklichkeit eine sehr große Rolle spielte; gerade indem man es in der bewußten, auf einen Einheitsstatt zielenden Nationalitätenpolitik vermied, wurde es in Wirklichkeit vorausgesetzt. In Wahrheit handelt es sich um sehr komplexe Erscheinungen, auch im vor- und frühgeschichtlichen Raum. Man stelle sich einen alten Österreicher kroatischer Muttersprache aus dem Burgenland vor, dem in einer magyarischen Schule ungarisches Nationalbewußtsein eingeimpft worden war, nebst dem täglichen Gebrauch der ungarischen Sprache, der nun aber überzeugter österreichischer Staatsbürger ist; oder man stelle sich einen in Israel, sagen wir auf den Golanhöhen lebenden Drusen vor, dessen Muttersprache zwar Arabisch ist, der sich aber als 101 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 Druse und israelischer Staatsbürger fühlt, der mit seinen syrischen Sprachkameraden keine Verbindung wünscht, obgleich diese dieselbe Sprache sprechen. Man denke daran, in welchem Ausmaß das Bild des zentralistischen Einheitsstaates mit einheitlicher Sprache noch heute nachwirkt - noch immer anerkennen Griechenland, Frankreich, Italien ihre Minderheiten entweder überhaupt nicht oder in zu geringem Maße oder nicht alle ihrer Minderheiten - dann nur die, die sich zu rühren verstehen. Für einen durchschnittlichen Griechen gibt es nur Griechen in seinem Lande. Die oft hunderttausende Köpfe zählenden Minderheiten der Mazedonier, Aromunen, Albaner, Türken etc. sind ihm unbekannt; allenfalls gibt er zu, wie es mir persönlich widerfahren ist, daß in seiner Nachbarschaft Griechen mit "unverständlichem Dialekt" leben; im konkreten Falle handelte es sich um Albaner im Zentrum Arkadiens! Manchmal wird, inmitten dieser nationalistischen Begriffsverwirrung, der Verdacht laut, eine Volksgruppe sei ihrer Identität beraubt worden - womit zugleich zugegeben wird, daß es diese Möglichkeiten gibt und also wohl auch gegeben haben kann - so etwa in der griechischen Behauptung, daß alle Türken Zyperns eigentlich türkisierte Griechen seien (möglicherweise ein Teil), wozu die entgegengesetzte Behauptung der Türken gehört, daß alle Griechen Zyperns nur zwangsweise griechisierte Türken seien ( eher unwahrscheinlich). b) Projektion in die Vergangenheit Überall sind wir ohne weiteres Nachdenken geneigt und versucht, Begriffe wie Volk, Stamm, Nation, Sprache als einheitliche gegebene Größen in die Vergangenheit zurückzuprojizieren; wir schreiben vorge- . schichtlichen Völkern, die oft nur archäologisch deutlich sind, ein Volks-, Sprach- oder Stammesbewußtsein zu, über das wir schlechterdings nichts aussagen könnten; ja wir transponieren den modernen Nationalitätenbegriff, der an sich kaum mehr als zweihundert Jahre alt ist, unbesehen und unbesorgt in Epochen der Geschichte, die ihn gar nicht kannten. Nennen wir als brisantes Beispiel den Streit um die Nationalität des Nicolaus Kopernikus. Für die Deutschen war er Deutscher - seine Muttersprache war ja unzweifelhaft Deutsch; für die Polen ist er Pole, nicht nur des polnischen Namens wegen, was gar nichts besagt, man denke an viele Polen mit litauischen, ukrainischen, weißrussischen oder deutschen Namen. Ohne Zweifel aber lebte er im Einflußbereich der polnischen Krone und hätte man ihn selbst befragt, wie er sich klassifiziere, hätte er die Fragestellung vermutlich nicht ganz verstanden, sondern gesagt, er sei ein treuer Sohn der Kirche und em l<:>yaler Untertan der polnischen Krone! Vom 102 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 modernen Begriffsinventar her gesehen, war er weder deutschen noch polnischen Bewußtseins! c) Die ideologische Mißdeutung Begriffsverwirrung und Mißdeutung verdanken wir grundsätzlich dem romantischen Denken, das ohnedies gerne die Begriffe vermischte, weil es grundsätzlich Grenzen und Abgrenzungen aufhob zugunsten eines mehr gefühlten als erkannten Universalen. Noch genauer: man verdankt dies der Popularisierung romantischer Gedanken und Gefühle, der die eigentlichen Romantiker durch die bewußte und noch mehr unbewußte Gleichsetzung von Volk, Stamm, Sprache, Nation und Rasse vorarbeiteten. Der Schritt von der romantischen Grundüberzeugung, daß Deutsch eine "reine, ungemischte" Sprache sei (1). zu der Meinung, daß die Deutschen oder die Germanen, reiner, ungemischter, endlich besonders "edler" Rasse seien, ist leicht vollzogen und außerdem schmeichelhaft. Bei den romantischen Sprachwissenschaftlern, etwa Jakob Grimm eben, vollzieht sich das wider besseres Wissen; aus seinen sprachlichen Materialien heraus hätte er auch zu dem entgegengesetzten - und sachrichtigeren - Schluß kommen können. Der eigentliche Hintergrund ist das romantische Gefühl einer verklärten und besseren Urzeit, in der alles reiner, natürlicher, gesü, nder gewesen sei, die es wieder herzustellen gilt; in dieser war alles "organisch" - ein anderes Lieblingswort des Romantikers dieser Art - "unverfälscht" etc. Hierher gehört natürlich auch der Mißbrauch der Vorstellung des "reinen Blutes", was sich praktisch nur in einer extremen lnzuchlbevölkerung verwirklichen ließe. Das reduziert sich auf die Heiratspolitik von Vorfahren - bewußt oder unbewußt - die nur innerhalb des engen Verwandtschaftskreises heirateten oder heiraten konnten; Habsburger, Coburger, die Rothschilds; das erzeugt rasch einen einheitlichen Typus. Man überlege die Verwaschenheit, die Verblasenheit schon im Titel von Jakob Grimms "Deutscher Grammatik" (1819 - 1837 in vier Bänden, besonders das Vorwort ist wichtig): in Wirklichkeit handelt es sich um eine vergleichende Grammatik aller germanischen Sprachen, die als deutsche Dialekte angesehen werden - eine noch unschuldige Wurzel pangermanistischer Vorstellungen; zugleich werden Stämme, Völker, Nationen gleichgesetzt. d) "Reine Abstammung" Der Begriff der "reinen" Abstammung, des "reinen Blutes" gehört auch in den weiten Bereich der säkularisierten Vorstellungen: in ihm wird der Begriff des "reinen", des "wahren" Glaubens säkularisiert, seines religiösen Bezugs beraubt; wir begegnen hier einem Säkularisationsprodukt 103 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 des machtmäßig und dogmatisch fixierten und etablierten christlichen Kirchentums. Der "Bastard", der "Mischling" entspricht dem "Ungläubigen", dem "Ketzer"; im Spanien des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit war dies sogar identisch: wer nicht reinen, besonders kastilischen Blutes war, der war von vornherein als Ketzer verdächtig, ganz besonders wenn er maurischer oder jüdischer Herkunft war. Was den Begriff der reinen Rasse so gefährlich macht, ist gerade die Tatsache, daß er säkularisiert ist; der religiöse Antrieb wirkt unter der Maske des Weltlichen und Säkularen fort; er ist jenseits logischer Zugänglichkeit angesiedelt. In allen rassistischen Gedankengängen haben wir in Wirklichkeit mit einer verkappten Religion zu tun. (2) Das heißt auch sagen, daß die romantischen Reinheitsvorstellungen in Bezug auf Abstammung/Rasse, Sprache etc. weniger deutlich ausgesprochen und ausformuliert sind, als vielmehr latent, suggeriert, impliziert sind; gerade deshalb sind sie auch so wirksam. Wir finden Vorstufen schon bei Novalis, die zunächst noch, wie bei allen Romantikern, unschuldig klingen, aber leicht dem Mißverständnis ausgesetzt sind. "Deutschheit ist echte Popularität und damit ein Ideal". (3) Damit ist gemeint, daß die Deutschen wahrhaft volkhaft sind, zugleich aber, daß sie dies noch nicht ganz erreicht haben. "In energischer Universalität kann keine Nation gegen uns auftreten". (4) Ein vertrackter Satz, eines Romantikers würdig - er macht die Deutschen zu universalen Weltbürgern und gerade darin zu etwas eigentümlich Volkhaften oder Nationellen, wie man damals gerne sagte. Bei Friedrich Schlegel finden wir, daß Einheit der Sprache gemeinsamen Ursprung beweise und daß die Sprache das würdigste Prinzip für die Einteilung der Staaten sei: "Je älter, reiner und unvermischter der Stamm, desto mehr Sitten, und je mehr Sitten und wahre Beharrlichkeit" und Anhänglichkeit ~n diese, desto mehr wird es eine Nation sein." (5) Hier finden wir das ganze Instrumentarium romantischer Anschauungen m nuce. Wir merken leicht, daß der Begriff der gemeinsamen Abstammung schon den ideologisch mißbrauchbaren Rassenbegriff im Keime enthält; wir begegnen gewissen Beiwärtern, wie "rein", "echt", "unvermischt"; wir begegnen der romantischen Vermischung der Begriffe, die entweder gleichgesetzt oder in gegenseitiger Abhängigkeit verwendet werden - immer wird ein Begriff durch den anderen definiert und das Entscheidende vorausgesetzt; hier, in unserem Beispiel Sprache, Stamm, Nation. Wir begegnen, um es mit Meinecke zu sagen, dem Irrtum, daß Blutsverwandtschaft die Nation ausmache, was nicht heißt, daß sie nicht auch eine gegebene Größe sein kann, aber eben ein Faktor unter anderen. 104 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 Noch schärfer sagt es Fichte, der schlechterdings meint, im deutschen Charakter liege etwas Ursprüngliches und Überzeitliches vor; die deutsche Sprache ist ihm Ursprache, das deutsche Volk Urvolk, das Urvolk schlechthin, neben dem alle anderen Völker nur abgeleitete Größen sind. (6) Hier sehen wir nicht mehr ganz so unschuldige Wurzelgründe ideologischer Verzerrung, ideologischen Mißbrauchs der Volkstumsideen. (7) Die romantische Betrachtungsweise hatte natürlich auch, nicht nur im Sprachwissenschaftlichen, ihre positiven Seiten, ihre Fruchtbarkeit; so in der Herderschen Lehre vom schöpferischen Volksgeist. (8) Aus ihr folgt je nachdem, was wir betonen, einerseits die besondere Beachtung des anonymen Tuns - Sprache, Märchen, Volkslied - anderseits aber die sich stets übersteigernde Vorstellung, daß Völker, Stämme, Nationen in sich geschlossene, ursprüngliche Identitäten (8) seien, etwa a priori Gesetzes, das durch Geschichte und Entwicklung allenfalls nur schlechter, unreiner, unechter, vermischter werden konnte. Wir sehen hier auch Rousseaus Wirkung auf die Romantik durchscheinen. (9) c) "Autochthon" Reiner, ungemischter Abstammung zu sein, wird dann oft gleichbedeutend mit "autochthon" zu sein, Ureinwohner, indigena, aborigenes zu sein: mythisiert erscheint dies dann als Abstammung von einem Urpaar. Dies alles ist schmeichelhaft, man erschafft sich Ahnen, die schon der Reinheit ihres Blutes wegen zu bewundern und nachzuahmen sind. Dererlei Vorstellungen sind alt, sie begegnen schon in der Antike als ein Topos, als stereotype Behauptung, die unbesehen als exakte Beschreibung der Wirklichkeit aufgefaßt wird. So beschreibt Hippokrates die Skyten "als ein nur sich selbst ähnliches" Volk. (10) Tacitus operiert mit derselben Vorstellung, auf die Germanen bezogen. (11) Er erklärt sie auch für Eingeborene, Autochthonen. Wieweit Tacitus dies selbst für exakt beschreibend hielt, sei dahingestellt; ihn leiteten ja pädagogische Absichten - die Germanen sollten für seine dekadenten Römer ein Spiegel und Beispiel des Echten, Unverfälschten, Natürlichen und Biederen sein. (12) f) Romantische Übertragungen: Slawen Dieser Komplex von Vorstellungen - also: reines Volk, reine Sprache, wahre Ursprache, wahres Urvolk - der zuerst den Germanen gilt, wird nun zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf andere Gruppierungen übertragen, insbesondere die Slawen, worin schon Herder den Romantikern und deren späteren politischen Popularisatoren vorarbeitet. Der in Jakob Grimms Werk noch harmlose, unschuldige, gleichsam nur philologische Pangerma- 105 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 nismus, verwandelt sich unversehens über seinen Vetter, den politischen Pangermanismus, in einen viel schärfer bewußten und aufgeheizten Panslawismus, der seinerseits wieder auf den politischen Germanismus und Pangermanismus zurückwirkt. (13) Der noch universalistische und humanitäre Pangermanismus Jakob Grimms und die romantischen Folgevorstellungen werden ins Slawische übertragen: Die Slawen erscheinen nun als das reine, echte, schöpferische Urvolk, als eine Umation, die in Dialekte zerspalten, wieder unter russischer Führung zur Einheit geführt werden muß. Es verwundert nicht, daß dabei gerade kleine slawische Völker, besonders Slowaken und Tschechen, führend waren, während die Slowenen sich auf den Traum vom großslowenischen Reich beschränkten. Ja, es gab sogar Bestrebungen, eine allgemeine slawische Literatursprache zu schaffen, in Wirklichkeit ein unmögliches Unterfangen. (14) g) Verwaschenheit der Begriffe Dabei erfahren an sich schon ältere Vorstellungen - wie die biblisch oder religiös gegründeten Vorstellungen von Urpaar, Urvolk und Ursprache - eine Verschärfung und verschiedene Übertragungen. Dererlei Vorstellungen färben noch die Anfänge von Wissenschaften, die dann später einen anderen Gang gehen. Aber Reste solcher Vorstellungen werden mitgeschleppt und landen dann oft in den Randzonen der Schwarmgeister, "in the frings of insanity", der Randzone, die die moderne Gesellschaft umgibt. Sie führen da ein zähes Leben - so die von Friedrich Schlegel aus einer ersten Begeisterung über neu erschlossene Sprachzusammenhänge geborene Vorstellung vom Sanskrit als einer edlen, reinen Ursprache, von der alle indogermanischen Sprachen abstammen, (15) in der sich aber nur . die um vieles ältere Vorstellung spiegelt, daß Hebräisch die Ursprache der Menschheit und die Sprache der Engel sei. (16) Urvolk, Ursprache, Urpaar sind keine wissenschaftlich faßbaren Begriffe, sie sind emotionell, symbolisch, mythologisch; brauchbar können sie erst durch Scheidung in sekundärem Gebrauch werden. Die angebliche Abstammung von einem Urpaar ist eine Abstraktion, eine biologische und anthropologische Vereinfachung, die in der Bibel symbolischen Wert hat: grundsätzliche Einheit des Menschengeschlechtes. In ihr steckt zugleich in nuce die Vorstellung, reiner, ungemischter Abstammung zu sein. Ein Urpaar wird konstruiert, indem die biologische Anschauung, die bestenfalls über wenige Geschlechterfolgen reicht, bis in einen mythischen Anfang hinein erstreckt wird. In Wirklichkeit umschreibt der Begriff ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, das in Wirklichkeit nie rein biologisch zu verstehen war, weil Fremde durchaus assimiliert werden 106 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 konnten. Daß auch den Bibelvätern die Vorstellung nicht ganz geheuer war, daß es nur das eine Urpaar gegeben habe, zeigt die hebräische Sage von der zweiten oder anderen Frau Adams, Lilith, die nach einigen Erzählern sogar seine erste Frau gewesen sei. Die tatsächliche Monogenese der Menschheit, erwiesen durch die uneingeschränkte Fruchtbarkeit zwischen Vertretern aller Menschenrassen, bedeutet nicht Abstammung von einem Urpaar, auch dann nicht, wenn immer klarer wird, daß die Verschiedenartigkeit der heutigen Menschenrassen keinen ursprünglichen Zustand darstellt, sondern einen sekundären, der durch lnzuchtgruppen, unterbewußte Zuchtwahl und durch all das erklärbar wird, was wir heute unter den Faktoren der Domestikation und der Selbstdomestikation begreifen. Dieser scheinbare Widerspruch zwischen Monogenese Ablehnung der Urpaar-Vorstellung löst sich durch das Mittel der Populationsgenetik. Im Mensch-Tier-Übergangsfeld, das unbedingt vorauszusetzen ist - muß es Populationen auf dem Wege zur Menschwerdung gegeben haben, die einander so nahe standen, daß es, wenigstens vereinzelt, zu fruchtbaren Vereinigungen kam; im Zusammentreffen und Verschmelzen solcher hypothetischer Genträger entstanden die ersten eigentlichen Menschen, die zusammen, als Population, nicht als Individuen, alle Gene auf wiesen, die den Menschen ausmachen. Hier auch, bevor es zur eigentlichen Menschwerdung kam, ist die Urhorde, die vielleicht schon des Spiels der genetischen Möglichkeiten wegen promiscue war, einzuordnen. Morgans (17) Begriff der Urhorde, die er sich in weiterer Entwicklung als eine Urfamilie mit Gruppenehe und inzestuösen Bindungen vorstellt, die ein allgemeiner Urzustand der Menschheitsentwicklung gewesen sei, ist abzulehnen - sie hat es so nie gegeben. Im strengsten Sinne bedeutet Populationsgenetik, daß niemals alle genetischen Möglichkeiten in einem Individuum vereinigt sind, sondern nur in einer Gruppe von Personen; in einem übergeordneten Sinn muß die ganze Menschheit auch heute noch als eine solche Population angesehen werden. D.h. auch, genetisch gesprochen, daß der Phänotyp nie ganz der Genotyp sein kann. Damit ergibt sich von vornherein eine gewisse Variabilität und Plastizität der Erbanlagen, die durch nicht genetische Faktoren - Auslesefaktoren bewußter und unbewußter Art noch modifiziert werden. Daraus ergeben sich für alle Rassentheorien, aber auch für die Ehtnogenese entscheidende Folgerungen. (18) Beachten wir die bis jetzt aufgewiesene Problematik, so zeigt es sich leicht, daß eigentlich in der gesamten ethnographischen und volkskundli- 107 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 eben Literatur, aber auch in Politologie und Soziologie, miL verwaschenen Begriffen gearbeitet wird, die z.T. der Romantik immer noch verhaftet sind. Dazu kommt, daß vor allen Dingen im anglosächsischen Bereich Volk, Stamm, Ethnos, aber sogar Nation einfach mit "race" bezeichnet werden, was besonders in Übersetzung durch das deutsche "Rasse" zu zahlreichen Verschiebungen, ja Sinnentstellungen und Mißdeutungen führt. So werden beständig linguistische, biologische und soziologische Gegebenheiten miteinander gleichgesetzt oder verwechselt; am Ende erreichen wir statt Wissenschaft Mythologie, eine mythische Ureinheit von Volk, Stamm, Rasse, Sprache, die es nie gegeben hat. Das herkömmliche romantische Begriffsinventar reicht nicht aus, um etwa folgende Fragen zu beantworten, die nur eine kleine Auswahl der möglichen Fragen darstellen: Sind die Zigeuner ein Volk? Sind die Juden ein Volk? Wohin sind Restvölker und Volkssplitter zu zählen? Etwa: die Tahtaci Anatoliens? Die Karamanli, die türkischen Christen? Die Parsen Irans? Die Parsen Indiens? Sind die Drusen ein Volk? Wohin gehören die heute noch Türkisch sprechenden Nachkommen der Mamelucken Ägyptens? Was ist mit den Basken, die nicht mehr Baskisch sprechen? Sind die Aromunen und Kutzowlachen ein Teil des rumänischen Volkes? Wohin gehören die jetzt aussterbenden Liven Kurlands? Die ebenfalls sprachlich aussterbenden kleinen finnischen Restvölker im Süden und Südosten Leningrads - die Woten, Wepsen, Ingermanländer? Wohin gehört das kleine Kaukasvolk der Ubychen, das bei Bandirma in Anatolien am Marmarameer lebt - noch etwa 25 Familien? Was ist mit den Tscherkessen, die im Inneren Anatoliens, in Syrien, in Israel leben? Wie sind, um ein ungelöstes ethnisches Rätsel in unserer nächsten Nachbarschaft zu nennen, die Bewohner des Val Resia im Friaulischen zu klassifizieren? h) Methodisches Zum Methodischen seien ermge Bemerkungen erlaubt. Die romantischen Auffassungen stellen auch eine unzulässige Vereinfachung dar. Sie übersehen völlig die Fülle der Faktoren, die ethnogenetisch wirksam waren; hier erscheint, ausgerechnet bei den Romantikern, eine falsche wissenschaftliche Ökonomie, die auf eine Ursache zurückzuführen anstrebt, was irgendwie angängig ist oder Gegebenes als eine feste Größe behandelt, die nicht mehr abgeleitet zu werden braucht. In der Tat ist aber die Entstehung von Völkern, Volkstümern, Ethnien - jeweils hier gleichbedeutend gebraucht - ein sehr komplexer Vorgang. Viele Verwirrung wird dadurch hervorgerufen, daß Bündel von Faktoren vereinfacht, simplizifiert werden. Jakob Burckhards "terribles simplificateurs", die er für das 20. Jahrhundert in der Politik erwartet, sind leider nicht nur da zuhause: 108 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 sie haben ihr Unwesen ebenso sehr in Anthropologie, Linguistik und Ethnographie getrieben. Im Begriff des Komplexes verfügten wir über ein Erkenntnismittel, das Vielgestalt in Eingestalt, Vielfalt in Einheit faßt; damit vermeidet man die Fallgruben monokausaler Ableitung oder bloß axiomatischer Voraussetzung. Wer nur Einzelfaktoren, aus dem Zusammenhang gelöst, vergleicht, der gelangt leicht zu extremen Idealtypen, an denen die Wirklichkeit schematisierend gemessen wird. (19) i) Gustav Kossinna Zwischen Wissenschaft und Ideologie ist Gustaf Kossinna (1858 - 1931) mit seiner Siedlungsarchäologie angesiedelt. Kossinna nimmt dabei Gedankengänge des schwedischen Prähistorikers Oskar Montelius (1834 - 1921) auf, die dieser allerdings mit sehr viel größerer Vorsicht und Zurückhaltung geäußert hat, als der apodiktisch formulierende Kossinna. (20) Kossinnas wohlbekanntes Diktum umreißt die Methode: "Scharf umgrenzte Kulturprovinzen decken sich zu allen Zeiten mit ganz bestimmten Völkern und Völkerstämmen." (21) Seine Methode exerziert Gustaf Kossinna in seiner an sich kenntnisreichen und folgenschweren Arbeit über die Ostgermanen durch. (22) Hier zeigt Kossinna seine große, übrigens fast gänzlich durch Museumsstudien und nicht durch Feldforschung erworbene Sachkenntnis, dennoch sind die Ergebnisse nicht eindeutig. Schon die Scheidung zwischen Ost- und Westgermanen ist zunächst eine rein philologische gewesen - tatsächlich aber sind die Ostgermanen eine Abzweigung der Nordgermanen: heute ist klar, daß selbst sprachliche Unterscheidungen schwierig sind; es muß jedenfalls Übergänge und Konvergenzen gegeben haben. Sind die Burgunder Nordgermanen) Sie kamen aus skandinavischen Sitzen; ihre spärlichen sprachlichen Hinterlassenschaften sind keineswegs eindeutig nordgermanisch. Wie steht es mit den Langobarden!? Ostgermanen, die sich mühelos sozusagen, ins Westgermanische einfügen - ihre hinterlassenen sprachlichen Reste sind jedenfalls dem Althochdeutschen sehr nahe. Kossinnas Beispiel machte Schule nicht nur bei seinen polnischen Schülern. Jürgen Spanuth exerziert seine germanische Griffzungenschwerter durch - ein einziges, extremes Merkmal; die Historiker der Seevölker bemühen z.T. die bis zum Überdruß strapazierte phrygische oder philistäische Federkrone - die vielleicht nur das versteifte eigene Haar gewesen ist. Tatsächlich ist Kossinnas Siedlungsarchäologie jeweils nur in eng begrenzten Bereichen anwendbar, besonders dann, wenn sie durch andere Methoden gestützt werden kann. Als einzige Methode angewendet kann sie in die Irre führen. Ein schon sattsam bekanntes Beispiel ist das der Lausitzer Kultur (13. - 9. Jh. v. Chr.). Für Alfred Götze - einen der Lehrer 109 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 Kossinnas - war sie thrakisch. Für Rudolf Virchow war sie - mit Zurückhaltung - germanisch oder vorgermanisch; Carl Schuchhardt - der Lieblingsfeind Kossinnas, im Gegensatz zu diesem ein hervorragender Feldforscher - schloß sich später dieser Meinung an. Für den bedeutendsten polnischen Schiller Kossinnas, Josef Kostrzewski, war sie - natürlich - slawisch. Für Kossinna selbst war sie zunächst karpodakisch, dann illyrisch. (23) In Wirklichkeit kann keine dieser Zuschreibungen Anspruch auf Gü1tigkeit erheben; die Lausitzer Kultur, die irgendwie eine Nachfolgekultur der Umengräberkultur darstellt, war vermutlich eine Konföderation idg. Stämme mit den verschiedensten Übergängen und Konvergenzen sekundärer Art. Eine eindeutige ethnische Zuordnung ist schlechterdings unmöglich. Die Westgoten Südfrankreichs und Nordspaniens, ohne Zweifel ein geschlossenes Volk, hinterließen dennoch die~seits und jenseits der Pyrenäen ein verschiedenartiges ~rchäologisches Inventar; nach der Methode der Siedlungsarchäologie wäre auf zwei verschiedene Völker oder Stämme zu schließen; ja die Goten Nordostspaniens wären nicht einmal als Germanen zu erkennen- sie gebrauchen ein mediterranes Inventar. Die Rumänen der sogenannten dunklen Jahrhunderte verhalten sich archäologisch anders als die romanisierten Daker der Römerzeit, die zweifellos ihre Vorfahren sind; das ursprünglich städtisch bestimmte Inventar wird Inventar einer Hirten- und Jägerbevölkerung, die übrigens den Ackerbau nie ganz aufgibt, sondern ihn als eine Art von Hack- und Gartenbau weiter pflegt, wenn es die saisonalen Bedürfnisse der Herden gestatten. Die Siedlungsarchäologie müßte hier, streng genommen, auf zwei verschiedene Ethnien schließen. Das alles heißt nicht, Kossinnas Verdienste leugnen; es heißt aber . zeigen, daß der so wissenschaftlich scheinende Begriff der Siedlungsarchäologie, auf den Kossinna, in seinem wissenschaftlichen Streben oft frustriert, allergrößten Wert legte, sobald er verabsolutiert wird, vom Ideologischen und Emotionellen überwuchert wird; man erkennt den ideologischen Untergrund, latent die Vorstellung, daß es so etwas wie reine Volkstümer als durch lange Zeit, wenn möglich "von Urzeit her", bestehende Größen gegeben habe; man erkennt die Übertragung moderner Volksbegriffe ins Archäologische und Prähistorische. Trotz unzweifelbar großer Fachkenntnisse ging Kossinna später ins ideologische Lager über; gerade darin hatte er, buchmäßig gesehen, den größten Erfolg. (24) Hier finden wir schon Ausdrücke, die wir aus einem anderen Lager gewohnt waren, wie "Segen der Blutsbrüderschaft" (25) oder die unbedenkliche Gleichsetzung von Deutsch und Germanisch (ebenda). Je mehr etwas ideologisch ist, desto mehr versteht er sich wis- 110 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 senschaftlich, so eben auch Kossinna. (26) "Das siegreiche Vordringen meiner wissenschaftlichen Anschauungen als Ergebnis einer wissenschaftlichen Methode." Aber auch bei Kossinna finden wir manchmal gute Einsichten - so die, daß das westliche Megalithikum älter sei als sein angebliches ägyptisches Vorbild. II. Stamm, Volk, Ethnos; eine Zwischenbemerkung Diese für uns wesentlichen Begriffe sind nicht klar zu scheiden. Der Begriff des Ethnos, den die neuere Völkerkunde bevorzugt, stellt eigentlich nur den Versuch dar, diese Problematik aufzuheben und einen unbelasteten Ausdruck zur Verfügung zu haben. Ob sich eine bestimmte Gruppe für einen Stamm oder ein Volk hält, hängt von der Bewußtseinslage ab; dabei setzen wir eine gewisse geographische Kontinuität, eine gewisse Siedlungsgeschlossenheit voraus, ebenso sehr eine gemeinsame Sprache und einen gemeinsamen anthropologischen Typus. Im einzelnen zeigt es sich, daß eine oder sogar mehrere dieser Voraussetzungen fehlen können, obgleich ein Bewußtsein der Zusammengehörigkeit, der Identität vorhanden ist. Dabei sind wir stark von der historischen Zuordnung her beeinflußt - im Historische und im Ethnographischen sprechen wir von Stämmen, die für uns häufig auch statistische Größen sind - aber welche Spannweite zwischen einem kleinen Pygmäenstamm der philippinischen Aeta und einem keltischen oder germanischen Stamm! Das hat ja auch mit dazu geführt, daß man sich des Kompromißausdrucks "Volksstamm" bedient, der im Grunde auch nicht mehr aussagt, als daß die Grenzen fließend sind. Betrachten wir die Bestimmungsstücke im einzelnen. Der Begriff der gemeinsamen Sprache ist schon problematisch. Bei vielen großen Völkern, etwa den Italienern oder den Deutschen sind die Dialekte untereinander unverständlich, wenigstens teilweise; nur eine gemeinsame Hochsprache, die mehr oder weniger beherrscht wird, macht Verständigung möglich - auch die moderne Verwaltungsbürokratie, moderne politische Verfahren und Formen. Es gibt aber auch Volkstümer ohne gemeinsame Sprache: die Juden. Wir sprechen von gemeinsamer Kultur: dies ist eher eine Begriffsbestimmung des Stammes als des Volkes! In Wirklichkeit handelt es sich nicht um eine tatsächlich von allen als gemeinsam erfahrene Kultur, sondern mehr um die Möglichkeit der Gemeinsamkeit; man denke an den herkömmlichen Gegensatz von Stadt und Land, den erst die moderne Mobilität, die modernen Massenmedien teilweise verwischen. Wir sprechen von geographischer Geschlossenheit, von Territorialität; eine Reihe von Völkern verfügen in keiner Weise darüber, Zigeuner, Juden, Parsen. Häufig mischt sich in die Begriffsbestimmung von Volk und Stamm 111 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 eine beginnende Begriffsbestimmung der Nation; dieser verlangt gemeinsames Schicksal, gemeinsame politische Erfahrung, Staatsformen, Zentren; verlangt, daß das Prinzip der Territorialität sich zur Staatlichkeit erhebe; Nation ist ohne Staat, ohne bewußt erlebte geschichtliche und politische Formung undenkbar, wobei die gemeinsame Abstammung, d.h. das Gefühl der gemeinsamen Abstammung, das den Stamm und in weiterer Linie das Volk kennzeichnet, nicht zum Begriff der Nation gehört. Die Schweizer halten sich für eine Nation - selbst, wenn es sich um lokale Separatisten handelt - obgleich diese aus vier verschiedenen Volksgruppen besteht, einer deutschsprachigen, die die Mehrheit ausmacht und drei romanischen verschiedener Stärke. Mit dem Begriff etwa einer Sprach- oder Kulturnation ist dem Phänomen Nation nicht beizukommen. Zum Stamm: es mag ein kleines Volk, es mag große Stämme geben; auch hier ist das Bewußtsein maßgebend. Im Stamm ist die biologische Einheit bewußter mitgedacht, die gemeinsame Abstammung, deren man sich gerne rühmt - oder mindestens einer Komponente dabei, die dem Selbstbewußtsein mehr schmeichelt. Das Bewußtsein reiner Abstammung - häufig wird nur ein Heros Eponymos oder eine Urmutter genannt - schließt theoretisch Beimischung und Vermischung, schließt überhaupt Fremde aus, meist aber nur theoretisch, denn in Wirklichkeit haben Beimischungen, Assimilationen stattgefunden. Auch hier lassen sich die Beispiele häufen - die Coloureds Südafrikas zählen nach Millionen, obgleich eigentlich jede Vermischung zwischen Buren, Engländern und Bantus offiziell verboten ist, ja gerichtlich verfolgt wird. Offiziell haben aber Vereinigungen von burischen Männern und Bantufrauen nie stattgefunden. Juden wie Nichtjuden pflegen die Frage der Vermischung gerne auszuklammern; man berief sich gerne auf die Reinheitsgesetze Esras, die in Wirklichkeit eine vorhandene Mischung weit eher billigten als daß sie· alle vorhandenen Mischehen aufgehoben hätten (5. Jahrh. v. Chr.). Das ist weit eher ein Wunschtraum nachträglicher Redaktion! In der Tat gab es einen ständigen Zustrom an Nichtjuden durch Heirat, Konversion, Sklavinnen fremder Herkunft. Anders ist die enorme anthropologische Verschiedenheit der heutigen Juden nicht zu erklären, wie sie im heutigen Israel zu beobachten ist: von den völlig mitteleuropäisch aussehenden deutschen Juden und deren Nachkommen zwischen Haifa und Naharia bis zu den dunkelhäutigen jemenitischen und südindischen Juden. Man überlege vom rein Genealogischen her, wie viele heutige Europäer umgekehrt jüdische Vorfahren besitzen müssen, von Spanien ganz abgesehen, wo es praktisch keine Familie - vielleicht die spanischen Zigeuner und Teile der Basken ausgenommen - geben kann, die nicht jüdische Vorfahren hätte. 112 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 Einheitliche Abstammung stellt sich erst oft nachträglich her, so paradox dies auf den ersten Blick klingt. Dies aber hat sich immer wieder vollzogen, wenn eine bestimmte Gruppe von einem bestimmten Zeitpunkt an endogam heiratete, vorausgesetzt, die Gruppe war nicht zu groß. Als Beispiel mögen die Wilna-Tataren dienen, die bis zum 2. Weltkrieg als geschlossene Gruppe - von einigen Verbannten abgesehen - in Wilna lebten: sie stammen samt und sonders von einem Enkel des Dschengis-Khan ab, der nach dem Tode des Großkhans (1227) die gebotene Einberufung zur Kurultai, der großen Ratsversammlung ausschlug, mit seinem Gefolge in Wilna blieb und sich taufen ließ; das Gefolge, das wie bei allen Nachkommen des Dschengis-Khan z.T. aus Türken bestand, türkisierte sich. Die Gruppe blieb endogam und als eine lnzuchtgruppe, in der nach wenigen Generationen jeder vom Großkhan abstammte, überlebte sie bis auf unsere Tage. Man muß beachten: die Verwandtschafts- und Abstammungsvorstellungen solcher Gruppen - man kann die Wilna-Tataren allerdings kaum einen Stamm nennen - sind immer z.T. biologische, z.T. aber auch mythologische Größen. Viele der mythischen Abstammungsgeschichten enthalten aber auch das geheime Einverständnis gemischter Abkunft; so die vielen zirkumpolaren Völker, die sich einer Hunde-Abstammung rühmen, was natürlich daneben noch andere Bedeutungen haben kann. (27) Tatsächlich sind in der völkerkundlichen und soziologischen Literatur unter Stamm und Volksstamm so mancherlei Gruppierungen mit gemeint, die tatsächlich in die Genese gehören, die v o r der Ethnogenese entstehen. Man ist versucht, eine auf steigende Reihe anzugeben, ohne daß es auch hier stets klare Abgrenzungen geben könnten, etwa: Urhorde, Horde, Familie, Familiengruppe, Großfamilie, Clan, Kleinstamm, Stamm, Volk. Aber schon diese Reihe wird, abgesehen von Überschneidungen und unklarer Begriffslage im allgemeinen unangenehm unterbrochen durch Sonderformen, wie Stammeshälften (moieties), Phratrien, gentes. Für unsere Zwecke kommt alles in Frage, was mehr ist als Familie, weniger aber als Nation. Ein Kleinstamm, der aus mehreren Clans entsteht - diese aus Großfamilien - ist im Sozialen noch relativ ungeschieden: alle Mitglieder machen alles, es gibt weder Kasten noch Sonderhandwerker, Alltag und Sakralwelt sind wenig geschieden, das Weltbild wird in unmittelbaren sozialen und mythischen Beziehungen vermittelt, es gibt keine Sonderung der Wissensvermittlung; erst später treten die ersten Sonderungen auf, entsteht etwa die Schmiedekaste. Später wächst der Stammesältestc über eine reine Ehrfurchtsposition hinaus, Priester, Schamanen, Heiler erschei- 113 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 nen. (28) Mit Thumwald (29) definieren wir die Großfamilie als Verwandtengruppe, die in mehreren Generationen zusammensiedelt, auch gemeinsam wirtschaftet und ein definitives Oberhaupt hat. Als Beispiel wäre in Europa die serbische Zadruga anzuführen, die gerade noch bis auf unsere Tage überlebt hat, mit ihrem "gospodar", dem die einstige russische "derevnja" entspricht. Das war eine bäuerliche Haus- und Wohngemeinschaft, die aber auch Fremde aufnehmen konnte, jenseits der Verschwägerung durch Heirat. Eine solche Großfamilie, die oft Hunderte von Mitgliedern umfassen konnte, betrachtete sich als eine biologische Einheit und war es auch größtenteils. Aber in der Zadruga begegnen wir schon einer späten Sonderform, keiner Urform, sie entstand ja in einer Ackerbaugesellschaft, doch sind ähnliche Formen auch urzeitlich vorauszusetzen; freilich bringt erst der Ackerbau ein verengtes Territorium und eigentliche lokale Geschlossenheit. Die Sippe unterscheidet sich von der Großfamilie dadurch, daß sie nicht gemeinsam wirtschaftet. (30) Der Clan hingegen ist eine etwas stärker politisch ausgerichtete Gruppe, ein Verband, der aus mehreren Großfamilien besteht, die sich oft erst nachträglich eine gemeinsame Abstammung konstruieren. Bei den größeren und ausgebreiteteren Clans - die keine geographische Geschlossenheit mehr aufweisen - ist die gemeinsame Abstammung nur mehr Fiktion. Ein gutes Beispiel liefern die letzten, wenn auch schon sehr verwischt, noch existierenden Clans, die schottischen, die sich aufgrund des gemeinsamen Familiennamens und Tartans einer gemeinsamen Abstammung rühmen, obgleich dieser keineswegs durch Abstammung entstanden sein muß, sondern auch durch Adoption oder Hintersassenschaft. (31) Ein solcher Clan reicht durch alle Stände hindurch. In Großfamilie und Clan haben wir analoge Formen für die Ethnogenese vieler Völker, aber keineswegs aller. III. Sonderungen Hier betrachten wir kurz Sonderformen der Ethnogenese, ehe wtr uns den großen, prägnanten Beispielen zuwenden, die den Hauptteil der Arbeit ausmachen. 1. Eine Ethnogenesc, die nicht stattfand In dem weißen Zulu-Häuptling John Dunn, der sich um 1860 mit 44 (!) Zulufrauen in Südafrika niederließ, begegnen wir einer nicht realisierten Möglichkeit der Stammesbildung. Die zahlreichen Nachkommen Dunns siedelten und wirtschafteten verstreut; obgleich sie ein Bewußtsein ihrer gemeinsamen Abstammung hatten, führte dies nicht zur Ehtnogene- 114 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 sc, nicht zu einem Clan- oder Stammesbewußtsein. Hätten sie territorial gesiedelt - möglichst ohne Nachbarschaft von Zulu-Stämmen, hätte daraus ein eigenes Ethnos werden können. (32) 2. Die Zulus Die Zulus selbst, wie sie sich uns heute darbieten, entstehen aus einem kriegerischen Männerbund von äußerster Härte und Grausamkeit - nicht in der Feme der Geschichte, sondern sozusagen vor unseren Augen. Dies geschieht unter dem gefürchteten Häuptling Chaka. Chaka flieht mit seiner Mutter Nandi ("der Lieblichen") aus dem Großkraal seines Vaters Sanzanakhona (1757 - 1816) - er flieht also aus einer Großfamilie. Er findet Zuflucht am Hofe - also in einer anderen Großfamilie - des Häuptlings Dingiswayo, dessen Hauptclan Mthethwa heißt. Dieser umfaßt etwa 2.000 Mitglieder. Dingiswayo wird ermordet, Chaka rächt ihn und wird König, d.h. also Kleinkönig. Aus dem Mthethwa-Clan macht er einen kriegerischen Männerbund, in dem es für das geringste Vergehen - oder gar keines - nur eine einzige Strafe gibt: die Todesstrafe. Er führt die "impis" ein, die besonders gegliederten Regimenter - ein impi umfaßte 1.000 Mann; auf dem Höhepunkt seiner Macht hatte Chaka 100 Regimenter. Die Krieger waren zur Ehelosigkeit verpflichtet; ein Krieger, der vom Kriegszug ohne Beute zurückkam, wurde wegen Feigheit hingerichtet. Als allgemeine Waffe wurde der kurze Speer, assegai, eingeführt. Die Truppen terrorisierten durch Raubzüge und die Methode der "verbrannten Erde". Die Unterlegenen der anderen Stämme und Gruppen wurden verschieden behandelt, die alten Männer und alte Frauen wurden getötet, die jungen Leute hingegen vor die Wahl gestellt, entweder getötet oder eingegliedert zu werden. Die Truppe, die in der Form des Büffelhoms kämpfte - vier Regimenter - war sehr beweglich. Die Regimenter bestanden aus möglichst Gleichaltrigen, d.h. Chaka führte die Altersklassen als Organisationsform ein und baute auch vielleicht auf die Freundschaft unter Männern, soweit dies die grausame Disziplin zuließ. Es gab auch Frauenregimenter, die sich, wie die berüchtigten Amazonenregimenter der Dahomey, durch besondere Grausamkeit auszeichneten. Diesem Bund entstammen die heutigen Zulus, die ethnisch den verschiedenen Zweigen der Nguni-Gruppe der Bantus entstammen. Heute zählen die Zulus rund 4 Mio .. Wir sehen, aus einem Kriegerbund, den ein Ausgestoßener gründete, wurde ein Volk, dessen nächste Verwandte die Xhosa und die Swazi sind. (33) 3. Die Kerngruppe, die sich biologisch durchsetzt oder sprachlich Es wird Abstammungslinien in solchen Fällen geben, die tatsächlich 115 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 durchlaufen; oft aber trifft dies sicher nicht zu, zumal bei Assimilationen, die erst wenige Generationen zurückliegen. Hier ist die sehr weitgehende, aber dennoch nicht völlige anthropologische Veränderung oder Umvolkung der Ungarn und der osmanischen Türken zu nennen. Die Kerngruppe beider Völker stammt aus dem europid-mongoliden Übergangsgürtel Westasiens. Anthropologisch handelt es sich bei dieser magyarischen Kerngruppe um Paläosibirier, Europide, Mongolide in den verschiedensten Übergangsformen und Konvergenzen. Im Verlaufe der Westwanderung kommt es zu einem immer stärkeren Überwiegen des europiden Anteils, endlich zu einer sehr weitgehenden Europäisierung. Bei den osmanischen Türken, die einen stärkeren Anteil an mongoliden, einen etwas geringeren an europiden Genen mitbrachten - mit einem tungusischen Anteil, der Paläosibirisches enthalten haben wird - kommt es ebenfalls, sowohl durch Eroberung als auch durch Haremspolitik und Knabenzoll, zu einem immer stärkeren Anteil des europid-europäischen Anteils. Als die ersten osmanischen Türken in Kleinasien einsickern - häufig als Söldner miteinander rivalisierender byzantinischer Militärbefehlshaber - nehmen sie vielfach Frauen aus der griechisierten kleinasiatischen Bevölkerung, die ihrerseits nun aus Nachkommen der Hethiter, der Lydier, der Luwier, der Urartäer, der Galater etc. bestand. Dazu kommt später nicht nur die Haremspolitik, sondern auch der meist erzwungene Übertritt griechischer und . armenischer Mädchen. All dies führt zu einer weitgehenden Europäisierung, wobei die sprachliche Kontinuität gewahrt oder sogar ausgeweitet wird. In beiden Fällen, bei den Magyaren und bei den Türken, hat sich eine machtmäßig überlegene Gruppe durchgesetzt, trotz zahlreicher Assimilationen und Mischungen. Hieran kann die Frage geprüft werden, wieweit es sich bei einem Individuum der fraglichen Gruppen nun wirklich um einen "echten" Türken oder Ungarn handelt - eine Frage, die sich cum grano salis auch auf die meisten anderen Völker - oder Adelsgeschlechter - ausdehnen läßt. Wieweit ist ein beliebiger Österreicher ein "echter" Germane? Zu welchem Volk gehören etwa die Radziwill? Eine ursprünglich litauische Familie - der in der Legende besondere heidnische Wildheit zugeschrieben wird - mit polnischen und deutschen Zweigen, österreichischen und amerikanischen Nachkommen. Wohin gehören die heutigen Bourbonen genealogisch und genetisch? Franzosen, mit italienischen, spanischen und österreichischen Zweigen. 4. Bevölkerungspolitik Eine Reihe germanischer Stämme betrieb während der Völkerwanderung bewußte Bevölkerungspolitik - Goten, Gepiden und Langobarden 116 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 nahmen andere Volkssplitter auf, auch solche nichtgermanischer Herkunft (Hunnen, Sarmaten, Skythen, Alanen) - um ihre Reihen aufzufüllen. Ulfila, der Bibelübersetzer, war seiner Abkunft nach halber Alane und dabei viersprachig - er sprach Ostgotisch, Lateinisch, Griechisch und Alanisch. Die Langobarden nahmen im Friaulischen Hunnen in ihre Dorfgemeinschaften auf. Von den türkischen Chasaren Süd.rußlands - deren Oberschicht jüdischen Glaubens war, ihnen werden wir in der Ehtnogenese der Ungarn wieder begegnen - wird berichtet, daß sie andere Volkssplitter, wohl Alanen und Skythen aufnahmen. Besonders den Alanen begegnen wir in verschiedenen Ethnogenesen - bei den slawischen Anten, die in der rumänischen, aber auch in der bulgarischen Ethnogenese eine Rolle spielen; bei Goten und Chasaren und endlich den Slawen, besonders den Ukrainern. Endlich haben die Hunnen, im Kern türkischer Herkunft, sich nicht gescheut, andere Völker und Volkssplitter aufzunehmen: Tungusen, Mongolen. Dabei ist historisch zwischen Assimilierten, Untertanen etc. kaum zu unterscheiden. Bekannt ist, in welchem Ausmaße der Hof Attilas von Goten unterwandert war, was ja bewirkte, daß Attila als Friedensfürst unter den Namen Atli in die nordische, als Etzel in die deutsche Sage geriet. 5. Frauen als Kriegsbeute Die römische Legende vom Raub der Sabinerinnen widerspiegelt eine alte Praxis, eine ethnologische Wirklichkeit, wobei der Raub vielleicht nicht so wörtlich genommen werden darf. Die lateinische Urgruppe, die sich durch Exilanten, Exilierte, Asylsuchende vermehrt hatte, war gewiß einseitig strukturiert - ein Überschuß an jungen, heiratsfähigen Männern. So kann es vorher zu gewissen Verständigungen zwischen den jungen Männern und Mädchen der Sabiner gekommen sein. Noch heute führen wir den Brautraub als ein vergnügliches Spiel bei einer Hochzeit durch. Die Mutter des künftigen Dschengis-Khan, die als Verlobte Tschiledüs von diesem ins heimatliche Lager gebracht wird, fällt Jesügei in die Hände; obwohl Ölün-eke Braut eines anderen Steppenhäuptlings ist, entführt sie Jesügei und zeugt mit ihr den künftigen Dschengis-Khan, dessen persönlicher Name Temudschin war. (34) Frauenraum war innerhalb verwandter oder unverwandter Stämme und Gruppen weit verbreitet, wie bei sibirischen Stämmen. (35) Prärie-Indianer übten denselben Brauch; gelegentlich erbeuteten sie auch weiße Frauen, die oft so sehr zu "Indianerinnen" wurden, daß sie ihre Muttersprache nicht mehr sprechen konnten. (36) 117 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 6. Ein Sonderfall: die Paraguay-Ehe Nach den wirklich männermordenden Kriegen des 19. Jahrhunderts (37) blieben weniger als 30.000 zeugungsfähige Männer auf dem Gebiet des heutigen Paraguay zurück, wobei Knaben über 15 Jahren schon mitgezählt sind. Mit stillschweigender Duldung der Kirche und der Behörden durften die überlebenden Männer mehrere Frauen haben, meist geraubte oder wenigstens entführte Guarani-Indianerinnen. Damit gelang es, die Bevölkerung bis zum 1. Weltkrieg annähernd wieder auf den Stand des Jahres 1850 zu bringen. Dies veränderte den wesentlich spanisch-iberischen Charakter der Bevölkerung beträchtlich, so daß. die heutigen Paraguayanos als eine europäisch-indianische Mischgruppe anzusehen sind, in der die indianischen Züge anthropologisch überwiegen, was in gewissen Gegenden durch Einströmen deutscher Siedler wieder aufgehoben wurde. Sehr viele Paraguayanos sind daher zweisprachig - sie sprechen Spanisch und Gunarani. (38) 7. Die polygame Patriarchal-Gruppe Unter den verschiedenen Arten der Polygynie - der gerontokratischen Polygynie (alte Männer heiraten die jungen Mädchen des Stammes oder reservieren sie jedenfalls für sich) und der Leviratspolygynie (Witwer oder Ehemänner der männlichen Verwandtschaft heiraten überlebende Witwen, besonders des Bruders, besonders wenn die Ehe kinderlos war) - ist nur die Harems-Polygynie ethnogenetisch bedeutsam. Sie war im Falle der Gruppe um Abraham für die jüdische Ethnogenese der entscheidende Anstoß, zusammen mit einem religiösen Faktor. Daneben kann die Harems-Polygynie - mit späterer Entlassung der Harems-Frau, wenn sie den erwünschten Sohn geboren hat - auch eine . außerordentliche politische Bedeutung haben, wie die noch gegenwärtig herrschende Praxis in Saudi-Arabien beweist; durch sie wurden praktisch alle Stammeshäuptlinge Saudi-Arabiens zu Verwandten und Verschwägerten der königlichen Familie; außerdem kann die Familie über Hunderte von Söhnen gebieten, die alle führenden Stellen einnehmen. Das Besondere aber, das der Entstehung des jüdischen Volkes, d.h. seiner Kerngruppe zugrunde liegt, ist das Zusammentreffen eben zweier Faktoren: eine religiös gebundene Gruppe - im wörtlichen Sinne des Wortes, denn Abrahm schloß ja seinen "Bund" mit Gott (39) und sonderte seine Gruppe von den übrigen Aramäern ab. So formte der "schweifende Aramäer" mit Gefolgsleuten, Frauen, Konkubinen, Sklavinnen, Assimilierten in wenigen Generationen ein Volk, was nachträglich in seinen Namen hineingedeutet wird - Abraham, "Vater der Menge", nämlich Stammvater zahlloser Nachkommen. Biologisch komplementieren sich 118 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 zwei Faktoren, einerseits kommt es durch die Absonderung zu lnzuchtTendenzen, die aber durch die Aufnahme fremder, der Gruppe näher oder ferner oder gar nicht verwandter Menschen, wohl meist Frauen, wieder aufgehoben werden. Sklavinnen, die in den Verband eintreten, haben ihrem Herrn auch sexuell zu dienen - ein akzeptiertes Schicksal - aber gerade dies hat seine soziale Seite, denn sie steigt sozial auf, besonders wenn sie einen Sohn geboren hat. Dazu muß bemerkt werden, daß die beginnende Jahwe-Religion auch missionierenden Charakter hatte, was bis zur Zerstörung des Tempels der Fall bleibt. (40) Daß nur innerhalb der Sippe geheiratet werden darf, entstammt sicher nachträglicher Redaktion und bezieht sich nur auf die eigentlichen formellen Verbindungen, sicher nicht auf die Verbindungen mit Sklavinnen und Konkubinen. (41) 8. Religiöse Inzuchtgruppen Religiöse Inzuchtgruppen gibt es natürlich auch außerhalb der jüdischen Ethnogenese. Es handelt sich um Gruppierungen, die mehr oder weniger auf dem Wege zur Volkwerdung sind oder waren. Hierher gehören die Hutterer, eine Gruppe deutsch-sprachiger Wiedertäufer (Deutsch wenigstens als liturgische und als Sprache des Gottesdienstes), besonders die Kanadas, die sich, obwohl reine lnzuchtgruppe, von wenigen hundert Mitgliedern auf mehr als 40.000 vermehrt haben. Bei ihnen zeigen sich die lnzuchtfolgen in einem starken Anteil Schwachsinniger, die allerdings nicht in Anstalten abgeschoben, sondern brüderlich mitgeführt werden, mit den Arbeiten beschäftigt, die sie gerade leisten können. Gerade die Verfolgung, der die Hutterer lange Zeit ausgesetzt gewesen sind, schweißte sie zusammen. Heute sind sie eine Gruppe, die sich auf dem Wege zur Volkwerdung befindet. (42) 9. Die Mormonen als Beispiel und Gegenbeispiel Sie stellen eine religiös bestimmte Gruppe dar, deren - ihnen wohl selbst nicht gänzlich bewußter - Weg zur Volkwerdung unterbrochen wurde, gerade weil die Verfolgung und die Diskriminierung aufhörten. Hätten diese angedauert, wären sie auch aus ihren endlich gewonnenen wüstenhaften Sitzen im Staate Utah vermutlich nach Kanada ausgewichen und dort zu einem Volkstum eigener Art, aber englischer Muttersprache geworden. So aber blieb, trotz langer Verfolgung, der Gesamtzusammenhang mit dem Amerikanertum der USA erhalten. Dabei betrieben sie bewußte Bevölkerungspolitik, indem einzelnen, übrigens sonders geprüften und ausgewählten Mitgliedern, die mehr oder weniger geheime Mehrehe erlaubt wurde, die natürlich in Visionen Brigham Youngs sanktioniert war, aber in Wirklichkeit weit weniger Alttesta- 119 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 metarisches wiederherstellen, sondern die Gruppe zahlenmäßig und abstammungsmäßig festigen sollte. Auch nach ihrer offiziellen Abschaffung ( 43) besteht die Polygamie in kleinen Gruppen insgeheim fort. ( 44) Geistesgeschichtlich stellt sich die mormonische Grundlehre - daß die Indianer Nachkommen ausgewanderter Israeliten seien und die Offenbarung auch auf dem amerikanischen Kontinent erfolgte - als eine Übertragung der Anglo-Israelite-Theory dar, die ja behauptet, daß die verlorenen zehn Stämme im Westen, in den Engländern oder Iren überlebt hätten. (45) 10. Eine Zufallsgruppe: die Melungeons Tennessees Ihr Name ist wohl auf frz. "melange" Mischung zurückzuführen. Sie sind nicht die einzige Zufallsgruppierung auf dem Wege zur Ethnogenese, deren Ursprung nicht aufgeklärt werden konnte oder deren Angehörige entweder selbst nichts über ihre Ursprünge wissen oder phantastische Behauptungen darüber vorbringen. Die Melungeons entsprechen den Weromos and Renabees Virginias, den Rivers North Carolinas. Anders steht es, was die Ursprünge betrifft, mit einer sozialen Randgruppe des oberen New York (Staat), den sogenannten Jackson Whites. Alle diese Gruppen wären, wenn sie die nachkommende Siedlung nicht überrollt hätte, zu eigenen kleineren oder größeren Ethnien geworden - ausgenommen die Jackson Whites, die infolge ihrer kriminellen Anfälligkeit bekannt sind. Sie stammen von jenen insgesamt 3.500 britischen Straßenmädchen ab, die für die britischen Truppen während des Unabhängigkeitskrieges nach Amerika geschickt wurden. (Später schickte man, nach der Abtrennung der USA, derlei Damen nach Australien, wo sie sehnsüchtig von den "convicts" erwartet und oft schon auf dem Kai geheiratet wurden. So mancher Australier stammt nicht nur von einem "convict" ab, sondern · auch von einem "woman of trade" - wobei er nur die erstere Abstammung zugeben wird, die fast ein Ehrentitel geworden ist.) Nachdem die nach Amerika verschifften "Damen" ihre Dienste geleistet hatten, wurden sie von Leuten niedrigen sozialen Standes und niedrigsten Bildungsgrades aufgeheiratet. Sie heißen übrigens nach dem Unternehmer, der sie auf uralten Schiffen, wahren Seelenfängern, in die Neue Welt brachte, wobei sich in Westindien entlaufene Sklavenmädchen anschlossen, so daß die Bezeichnung Jackson Whites vermutlich ein Euphemismus oder eine Tarnung ist. Die Melungeons - deren Zahl wird mit 7-10.000 Köpfen angegeben - siedelten in der später so benannten Hancock County und wurden um 1700, als die ersten Pioniere schottischer Herkunft bis dorthin vorgedrungen waren, schon vorgefunden. (46) Den Indianern waren sie schon früh, 120 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 um 1600 bekannt. 1795 wurden sie als nicht-weiß, aber als gemischte freie Neger klassifiziert; 1834 wurde ihnen das Wahlrecht entzogen und der Besuch "weißer" Schulen verboten. Sie zogen sich in die Hügel zurück und entwickelten zwei typische Berufszweige neben ihrer etwas sparsam betriebenen Landwirtschaft: sie destillierten Schnaps und machten kleine Falschmünzereien auf - ihre Münzen sollen ausgezeichnet gewesen sein - und entwickelten sich zu heimlichen Viehdieben. Die Melungeons selbst, die z.T. dunkelhäutig, aber nicht eigentlich negroid sind, halten sich für Weiße und nennen sich selbst "Portergheezers", worin man leicht "Portuguese" erkennt. Sie sind vermutlich eine Mischung gestrandeter portugiesischer, vielleicht auch spanischer Matrosen, die sich mit Überlebenden von Sir Walter Raleighs verschwundener Kolonie Roanoke (Raleigh 1552 - 1618; Roanoke 1585 - 1586) vermischten, wobei sie bald auch ausgestoßene Indianer und später entlaufene Negersklaven aufnahmen. Ihre Sprache erwies sich als Mischung von Portugiesisch und Englisch mit einigen unaufgeklärten Bestandteilen, aber die Art ihrer Namensgebung scheint vom Walisischen beeinflußt zu sein! Die Frau des Jack Collins ist nicht Mary Collins, sondern Mary Jack, der Sohn heißt Tom Jack etc .. Vielleicht ist also eine gewisse Beimischung gescheiterter walisischer Seeleute anzunehmen - keinesfalls aber, wie ein phantasievoller Kopf meinte - sind die Melungeons Reste der Fahrt des walisischen Häuptlings Madoc (47), der 1170 mit zwei Schiffen und dreihundert Mann nach Westen aufgebrochen und nie zurückgekommen sein soll. Die Religion der Melungeons hatte unbestimmt katholische Züge, so gab es eine gewisse Verehrung des Kreuzes. Ihre Gesichtszüge werden als "lateinisch", also romanisch beschrieben. Ihre Familiennamen - Sylvester, Bragen - erinnern an Portugiesisches. Zur Zeit sind sie im Aussterben begriffen, da die jungen Leute in die Städte gehen und sich amerikanisieren. Heute leben noch "echte" Melungeons in Newan Ridge, die man Ridgmanites nennt, ferner in zwei Dörfern des östliche Tennessee, Snake Hollow und Mulberry Cap, östlich der Stadt Sneedville. ( 48) Eine phantastische Theorie macht sie zu Nachkommen der Karthager. Der umstrittene Stein von Bat Creek - 1886 gefunden, nun in der Smithsonian Institution - wurde von Cyrus H. Gordon "gelesen" und als semitisch bestimmt. Die Inschrift soll angeblich "Für das Land von Juda" lauten und würde eher auf irrende Hebräer hindeuten und das Herz der Mormonen erfreuen. Nach Cyrus H. Gordon sind die Melungeons also Semiten, keinesfalls Nachkommen der Portugiesen oder der verschwundenen Gefolgsleute Heman de Sotos (1500? - 1542). Nun, Gordon hat einen Semitenkomplex und liest jeden Kratzer als Semitisch. (49) Wie immer die Melungeons entstanden ~d, mit ihnen kann man 121 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 eine rezente Gruppe studieren, die durch Zufall zusammengewürfelt wurde, zu einer Art Quasi-Volk wurde und sich jetzt, angesichts des übermächtigen Drucks d~r anglosächsisch-amerikanischen Zivilisation in voller Auflösung befindet. In ungestörter Isolation belassen, hätten sie, vermutlich durch weitere Assimilation und unter straffer Führung, vielleicht durch weiteren Zulauf von Negern, Indianern und gelegentlichen Weißen, ein neues Ethnos bilden können. 11. Zur Zufallsgruppe Diese Erscheinung ist häufiger als man denkt. Sie bekam schon im vorigen Jahrhundert durch den Brasilienreisenden C.F.P. v. Martius (50) den Namen "Colluvies gentium", Volksentstehung durch zufälligen Zusammenschluß Entlaufener, Ausgestoßener, Gescheiterter, wozu ja auch bewußtes oder unbewußtes Asylangebot kommen, wie im Falle des alten Rom oder in Berggebieten und Dschungeln. Ein bekanntes Beispiel sind die Buschneger Guayanas, entlaufene Negersklaven und deren Nachkommen, die, oft zusammen mit versprengten Indianern, neue Volkstümer bildeten, die übrigens relativ viele sprachliche Relikte afrikanischer Herkunft aufweisen. Martius kam mit Indianerstämmen in Berührung, die zunächst einheitliche Stämme schienen, sich aber bei näherer Kenntnis als Zufallsbildungen erwiesen. Sie bestanden aus Angehörigen verschiedener Stämme, mit verschiedenen Sprachen oder Dialekten, verschiedenen Gewohnheiten; hier sehen wir sogenannte "Banden" auf dem Wege der Volkwerdung. Man glaubte dies Martius nicht, befangen, wie man in romantischen und pseudoromantischen Vorstellungen war; dabei waren die Buschneger schon wohl bekannt. (51) Mühlmann bringt zusätzliches Material, so die Seminolen Floridas, deren Name (aus dem Muskogee) schon an sich "Entlaufene" bedeutet, die sich aus einer prägenden Muskogee-Gruppe, anderen Indianern, Negern, aber auch vereinzelten Weißen, besonders Spaniern, zusammensetzte. In ihren einstigen Sitzen in Oklahoma boten sie systematisch entlaufenen Negersklaven Asyl, bis man sie nach Florida vertrieb, wo sie in den Sümpfen der Everglades noch heute ein relativ isoliertes Leben fristen, z.T. katholisch geworden, mit spanischen Bräuchen - die Frauen tragen z.b. lange bunte Röcke im spanisch-zigeunerischen Stil. Zur Zeit wird ihr Lebensraum durch Trockenlegung von Sümpfen stark bedroht, so daß zahlreiche Seminolen gezwungen sind, in den Städten als Tagelöhner zu arbeiten. Auch das römische Clientel-System mag auf eine solche zufällige Bildung zurückgehen, derart, daß Vogelfreie, Entlaufene, die in der römi- 122 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 sehen Urgeschichte überhaupt eine große Rolle spielten, gekennzeichnet durch das Hüllwort "Wölfe" sich einer gens anschlossen, deren patronus oder princeps ihnen Landlose zuteilte. (52) Mühlmann nennt noch eine Reihe von Turkstämmen, die derlei Zufallsanfänge hatten, so die Karagassen und Korbalen Zentralasiens. Er nennt aber auch die Krimtataren; bei diesen allerdings sind die Verhältnisse verwickelter als es bei Mühlmann erscheint, denn die Krimtataren sind keinesfalls nur ein Zufallsstamm. Ihr Kern bestand als Mongolen, die Nachkommen der Gefolgsleute der Goldenen Horde waren. Mit ihrer führenden Familie, den Giraj - Nachkommen von Dschingis-Khans Enkel Batu - zogen sie auf die Krim. Dem Testament des Großkhans gemäß wurden den einzelnen Nachkommen nur relativ geringe Detachements eigentlicher Mongolen zugeteilt, meist ohnedies lose Verwandtschaftsgruppen, so daß diese sehr bald von den viel zahlreicheren türkischen Hilfstruppen unterwandert wurden und sich so ziemlich rasch türkisierten. Dies ist auch der eigentliche Sinn des Wortes Tatar (53). Zu dieser türkisierten Gruppe stießen andere Volksreste, Chasarenreste, Tungusen, Alanenreste, entführte Frauen, besonders Slawinnen und endlich Reste der Krimgoten. (54) Gelegentlich konstituieren sich derlei zusammengewürfelte Gruppen Entflohener und Geächteter als räuberische Banden, ohne es zu einem eigenen Volkstum oder eigener Sprache zu bringen; ein bekanntes Beispiel sind die Uskoken, die dalmatinischen und istrischen Seeräuber kroatischer Zunge, die aus entlaufenen Serben und Kroaten bestanden. Nachdem Venedig sie endgültig niedergerungen hatte, gingen sie in der kroatischen Küstenbevölkerung restlos auf. Noch erkennt man die einstigen Uskokensiedlungen an der Ausgesetztheit oder Unzugänglichkeit ihrer Lage. (55) 12. Aufstiegsassimilation und Umvolkung Im Prozeß der Umvolkung, wie sie für die Tataren charakteristisch ist, kann auch ein soziologischer Faktor eine Rolle spielen, nämlich die von Mühlmann so benannte Aufstiegsassimilation: man assimiliert sich einem anderen Volkstum, weil es politisch, wirtschaftlich, religiös mächtiger ist, bis zum völligen Wechsel der ethnischen und sprachlichen Selbstzuordnung. Dies ereignet sich sehr viel häufiger als gemeinhin ins Bewußtsein dringt, ganz einfach deshalb, weil die betreffenden Familien oder Personen gewöhnlich darüber schweigen, ja den Nachkommen die eigentliche Herkunft bewußt verschwiegen wird. Woher sonst etwa kämen die zahlreichen Bukovina-Deutschen mit polnischen und ukrainischen Familiennamen? Die Baltendeutschen mit russischen, estnischen, polnischen, ja tatarischen Familiennamen? 123 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 Wir können diesen Vorgang vielfach beobachten: Berber, die sich arabisieren und mit der kompensierten Aggression des "Umgekehrten" fanatische Araber werden; Lasen und Kurden, die zu fanatischen Türken werden; Elsässer als französische Patrioten. Der Prozeß der Aufstiegsassimilation war auch ein wesentlicher Faktor in der Romanisierung des römischen Reiches und damit in der Entstehung der romanischen Sprachen: ohne Kenntnis des Latein kein sozialer Aufstieg, keine geschäftlichen Erfolge, keine Beamtenstellung, kein Militärdienst, geschweige denn Aufstieg in den Legionen! Dies betrifft ebenso die Russifizierung sibirischer Völker wie die Hinduisierung zahlreicher indischer altvölkischer Gruppen. In vielen Fällen geschieht dies durch "Hinaufheiraten" - Heirat als eine Form des sozialen Aufstiegs. Frauen heiraten Männer überlegener Gruppen anderer ethnischer Herkunft: Malaienfrauen, die Kolonialchinesen Indonesiens oder der malayischen Staatengruppe heiraten, deren Kinder aber bewußt chinesisch erzogen werden. Dabei kann sich dieser Prozeß potenzieren: die Malaienfrauen können ihrerseits schon Nachkomminnen altmalaischer Frauen sein, die von Malaien geheiratet wurden. Dies kann so weit gehen, daß sich die ethnische Identität einer Führungsschicht verändert - so heirateten Mangbattu stets Frauen aus den unterworfenen Stämmen, bis sie diesen auch ethnisch glichen. Zur Aufstiegsassimilation gehört auch, gleichsam als Vorstufe, die Lage, die durch ein doppeltes Bewußtsein gekennzeichnet ist. Hierher gehört der typische Ungarndeutsche, besonders aus den alteingesessenen deutschen Dörfern westlich Budapests, der, obgleich er zuhause Deutsch spricht, fanatischer nationalistischer Magyare ist. Es ist bekannt, daß die burgenländischen Kroaten besonders bewußte und treue Österreicher sind, unbeschadet ihrer nichtdeutschen Muttersprache und kroatischen Volksbewußtheit. Aber aus einer solchen Lage heraus vollzieht sich die Aufstiegsassimilation sehr leicht - man vergleiche die vielen Burgenländer mit kroatischen oder ungarischen Namen, die weder Kroatisch noch Ungarisch sprechen können. Komplizierter wird der Fall der Ladiner Südtirols - die nicht nur ihr Ladinisch sprechen, sondern auch Deutsch, aber dieses in zwei Varianten: Dialekt und Hochdeutsch, daneben auch Italienisch; sie selbst aber sind grundsätzlich Ladiner, die Deutsch als Kultursprache sprechen und sich den deutschsprachigen Südtirolern zugehörig fühlen, Oder man denke an viele Dänen Südschleswigs, die zugleich dänisches und deutsches Bewußtsein haben - mit der Umkehrung im Falle der Deutschen Nordschleswigs. 124 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 IV. Einige konkrete Beispiele der Ethnogenese a) Das Baskische und die Basken Jedermann weiß - oder glaubt doch zu wissen - daß die Basken ein isoliertes Relikt des voridg. Westeuropa sind, das sich in den westlichen Vorbergen der Pyrenäen beiderseits des Hauptkammes, bis auf unsere Tage erhalten hat; wir finden noch eine knappe Million Sprecher, die sich auf fünf - oder wenn man die Unterteilungen der Dialekte mit berücksichtigt - acht verschiedene Dialekte verteilen, die untereinander nicht immer verständlich sind. Wir finden aber eine bedeutend größere Anzahl von französischen und spanischen Staatsbürgern, die sich selbst als Basken bezeichnen, ohne mehr als bloß ein paar Brocken Baskisch zu können; dies gilt auch für die nach Hunderttausenden zählenden Nachkommen ausgewanderter Basken in den lateinamerikanischen Ländern spanischer Zunge. Wir finden zahlreiche Spanier mit baskischen Namen, Unamuno, Echegaray, Ibaruri; wir finden bis in die Ebro-Ebene hinab baskische Orts- und Flurnamen, wo heute kastilisches Spanisch oder Katalanisch gesprochen wird; dasselbe gilt für Südwestfrankreich, wo dem Baskischen analoge oder doch sehr ähnliche Sprachspuren wohl auf das schwer faßbare Aquitanische zurückgehen. Seit Beginn des vorigen Jahrhunderts finden wir eine romantisch bestimmte Beschäftigung mit den Basken und dem Baskischen, von der Stimmung oder Meinung ausgehend, dclß man in ihnen, ihrer seltsamen, an keine andere Sprache anzuschließende Sprache, in ihren Gebräuchen, ja in ihrem anthropologischen Befund, ein "Urvolk" vor sich habe. Jacquetta Hawkes läßt in ihrem köstlichen Roman "Providence Island" (56) die Bewohner des Inneren einer schwer auffindbaren Vulkaninsel des Pazifik reines Baskisch sprechen, so daß sich ein Mitglied der Expedition mit ihnen verständigen kann, denn sie wanderten, eine Rasse schöner Cromagnoiden mit Megalithkultur, in den Pazifik aus. Seit Wilhelm v. Humboldts groß angekündigter Abhandlung über das "Vaskische" (57), die allerdings über eine Reisebeschreibung mit etwas Statistik nicht hinauskam und nie vollendet wurde, und Humboldts späterer Abhandlung über die Urbewohner Spaniens (58) riß die Beschäftigung nicht mehr ab, der sich allerdings auch Phantasten und Schwarmgeister widmeten. Seit Humboldt wurde viele Male versucht, das Baskische an eine andere Sprache, einen anderen Sprachstamm anzuschließen, wobei meist Wortschatzgleichungen, seltener Strukturelles die Grundlage bilden. Humboldt selbst hielt Baskisch für fortlebendes Iberisch, eine Meinung, die noch immer nicht ganz ausgestorben ist. Es ist fast erheiternd auf die Fülle der Anschlußversuche zu blicken, 125 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 wobei der Verfasser keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt - damit ließe sich leicht ein mittlerer Band füllen. Hans G. Mukarowsky (59) findet, daß es enge Beziehungen zu den Mande-Sprachen gäbe, besonders zum Songhai bestünden "enge" strukturelle und wortschatzmäßige Beziehungen. Die Arbeit leidet - wie viele Arbeiten dieser Art - an grundsätzlichen methodischen Schwächen: zum ersten wird die Rolle des Zufalls unterschätzt oder überhaupt nicht gesehen (60); zweitens wird das Baskische mit einer Reihe von Mande-Sprachen verglichen, während doch allein ein strikter Vergleich zwischen Baskisch und Songhai etwas erbringen könnte - einer Sprache, wobei allenfalls ein gemeinsames Substrat und Lehnwortbeziehungen herauszuheben wären; und drittens werden stützende Beweise aus anderen Bereichen - Geschichte, Archäologie - nicht herangezogen. Auf dieselben Gedankengänge kommt Mukarowsky später in modifizierter Form zurück, worin er die Möglichkeit der Beziehungen zwischen Baskisch und Berberisch untersucht. (61) Er nennt Hugo Schuchardt und Dominik J. Wölfet als Hauptvertreter der Ansicht, daß zwischen Baskisch und Berberisch Beziehungen bestünden, die mindestens ein gemeinsames Substrat voraussetzen. (62) Mukarowsky meint sogar, "die Beziehungen sind wesentlich enger, als man bisher wahrhaben wollte". (63) In einer bedeutend späteren Arbeit (64) findet Mukarowsky die These von der genetischen Verwandtschaft zwischen Baskisch und Berberisch erhärtet, wobei er hauptsächlich Schilch (Schlöch), Beraber und Rifai für Berber, die Dialekte von Labourdin und Navarra für das Baskische benützt. Eine andere Gruppe von Forschem tritt für Verwandtschaft mit den kaukasischen Sprachen ein. Hier ist besonders Karl Bouda (65) zu nennen. Boudas Arbeiten leiden darunter, daß mit dem Baskischen eine ganze Reihe kaukasischer Sprachen verglichen wird, deren gegenseitige Beziehungen ja ihrerseits voll ungelöster Fragen stecken; am ehesten scheint sich noch eine Beziehung zum Georgischen zu ergeben. Für Antonio Tovar (66) gelten die baskisch-kaukasischen Beziehungen als gesichert. Methodisch ist da allerlei einzuwenden: so müßte die westliche Gruppe der kaukasischen Sprachen (Georgisch, Chewasurisch, Swanisch, Lasisch, aber auch Adighe-Tscherkessisch, Abchasisch etc.) auf ein gemeinsames Substrat untersucht und dieses rekonstruiert werden; erst dieses rekonstruierte Substrat - dabei kann es sich größtenteils wohl nur um Wortschatzgleichungen handeln - könnte dann mit dem Baskischen verglichen werden, wobei beiderseits die Lehnwörter, Onomatopoetika, Elementargebilde auszuschalten wären; mit all den Fehlerquellen, die einer solchen Rekonstruktion per se anhaften, obgleich man sie unternehmen muß. Georges Dumezil ist da vorsichtiger; er bezieht nur die nordwestkaukasischen 126 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 Sprachen ein. (67) Schuchardt zeigt in einer späten Arbeit, in der er Nubisch und Berberisch vergleicht, (68) wie man methodisch vorgehen muß und wie man dabei auch bei kaum verwandten Sprachen Verwandtschaft "erweist". Dabei geht auch Schuchardt nicht auf die Tatsache ein, daß auch in seiner Arbeit nicht Sprache für Sprache verglichen wird - sondern zwei Dialektgruppen miteinander oder noch genauer: eine Gruppe miteinander verwandter Dialekte mit einer Gruppe von Sprachen! Ins Phantastische läuft Joseph Karst aus. (69) Bleichsteiner bemängelt dazu mit Recht, (70) daß Karst die Arbeiten Nikolaj Jakowlewitsch Marrs (1864 - 1934) zur sogenannten "Japhetitologie" nicht kenne, denen Bleichsteiner selbst anhängt. Freilich laufen auch Marrs Ansichten - der die Kaukasussprachen und die altkleinasiatischen und ägäischen Sprachen nebst Etruskisch und Pelasgisch für das "dritte Element" neben Indogermanisch und Semitisch hält - ins Phantastische aus. (71) Bleichsteiner hält die Beziehungen zwischen Baskisch und Kaukasisch für isoliert, was wohl zufällig heißen wird. Immerhin anerkennt Karst, trotz seiner schwerfälligen Ausdrucksweise - und der absurden Theorie von den beiden Atlantis in Libyen und Zentralasien - daß es so etwas wie ein mediterranes Substrat gibt, was ja auch Marr voraussetzt, für den dies ein teil des japhetitischen Sprachstammes ist. Immerhin können die Vertreter der kaukasisch-baskischen Beziehungen mit einigen Wortgleichungen aufwarten, die nicht ohne weiteres als zufällig erklärt werden können. (72) Auf der anderen Seite hingegen spricht sich Löpelmann, (73) m.E. mit unzureichender Begründung, gegen jede Beziehung zwischen dem Baskischen und dem Kaukasischen aus, wie immer man sie sich vorstellen mag. Löpelmann geht vom Dialekt von La Soule im französischen Baskenbereich aus - er hält ihn für den altertümlichsten - und findet Analogien zu den Berbersprachen; er nennt das Baskische eine "agglutinierende Schwester der Hamitensprachen". Wie die Berbersprachen haben es auch die Sprecher des Baskischen zu keiner gemeinsamen Hochsprache gebracht; trotz einer sehr großen Zahl von Lehnwörtern - mehr als die Hällte des baskischen Wortschatzes! - hat das Baskische seine Struktur gewahrt. Für Löpelmann sind Basken und Iberer unzweifelhaft verschiedene Völker, auf keinen Fall seien die Basken als direkte Iberer-Nachkommen anzusehen; dabei seien die ursprünglich iberischen Wörter im Baskischen sicher zahlreich, im einzelnen aber, beim Mangel an iberischen Schriftquellen, die uns mehr als ein paar Eigennamen böten, schwer greifbar. Der Name der Iberer ist nach Löpelmann als phönizisch anzusehen und bedeutet die "Jenseitigen", die "drüben Wohnenden"; dazu stellt er, sicher mit unrecht, den Namen der Hebräer (habiru). Die Iberer im Kaukasus - als deren Nachkommen man heute die awaro-lesghischen Völkerschaften ansieht - 127 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 sind mit den hispanischen Iberern nicht identisch, aber aus derselben Wortwurzel benannt, worin man diesmal Löpelmann folgen kann; der Name der kaukasischen Iberer dürfte wirklich aus semitischem Munde stammen. Für Löpelmann ist das "Urbaskische" eine ursprünglich hamitische Sprache, die aus Afrika kam; seine nächsten Verwandten seien das Guanchische, das Berberische, das Haussa, die nilotischen Sprachen, das Masai, das Somali, das Galla. (74) Kann man darin Löpelmann vielleicht noch folgen - abgesehen von den nilotischen und den danach aufgezählten Sprachen - so sind Berührungen mit dem Sumerischen, das schon für alle möglichen Anknüpfungen her halten mußte, höchst zweifelhaft; ebenso die aus gewissen Strukturanalogien aufgrund einer veralteten genetisch gemeinten Typologie der Sprachen gefolgerten und geforderten Beziehungen zum Finnisch-Ugrischen (womit die französische Sprachwissenschaft gerne operiert, bis in die Schulbücher hinein) und Mongolischen, wie sie auch Prinz Bonaparte verficht. (75) Eine Sprache teilweise agglutinierenden Typs ist deshalb noch lange nicht finnisch-ugrisch! Mit Recht sagt Löpelmann, daß die Erforscher der Kaukasussprachen nicht beliebige Einzelwörter verschiedener Sprachen miteinander vergleichen sollten, sondern einmal versuchen sollten, das auszuscheiden, was in ihnen an gemeinsamen Lehnwortgut vorhanden sei. Dies erweitert sich zu der Forderung, man solle zunächst einmal ein gemeinsames westkaukasisches Substrat zu identifizieren versuchen, von dem aus dann ein Vergleich möglich sei. M.E. geht Löpelmann zu weit in der Feststellung lateinischer Entlehnungen; manches davon geht eben doch eher auf ein gemeinsames Substrat oder Zufallskonvergenz zurück. Als Kuriosität sei die Arbeit N. Lahovarys erwähnt, der das Baskische mit den Drawida-Sprachen zusammenbringt und dem Sumerischen. (76) Hermann Berger wollte Beziehungen zum Burushaski herstellen, der isolierten Sprache der Hunzukut in Kaschmir (Gilgit, Baltit) und zwar über die Namen einiger Kulturpflanzen, was nicht glückte. (77) Das heißt wahrscheinlich ignotum per ignotum erklären wollen. Endlich sei noch einmal Bleichsteiner erwähnt, der definitive Beziehungen zwischen Baskisch und Elamisch findet, worin er auf den Spuren der Japhetitologie des schon erwähnten N. J. Marr wandelt. (78) Natürlich fand sich jemand, der Baskisch in Beziehungen zum Albanischen brachte, der schon erwähnte Lahovary. (79) Und endlich kann es nicht an Beziehungen zum Japanischen fehlen, wofür der ebenfalls schon erwähnte Karst eintritt. (80) Die Etymologien Karsts sind - bis auf geringe 128 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 Ausnahmen - Phantasiegebilde. Sonderbarerweise meint der Rezensent trotzdem, daß die japanisch-baskischen Gleichungen etwa zur Hälfte stimmen, wovon - natürlich - keine Rede sein kann. Zu allerletzt sei noch eines österreichischen Außenseiters gedacht - offenbar ein streitbarer Panslawist - der das Baskische mit dem Slawischen und, damit die Sache in "einem Aufwaschen" vor sich geht, zu allem Überfluß mit dem Altirischen. Slawen in Westeuropa! Es war dies Johann Topolov~ek. (81) Damit ist natürlich die Fülle aller behaupteten Beziehungen noch nicht erschöpft. Doch ergibt sich gerade aus einer Analyse der zahlreichen behaupteten - und einander widersprechenden! - Bezüge, Analogien, Verwandtschaften zweierlei: zum einen, daß Baskisch wirklich als wesentlich isoliert anzusehen ist, zum anderen, daß in ihm vielerlei Schichten, Mischungen, Konvergenzen stecken, womit wieder einmal gesagt ist, daß Ethnogenese ein komplexes Phänomen ist. Auch ergibt sich daraus, daß man dem Problem der baskischen Ursprünge hauptsächlich von der sprachlichen Seite beizukommen versucht, schon weil die historischen und archäologischen Quellen sehr spärlich fließen. Die antiken Quellen wissen nur sehr wenig über die "Vascones" und die sicher nahe verwandten "Aquitani". Hier begegnen wir auch einer Gefahr, bei der ethnologischen und linguistischen Analyse antiker Quellen besonders deutlich: administrative und geographische Bezeichnungen werden unversehens zu ethnischen und linguistischen! Was die Römer "Illyri" nannten, waren grundsätzlich Bewohner der Provinz "lliyricum", was sie "Raeti" nannten, ein Gemisch von kleinen Bergstämmen in den westlichen Ostalpen, mit gelegentlicher etruskischer Überschichtung - aber kein einheitliches Volkstum. Aus all dem oben Gesagten schälen sich doch einige hypothetische, wohl niemals wirklich beweisbare Anknüpfungsmöglichkeiten heraus: zu Iberern, Ligurern, Berbern über ein gemeinsames westmediterranes Substrat - auf keinen Fall sind die Basken direkte Nachkommen einer dieser Gruppen - und vielleicht doch zu einem gemeinsamen Substrat des Westkaukasischen, was aber nicht so zu verstehen ist, als sei ein Teil der "Urbasken" tatsächlich aus dem Kaukasus eingewandert, sondern es wird Berührungen (und damit Entlehnungen) mit einem westkaukasischen Stratum gegeben haben, einer Wandergruppe also, die vielleicht im Umkreis der Glockenbecherleute zu suchen ist, falls sie wirklich aus dem kaukasischen Bereich stammen, worauf ihre stark armenoiden Skelette vielleicht hindeuten. Die antiken Quellen ergeben dafür nichts; sie werden von den antiken Geographen einfach den "Bergvölkern" zugeordnet: Plinius (82) zählt am Meer beginnend folgende Stämme der westlichen Pyrenäen auf, die 129 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 Ausetani, die lacetani, die Cerretani und die Vascones. Der Name des Stammes der Calaguritani - abgeleitet von Calaguris, was ganz baskisch klingt deutet vielleicht auf eine iberische Überschichtung hin. Calagur(r)is lag im einstigen baskischen Siedlungsgebiet am oberen Ebro. Nördlich davon, die Südhänge der westlichen Pyrenäen entlangstreichend, hat Plinius (83) den "Vasconum saltus" - die Bergschluchten und Waldhügelgegend der Basken. Strabo (84) läßt sich allgemein über die rauhen Sitten, die Bedürfnislosigkeit, die Eichelnahrung und die freie Stellung der Frau aus - man denke, sie tanzt mit den Männern! Auch er spricht von den Gebirgsbewohnern, den " oreioi litoi" und hat jenseits der lacetani - also östlich davon - das "ouaskonon ethnos", das Volk der Basken. Er nennt zwei baskische Städte Pompelo, das er volksetymologisch auf Pompeius bezieht - das heutige Pamplona - und Oiasso, das heutige Oyarzun(a) . Auch die Archäologie hilft uns nur sehr beschränkt weiter. Ganz allgemein befindet sich das Baskenland im Bereich des Megalithikums und hat Berührungen mit der spanischen und französischen Megalithkultur. Es läßt sich immerhin zeigen, daß die Iberer sich erst eisenzeitlich auf Kosten der Kelten ausbreiten, was ja zur Doppeldeutigkeit des Namens der Keltiberer führte: Kelten und Iberer gemischt oder Iberer in einstigem Keltenland siedelnd - oder umgekehrt? Archäologisch wird das Baskenland keineswegs von iberischen Inventaren bestimmt, woraus wenigstens der negative Schluß zu ziehen ist, daß die Basken eben keine Iberer-Nachkommen sind. Ob nun wirklich eine Kontinuität von der paläolithisch-frankokantabrischen Kultur über die neolithische Asturiakultur anzunehmen ist, kann nicht entschieden werden. (85) Da nur sprachlich das Baskische zur Deutung iberischer Inschriften nicht ausreicht, ist auch vom Sprachlichen her eine unmittelbare Fortsetzung des Iberischen im Baskischen, wie es Wilhelm v. Humboldt μnd Hugo Schuchardt wollten, nicht anzunehmen. Immerhin ist auf einstigem iberischem Boden Überliefertes teilweise mit baskischen Mitteln zu deuten, woraus der Schluß zu ziehen ist, daß Iberisches in eine voriberische Bevölkerung einging. Viel fragwürdiger ist eine wie immer geartete Beziehung zu den Ligurern, die selbst schwer faßbar sind, da weder ihre Ausbreitung, noch ihre genauere Zuordnung und ethnische Bestimmung geklärt sind. Verliesse man sich bloß auf gewisse Übereinstimmungen der Hydronomie - ein antiker Flußname des einstigen Oberungarn, Durea (nicht genauer zu identifizieren, einer der slowakischen Nebenflüsse der Donau) läßt sich ja mit dem savoyardischen Flußnamen Dora und dem portugiesischen Duero vergleichen - so müßte das Volkstum der Ligurer von der Atlantikküste bis 130 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 nach Osteuropa gereicht haben. Dabei ist noch immer ungeklärt, ob nun Ligurisch zu den idg. Sprachen zu zählen ist oder nicht. (86) Nach Joseph Wiesner (87) sind die Ligurer, archäologisch gesehen, westmediterrane Gruppen gewesen, die durch Glockenbecherleute überschichtet wurden. Damit allein kann man sich nicht zufriedengeben; die Lösung liegt sicher in den folgenden Annahmen: Die Ligurer, die ohnedies kein geschlossenes Ethnikum dargestellt haben werden, wurden in verschiedenen, voneinander isolierten Sitzen - die Alpenligurer waren z.B. durch Keltenstämme von ihren westlichen Verwandten getrennt - auf verschiedene Weise beeinflußt; so ist für die Alpenligurer eine viel ·stärkere idg. Beeinflussung als durch die westlichen Ligurer anzunehmen. Dazu kommt das völlig ungeklärte Problem, inwieweit und wie denn nun eigentlich Ligurer und Iberer miteinander verwandt waren. Ligurer, Berber, Iberer, Guanchen, Basken werden eben in verschiedenem Maße an einem auch nicht einheitlich zu denkenden eurafrikanischen Substrat teilhaben, das vielleicht archäologisch im Capsien zu fassen wäre. Wenn wir die baskisch-kaukasischen Beziehungen ernst nehmen - ohne uns deshalb auf das Problem der kaukasischen Iberer weiter einzulassen - so ergibt sich, daß die Basken einem eurafrikanischen Substrat entstammen, das voriberisch, vorligurisch war; daß sie einmal mit einer kaukasischen Gruppe in Berührung gekommen sein müssen - und daß sie autochthon sind! Darin liegt kein Widerspruch, die Positionen las~n sich wie beim parallelen Fall der Etrusker vereinigen. Die drei Positionen in der Ursprungsfrage der Etrusker - sie kamen aus Lydien, sie kamen aus dem Norden aus den Alpen, sie sind autochthon - lassen sich vereinigen: das sprachlich maßgebende Element kam aus Lydien; ein idg. Substrat, das zuletzt auf die Urnengräberkultur zurückgeht, kam aus dem Norden - aber das Volkstum entstand erst auf italischem Boden! Für die Basken muß dasselbe gelten: Sie entstanden erst als gesondertes Volkstum in ihren historischen und heutigen Sitzen, eine Kerngruppe, die besonders die Strukturelemente der Sprache lieferte, nahm iberische, vielleicht ligurische Elemente auf, war selbst aber älter. Später kamen zahlreiche lateinische Elemente hinzu, die einen sehr alten Zustand des Vulgärlateins widerspiegeln, der vielleicht von früh romanisierten Kelten, Keltibern etc. getragen wurde. Viel später erst kommt eine geringe Berührung mit dem Gotischen hinzu - groß kann sie nie gewesen sein, denn die Bergvölker, besonders die Basken haßten die Goten - die Rolandssage widerspiegelt diesen Haß; die Guerillakämpfer, die die Nachhut eines fränkisch-gotischen Heeres angriffen, waren ursprünglich keine Mauren, sondern Basken! Die eigentliche Volkwerdung der Basken muß in den letzten vorchristlichen Jahrhunderten abgeschlossen gewesen sein. 131 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 Nach Gamillscheg (88) gehen die Basken erst zur Zeit des westgotischen Königs Leowigild (568 - 586) aus einer Verschmelzung der romanisierten Vascones - die er für Iberernachkommen hält - mit romanisierten Kantabrern - die er für Ligurernachkommen hält - hervor. Darin können wir ihm nicht folgen, weder im späten Ansatz der Ethnogenese, noch gar in ihrer Entstehung: Zwei romanisierte Volkstümer hätten in ihrer Verschmelzung Baskisch ergeben!? Die Basken sind daher, trotz allerlei Mischungen, Berührungen, Verschmelzungen, doch eigentlich autochthon; sie sind keine Ligurer, keine Iberer, keine Berber, keine fortlebenden Megalithleute - sie sind doch sui generis. (89) Eine kaukasische Beziehung könnte am ehesten wirklich über die Glockenbecherleute gelaufen sein, Gruppen von Wanderschmieden und - händlern, deren Grabinventare scharf von anderen geschieden sind, die in einer Spätform des Megalithikums z.T. "megalithisiert" wurden, deren archäologische Spuren vom Atlantik bis nach Osteuropa reichen. Restbestände "megalithisierter" Glockenbecherleute mögen also an der Ethnogenese der Basken mit beteiligt gewesen ein. (90) b) Die Haus(s)a Hier haben wir ein Gegenbeispiel - eine Ethnogenese, die sehr spät zustandekam. In den Haussa begegnen wir dem Phänomen, daß es trotz sprachlicher, ethnischer und historischer Einheit, trotz eines sehr starken Bewußtseins der Zusammengehörigkeit und der Identität, keinen politischen Zusammenschluß und keine geographische Geschlossenheit gibt. Hierfür besteht, wenigstens nach Westermann, auch kein Bedürfnis. Wir begegnen in den Haussa-Stadtstaaten einer Analogie zu antiken Mustern, Stadtstaaten mit Hinterland, die sich dennoch miteinander verbunden fühlen. Es geht hier um die sieben Stadtstaaten - Daura, Kano, Zaria, Gobir, Rano, Katsena, Biram - die nicht einmal untereinander Bündnisse geschlossen haben, also keine Amphiktyonie. Die Entstehung des Haussa-Ethnikums kann aus den Haussa-Chroniken z.T. rekonstruiert werden. Aus den legendären, halb mythischen Berichten läßt sich etwa folgendes herausschälen: ein Palästinenser, der eine führende Stellung innehatte, aber in Schwierigkeiten geriet, wanderte mit seinem Gefolge nach Libyen aus. Hier hatte er Zuzug von flüchtigen Berbern; in dieser Zeit wurden ihm fünf Töchter geboren - ein Hinweise auf gewisse mutterrechtliche Züge, die später zurückgedrängt wurden, aber noch nicht gänzlich erloschen sind. Sie heiratete einen gewissen Abuy azidi; nach anderen Berichten war sie nur die Gründerin des Stadtstaates Daura, während Abu-Yazidi, Sohn des Königs von Bagdat, wanderte mit 132 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 Gefolge in das Gebiet des heutigen oder späteren Bornu aus. Er heiratet dort eine Königstochter namens Magira - was der Titel der Königin-Mutter ist. Sein Sohn gelangt zu großem Kriegsruhm, Abu-Yazidi wird auf ihn eifersüchtig, vertreibt ihn. Er gelangt nach Daura, tötet dort eine riesige menschenfressende Wasserschlange, Daura heiratet ihn zum Dank, Von ihrem Sohn Bawo stammen die Herrscher der übrigen Haussa-Staaten ab. Wir finden hier eine Reihe ineinander verquickter Ursprungslegenden, die alle Vertreibungen, Vertriebene, Exilierte betreffen - hier verbirgt sich ein Kern historischer Wahrheit. Wir sehen eine arabische Komponente, die durch Palästina und den Irak verkörpert wird. Abu-Yazidi zeigt in seinem Namen, daß er als Religions-Flüchtling betrachtet wurde - ein Yazidi, ein sogenannter "Teufelsanbeter", der vertreiben wurde. Ein weiterer Faktor in der Ethnogenese ist Bornu: es entstand aus einem Zusammentreffen und nachfolgender Verschmelzung von schwarzhäutigen, aber europäiden Zagawa, Berbern und echten Negern. (91) Das führt zu folgendem historischen Kern: im 7. Jh. gab es zwischen Niger und Knuri eine Reihe "nigritischer" Kleinstämme - nigritisch bedeutet aus Europiden, Berbern und Schwarzaf rikanem gemischt - darunter einen kleinen, aber energischen Stamm, der Haussa hieß; dieser gewann die Oberhand. Dabei scheint es sich um bewußte Bevölkerungspolitik g~handelt zu haben: Flüchtlinge, Exilierte, Landlose, Vertriebene, Stammessplitter, Geächtete wurden aufgenommen. Weiteres sagt uns die Kisra-Legende. (Unter Kisra verbirgt sich vielleicht der sassanidische Königsname Kosrau) Kisra soll durch Kordofan gezogen sein - also eine ägyptisch-sudanische Komponente - und sein Enkel soll die gleichnamige Stadt Busa am Niger gegründet haben. Eine weitere Legende, diesmal der Nupe, will wissen, daß Leute des lsa - also wohl äthiopische Christen - die Webkunst zugebracht hätten. Daraus darf geschlossen werden, daß man Handwerkergruppen oder - stämme aufnahm, hauptsächlich Weber und Schmiede. Der Weg aus dem Osten, der die Ethnogenese symbolisiert und tatsächlich darstellt, heißt heute noch so: nämlich Darb el Arabian, "Weg der Vierzig", wobei der Zahl vierzig symbolische Bedeutung zukommt; sie verkörpert Vollkommenheit, Erleuchtung, Osten, Licht, Sieg, Heiligung. Wir haben hier Erinnerungen an einen historischen Wanderweg, der von Vorderasien über Ägypten, Libyen bis zum Tschadsee führt - teilweise nichts anderes als der alte Garamantenweg. Zu all diesen Beimischungen kommt ein Zustrom direkt aus dem Norden, nämlich abgesplitterte Berber, einschließlich von Tuareg-Gruppen. Dies alles vollzieht sich vom 7. bis zum 11. Jh. Danach strömen 133 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 exilierte Mande-Gruppen ein, die ihrerseits wiederum von starkem Berbereinfluß geprägt sind. Damit gibt es die ersten Versuche zur Staatenbildung. Der Zustrom echter und arabisierter Berber hängt vielleicht auch mit den Eroberungszügen der fatimidischen Kalifen zusammen (909 - 1171), wobei es häufig blutig genug herging; die Chronik von Katsena meldet Kämpfe mit Tuaregs. Die entstehenden Stadtstaaten zeigen deutlichen Mande- bzw. Mandingo-Einfluß, aber die Haussa-Gruppen überwiegen. Es entsteht außerhalb der Haussa-Staaten das Reich Mali, dessen Erbe Songhai wird; beide Staaten erobern Haussa-Stadtstaaten, besonders Kano und Katsena. über diese Stadtstaaten wirkt der islamische Einfluß immer stärker herein, besonders durch Händler und Missionslehrer. Vom 14. Jh. an sind die Haussa islamisiert, ohne gewisse vorislamische Bräuche aufzugeben oder gar ihre inzwischen festgewordene Identität. Die Ureinwohner von Kano, eine ursprünglich nicht Haussa-bestimmte Gruppe, waren das Schmiedevolk der Maguzawa. Hier zeigt sich das ambivalente Verhalten gegenüber den Schmieden - sie werden entweder verachtet und zugleich gefürchtet - oder genießen eine überragende soziale Stellung; dies war bei den Kano-Leuten der Fall. Sie waren so sehr geachtet, daß sich sogar der Stadtkönig als Ehrenmitglied in die Schmiedekaste aufnehmen ließ. Auch zeigte sich gerade in Kano, daß mutterrechtliche Züge stark nachwirken. Bemerkenswert ist, daß die Ful, die z.T. die Stadtstaaten der Haussa politisch beherrschten, teilweise die Sprache der Haussa annahmen; hier zeigt sich, daß eine gewisse Volksstärke, verbunden mit einem starken Gefühl der Identität und wirtschaftlicher Überlegenheit - außerdem sind die Haussa gute Administratoren - dazu führt, daß die politisch Herrschenden die Sprache der Beherrschten annehmen. Um 1400 kann die Ethnogenese der Haussa als abgeschlossen gelten. Man sieht, wie aus einem starken Kern in Verbindung mit zahlreichen Flüchtlingsgruppen, die durch Aufstiegsassimilation sich angleichen, ein Ethnikum entsteht; dabei mag auch eine bestimmte strukturelle Überlegenheit der Haussasprache eine Rolle gespielt haben. (92) c) Die Drusen In den Drusen begegnen wir einem Ethnikum, das aus einer Religionsgemeinschaft entstanden ist. Ihnen eignet ein starkes Gefühl der Identität und Zusammengehörigkeit, obgleich sie es nicht zu einer eigenen Volkssprache gebracht haben; sie sprechen, abgesehen vom drusischen Sonderwortschatz, das Arabisch ihrer Umgebung. 134 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 Sie verliehen sich einen künstlichen Stammbaum, darin durchaus arabisch; sie betrachten Jethro, den Schwiegervater des Moses, als ihre eigentlichen Stammvater. (93) Sie wollen damit einer Seitenlinie der Erzväter entstammen, gleich den Arabern, die über Hagar und deren Sohn lsmael von Abraham abstammen wollen - eine Erzählung, die ursprünglich der Diskreditierung diente, wie die parallelen Erzählungen vom Ursprung der Moabiter und Ammoniter. (94) Indem die Drusen Jethro, den Midianiter, als ihren Stammvater betrachten, sagen sie einerseits, daß sie der Heilsgeschichte zugehörig sind, andererseits aber, daß dies auf einem Umwege, außerhalb des Islams geschieht. Die Drusen sind geistesgeschichtlich gesehen eine selbständig gewordene Abzweigung der ismaelitischen Richtung, In ihren Auffassungen zeigen sich Einflüsse der iranischen Eschatologie, wie sie im iranisierten Islam umgeformt wurde. Sie betrachten Jethro auch als den ersten ihrer sieben Propheten, von denen nur der erste und letzte - der geistesgestörte fatimidische Kalif Nur el-Hakim (996 - 1021) den Uneingeweihten bekannt sind. Nur die Eingeweihten - ukkal - kennen auch den zweiten bis sechsten Propheten. Die sieben Propheten entsprechen den sieben Imamen der Siebener-Schia. In den Propheten manifestierte sich die göttliche Urkraft, besonders im Kalifen el-Hakim, dessen rätselhaftes Verschwinden im Jahre 1021 Anlaß zur Mythisierung und Sagenbildung, zur Hypostasierung gab. Die tatsächliche Stiftung geht auf einen Freund des Kalifen, ad-Darasi zurück, der aus den Kreisen iranisch bestimmter Ismaeliten Syriens kam. Mohammed ibn Ismail ad-Darasi, um ihm den vollen Namen zu geben, stammte aus einer iranischen Familie Bucharas und tauchte 1017 in Kairo auf, wo er Freund des wahnsinnigen Kalifen wurde, der z.B. Christen und Juden verbietet, überhaupt auszugehen, der Kirchen und Synagogen zerstören läßt - darunter auch die Grabeskirche in Jerusalem, was einen der Anlässe der Kreuzzüge bildet. Als ismaelitischer Missionar geschult, verkündet er den Kalifen als eine Inkarnation der Weltvernunft, wie es für Ali verkündet wurde; adDarasi überträgt also schiitisch-imamistische Gedankengänge auf den Kalifen. Dazu fügt er die Lehre von wiederholten Inkarnationen, also von der Seelenwanderung hinzu. Nachdem sich die Gruppe in Syrien, im Haurangebirge konstituiert hatte, wurde jede Mission eingestellt. Seit dem 11. Jh. stellen die Drusen, die sich nur mehr durch natürliche Vermehrung verbreiteten, eine lnzuchtgruppe dar. Die Ausgangsgruppe enthielt sicher auch nichtarabische, vor allen Dingen kurdische, türkische und iranische Elemente, zu denen sich oberflächlich islamisierte Aramäergruppen des Hauran gesellten. Diese lnzuchtgruppe, deren Basis offenbar zahlreich und vital genug war, die negativen Folgen jahrhundertelanger Inzucht zu vermeiden, brachte einen irgendwie "unarabisch" wirkenden Schlag großer, kräftiger Menschen hervor, in denen 135 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 sich vielleicht noch andere vorislamische Gruppen, nur oberflächlich bekehrt, in einer Art vorarabischen Rekombination zusammenfanden. Wir sehen in den Drusen wie aus einer Sekte ein Volkstum wird, obgleich es weder ein geschlossenes Territorium, noch einen Staat, noch eine von anderen Gruppen unterscheidende Volkssprache besitzt. (95) Der Vorgang, daß eine religiöse Gruppe zu einem Volkstum wird, ist keineswegs einmalig - Juden, Parsen sind bekannte Beispiele dafür; besonders prädestiniert hierfür sind verschiedene Wiedertäufergruppen, die sich streng von ihrer Umwelt abschließen - so die Amish-People Pennsylvaniens, die Hutterer Kanadas. (96) d) Die Rumänen Die Rumänen sind zunächst schon dadurch gekennreichnet, daß sie ohne Zusammenhang mit der westlichen und südlichen Romania sind; auch als Dacia eine Provinz des römischen Reiches war, sind die gründlicher romanisierten Daker durch einen breiten Gürtel weniger oder gar nicht romanisierter Illyrier, Thraker, Kelten von den Römern bzw. romanisierten Illyriern der Adria geschieden gewesen; von Anfang an herrschten hier isolierende Bedingungen. Nach dem Untergang der römischen Herrschaft, den Stürmen der Völkerwanderung, welche die slawische, awarische, magyarische und turko-bulgarische Landnahme im Gefolge hatte - in den sogenannten dunklen Jahrhunderten - bleibt das Romanische, das sich zum Rumänischen entwickelt hatte, isoliert, umschlossen von einer breiten Phalanx nichtromanischer, ja z.T. nichtidg. Sprachen: Ungarisch, Turko-Bulgarisch, Serbisch bzw. Kroatisch, Slowakisch, Altbulgarisch, Griechisch. Mit einigen dieser Sprachen umgreift das Rumänische den sogenannten balkanischen Sprachbund, der sich durch ein schwer einzuordnendes, aber unzweifelhaftes Substrat kundgibt, das sich im Wort- . schatz, aber auch in der Struktur deutlich zeigt: Bulgarisch, Albanisch, möglicherweise auch die nordgriechischen Dialekte einschließend, sowie Mazedonisch. (97) Die Rumänen werden unter dem Namen Blachoi (also Wlachoi, Wlachi) erst 976 von dem griech. Schriftsteller Kedrenos erwähnt. Die Form des Namens zeigt, daß die Byzantiner den Namen aus slawischem Munde erfuhren (98) (Metathesis). Noch etwas früher erwähnt die russische Nestorchronik, unter dem Jahre 890, daß die Magyaren durch das Gebiet der Slawen und Wlaken hindurchgezogen seien. (99) Hinsichtlich der frühen Geschichte des rumänischen Ethnos bzw. dessen Ethnogenese stehen sich zwei Ansichten scheinbar schroff gegenüber. Die eine Theorie besagt, die romanisierten Daker seien nach dem Rückzug der Legionen mit nach Süden über die Donau gezogen und hätten sich im heutigen bulgarischen Raum neu konstituiert und während dieser dunklen Jahr- 136 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 hunderte hätte das rumänische Volkstum in unmittelbarer Nachbarschaft der Bulgaren überlebt. Dem widerspricht die Gegentheorie, die für die Kontinuität des rumänischen Volkstums wenigstens in einem Teil der heutigen Sitze eintritt. Noch v. Wartburg hält diese Theorie, die inzwischen für erledigt gehalten wird, noch nicht für völlig widerlegt. (100) Diese Theorie schien eine Stütze dadurch zu gewinnen, daß man keine archäologischen Beweise der Kontinuität zu haben glaubte - inzwischen sind eine Reihe romanisierter dakischer Siedlungen ausgegraben worden; in Wirklichkeit gab es aber gerade auch für die Wandertheorie keine archäologischen Zeugnisse. Der alte Streit darf nun als zugunsten der Kontinuitätstheorie entschieden betrachtet werden. Die Masse der romanisierten Daker, aus denen das rumänische Volkstum entstand, blieb nördlich der Donau, auch nachdem Kaiser Aurelian 271 die Provinz Dacia hatte räumen lassen. Das bedeutet ja nicht - so wenig wie in den Ostalpen - daß die gesamte romanische bzw. romanisierte Bevölkerung abzog; wer nichts zu verlieren hatte, keine Verbindungen geschäftlicher oder verwandtschaftlicher Art zum italischen Mutterlande hatte, der blieb, richtete sich in den verlassenen Lagern oder Städten ein und wartete ab. Als Kerngebiet des entstehenden rumänischen Volkstums ist Siebenbürgen anzusehen. Als Hunnen, Awaren, Magyaren, Gepiden, Goten, TurkoBμlgaren den Balkan überrannten, flüchtete die entweder verarmte oder meist immer schon arm gewesene Bevölkerung in die Berge und nahm dort notgedrungen das Leben der Kleinbauern, Hirten, Holzfäller, Fischer und Jäger auf; die Städter und Pächter wurden zu Kleinbauern etc., was sich auch im Wortschatz spiegelt. Ein Teil der Rumänen blieb Hirten - Wanderhirten mit Transhumanz - bis zum heutigen Tage: Aromunen, Kutzowlachen, Zinzaren, Maurowlachen (Morlaken). Vom 6. Jahrhundert an begannen slawische Gruppen vom Nordosten her einzusickern; sie sind ackerbauende Gruppen, die zunächst in den bequemeren und fruchtbareren Ebenen siedeln und erst allmählich mit den wlachischen Gebirglern in Berührung kommen. Der rumänische Wortschatz zeigt, daß der Wortfeldbereich des Kleinbauern romanisch, des intensiveren Ackerbau treibenden Bereichs aber slawisch ist. Die Slawen ihrerseits, die sprachlich den Altbulgaren am nächsten standen, waren ihrerseits teilweise slawisierte Skythen, besonders Alanen, Anten genannt. Dabei könnte es sich um ursprüngliche Tscherkessen handeln, die iranisierl worden waren. Diese slawische Gruppe spielt sowohl für die Ethnogenese der Rumänen als auch für die der Bulgaren eine entscheidende Rolle - aber unter völlig anderen Bedingungen. Die im Raume der alten Dacia siedelnden Slawen werden im Verlaufe des 9. und 10. Jhs. rumänisiert, die Anten Bulgariens aber be- 137 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 stimmen durch Assimilation der ursprünglich türkischen Bulgaren das sprachliche und ethnische Schicksal Bulgariens. Während v. Wartburg den slawischen Anteil an der rumänischen Ethnogenese zu gering einschätzt, wird er von der gegenwärtigen sowjetischen Geschichtsschreibung übertrieben. Sie überbetont die slawischen Siedler, stellt sie als friedfertige und kulturell überlegene Ackerbauer hin, die den Ackerbau erst gebracht hätten und schreibt ihnen außerdem noch die Einführung des Christentums zu, wovon keine Reden sein kann, auch wenn später an der Festigung und Bewahrung des rumänischen Volkstums die christlichen Konfessionen entscheidend beteiligt gewesen sind. (102) Gerade die Sonderstellung des Rumänischen innerhalb der Romania zeigt, daß das Rumänische längere Zeit isoliert gewesen sein muß; der slawische Einfluß betraf vor allen Dingen den Wortschatz, das Morphologische in Bildungssilben. (103) So entsteht im Verlaufe des 7. bis zum 9. Jahrhunderts trotz und mit slawischer Überlagerung das rumänische Volkstum. Gerade die Bedrohung durch die slawische Überlagerung - die nicht immer nur friedfertig vor sich gegangen ist - hat gewiß die Herausbildung eines starken Eigenbewußtseins gestärkt, das auch die osmanische Bedrohung - die sprachlich bemerkenswert wenig hinterließ - nicht mehr zerstören konnte. Wie stark das Eigenbewußtsein gewesen sein muß, kann durch die Tatsache angedeutet werden, daß gerade dieses isolierte romanische Volkstum die Selbstbezeichnung Romanen nie preisgab. Die romanische Kontinuität zeigt sich gerade in gewissen Wortfeldern; so sind die Namen aller von Menschen benutzten Teile des Hauses und des Hofes romanischen Ursprungs; hingegen sind die Namen eines Teils der Tiere, besonders der Arbeitstiere slawisch. (104) Umstritten bleibt der germanische Anteil an der rumänischen Ethnogenese; er ist, was schon aus der relativ geringen Zahl germanischer Lehnwörter im Rumänischen zu schließen ist, nicht sehr hoch anzusetzen. (105) Die größte Bedrohung der rumänischen oder noch romanischen Kontinuität stellte im 5. Jahrhundert Attilas Herrschaft dar; seine Kriegszüge zwischen 442 und 447 zerstören auf dem Balkan die Reste städtischen Lebens und zwingen die Überlebenden endgültig zu anderen Wohnorten und zu anderer Lebensweise. Sie wichen ins Gebirge aus, das für Reiternomaden uninteressant und unbrauchbar war. In diesen dunklen Jahrhunderten konsolidiert sich das entstehende rumänische Volkstum in engen Gebirgstälern und auf weiten Hochweiden. Das starke Verbundenheitsgefühl, das gerade die pastorale Lebensweise kennzeichnet, trägt zur Festigung bei. Unter den balkanischen Wanderhirtenstämmen, die z.T. noch heute ihre Lebensweise fortsetzen - mit Mißfallen von den kommunistischen Behörden 138 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 betrachtet - finden wir offensichtlich analoge Verhaltensweisen, seien sie nun slawischer oder rumänischer Zunge. (106) Trotz der slawischen Wanderhirtenstämme muß das rumänische Wanderhirtentum beispielgebend gewirkt haben, da im Slowakischen, Tschechischen und Polnischen der Wanderhirte ohne Rücksicht auf seine tatsächliche ethnische Zuordnung "Wlache" genannt wird. (107) Werfen wir noch einen Blick auf das eigentliche Substrat des rumänischen Ethnos, die Daker und die ihnen nächstverwandten Goten. Sie stellen einen ziemlich geschlossenen Block dar, der im Westen der Dacia mit keltischen Stämmen - seit dem 4. Jh. v. Chr. - starke Berührungen hatte und von ihm wohl Elemente der Latene-Kultur empfing; im Osten gab es starke Berührungen mit Sarmaten und Y azygen, also iranischen Stämmen; im Südosten gab es Beziehungen zu den nahe verwandten Thrakern, im Süden Berührungen mit den etwas entfernter verwandten Makedonen, im Westen und Südwesten endlich mit Illyriern. Während die Thraker im großen und ganzen mediterran gewesen sind - was im rumänischen Volkstum bis heute durchschlägt - sind die Thraker offenbar stärker nordisch bestimmt gewesen, sonst hätte der antike Topos vom "blonden Thraker" kaum entstehen können. So kann man Peter Boev nicht recht geben, der die Thraker als mediterrandinarisch bestimmt - das gilt gerade für die Daker. (108) e) Die Ungarn Lernten wir in den Rumänen ein Volkstum kennen, das aus einem starken autochthonen Kern und einer mächtigen Assimilationsgruppe entstand, den Slawen, die romanisiert wurden, so lernen wir in den Ungarn oder Magyaren einen ethnogenetischen Prozeß sehr verschiedener Art kennen. Vollzog sich die Volkswerdung der Rumänen eher friedlich, auf heimischem Boden, so daß sie wirklich als Autochthone zu betrachten sind, so vollzog sich die Volkswerdung der Ungarn auf einem Kolonisationsboden, weit entfernt von der ursprünglichen Heimat und größtenteils aufgrund kriegerischer Auseinandersetzungen. Hatte sich das rumänische Volkstum aus dem Zusammentreffen mit einer einzigen Assimilationsgruppe entwickelt, so das magyarische aus einem Kriegerbund, dem sich viele Hilfsvölker und Volkssplitter assimilierten. Die beiden Völker, die das Schicksal in nahe Berührung brachten ohne daß es je zu wesentlichen Mischungen kam, hatten jeweils zwei Namen, die für die Geschichte ihrer Ethnogenese bedeutsam sind: die Rumänen den Ehrennamen der Romanen, aber auch den der Wlachen, einen weniger angesehenen, von ihren Nachbarn verliehenen. Auch die Ungarn tragen zwei Namen - den türkischen der Ungarn und den eigenen der Magyaren, worin sich zwei ethnische Komponenten spiegeln, die für die ungarische Ethnogenese entscheidend waren. 139 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 Der Name der Ungarn, türkisch "On Ogur", wahr wohl der Name einer wolgatürkischen Konföderation, die sich den Magyaren anschloß. Die Bedeutung ist an sich klar: "on ogur" heißt "zehn Pfeile", aber was war damit gemeint? Gewiß eine Gruppe von zehn Stämmen - aber waren dies nur die türkischen Stämme oder alle Stämme der Konföderation? Mit der mitteleuropäischen Romantik läuft eine speziell ungarische SprachRomantik parallel - sie ist mit dem romantischen Uranliegen beschäftigt, die "Urheimat" aufzufinden: nostalgische Sehnsucht nach den Ursprüngen also. Hierfür wurde viel Phantasie, viel Energie eingesetzt. So Sändor Körösi Csoma de Törös (1784 - 1842), der die Urheimat in Tibet sucht - passenderweise stirbt er in Darjeeling, einem tibetisch benannten Ort, Dordje Ling, "Ort des Donnerkeils" - und zwar den durchaus apokryphen urmagyarischen Stamm der "Y ougar", der nach Sändor Körösi noch in Tibet existieren mußte und mit dem man noch Ungarisch sprechen können müßte. Für Arminis Vämbery, eigentlich Hermann Bamberger aus einer jüdischen Familie der Großen Schüttinsel, der die Magyaren türkisch überschichtete Finno-Ugrier sein läßt, war der Ort der ethnischen Mischung der Raum zwischen dem Kaspischen Meer, der Wolga und den Südhängen des Urals. (109). Wenn wir Vämbery in der Bestimmung der Ethnogenese nicht ganz folgen können, so doch in der Bestimmung der Urheimat. Darüber hinaus bleibt sein Buch eine Sammlung sonst schwer zugänglicher Nachrichten, wenn auch seine türkisch-magyarischen Wortgleichungen größtenteils überholt sind. Wilhelm v. Hevesy hingegen will die Ungarn aus Indien kommen lassen, wo er die Drawida-Sprachen als dem Ungarischen zunächst verwandt "entdeckt". (110) Körösi und Hevesy gehören einer Gruppe ungarischer Sprachromantiker an, die besonders die finnisch-ugrische Verwandtschaft betonen, wobei sie immer in Gefahr geraten, dafür einfach das Suomi-Finnische einzusetzen. Bernhard Munkacsi (111) bestimmt die Urheimat als ein Gebiet zwischen Wolga, Terek und Kuban, also Nordkaukasien und die anschließenden Steppengebiete, in deren nördlicher Mitte das Gebiet der Baschkiren liegt, die er für besonders nahe Verwandte hält. Bei ihnen handelt es sich seiner Meinung nach um türkisierte Ugrier, was Vämbery für die Magyaren selbst behauptet; vielleicht stand das finnisch-ugrische Substrat den Wogulen nahe. Munkacsi bringt die etwas apokryph klingende Nachricht, daß sich der ungarische Dominikaner Julian um 1236 im Lande der Baschkiren noch auf Magyarisch verständigen konnte - möglicherweise waren den Baschkiren noch Magyaren- Verwandte beigemischt. Hat Vämbery das Verdienst auf die tatsächliche türkische Komponente hingewiesen zu haben, so Munkäcsi das Verdienst, die iranische Komponente zu betonen. Deshalb setzt ja Munkäcsi südlichere Gebiete als sein Vor- 140 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 gänger ein, weil er sonst die kaukasischen, damischen (?) und iranischen Elemente nicht erklären könnte. Er stützt sich hier auf das ungarische "rez" "Messing" und erblickt im awaro-lesghischen Wort "rez", das Kupfer oder Messing bedeutet, dasselbe. Aber gerade Wörter für Metalle und technologische Fertigkeiten sind oft verdächtig, alte Lehn- und Wanderwörter zu sein, die deshalb noch nicht auf tiefere Berührungen schließen lassen. Überdies ist längst klar, daß die iranische Einflußzone einst weiter nach Norden reichte. An anderer Stelle drückt sich Munkäcsi etwas vorsichtiger aus, wonach nämlich die Gebiete nördlich des Kaukasus das Urgebiet des Bildungsprozesses gewesen sei, der zur Bildung der Magyaren führte. (112) Sie seien aus ihren Sitzen zu beiden Seiten des südlichen Urals, wo sie den verwandten Wogulen benachbart waren, in den Nordkaukasus gezogen und zwar im 5. Jh .. Dort trafen sich die Proto-Ungarn mit einer türkischen Gruppe, die ebenfalls aus nördlicheren Gebieten - zwischen Itil (Wolga) und Ural verdrängt worden war. In diesen nordkaukasischen Sitzen kam es zur Verschmelzung, bei der gleichzeitig starker iranischer Einfluß herrschte. Er will in diesen magyarischen Urgruppen Ackerbauern sehen, wobei die magyarische Ackerbauterminologie türkisch sei; andererseits seien sie auch Fischer und Reiternomaden gewesen. Die Herkunft des Ungarischen - und damit des ungarischen Volkes - läßt sich durch einen etwas abstrakten und vereinfachten Stammbaum veranschaulichen - mit allen Vorbehalten sämtlichen Stammbaumtheorien gegenüber, die ja rekonstruierte Ursprachen hypothetischen Charakters mit einschliessen. (113) Agnes S6s entwickelt, noch im Banne der heute stark angezweifelten uralischen Spracheinheit, folgendes Schema: Sie setzt ein Proto-FinnischUgrisch voraus, aus dem ~eh das Finnisch-Ugrische entwickelt hätte; dieses verzweigt sich weiterhin in das Finnische - und dieses in die zahlreichen finnischen Sprachen, die m.E. nie eine Ureinheit gebildet haben, so wenig wie dies die Berbersprachen jemals taten " das Finnische hat als gleichgeordnete Verwandte Samojedisch und Ostjakisch neben sich. Aus dem einheitlichen Finnisch- Ugrischen entstand ebenso, wiederum gleichgeordnet, das Ugrische und aus diesem das Obugrische und das Wogulische. Aus dem Obugrischen entstand endlich das Magyarische. Schon daraus erhellt, ohne daß wir uns auf Konvergenztheorien und Theorien über Sprachpopulationen einlassen, daß das Magyarische weder mit dem Finnischen noch mit dem Türkischen "verwandt" ist, sondern einzig und allein mit dem Obugrischen und Wogulischen. Im Raume des späteren Baschkiristan - das, unbekannt wann, auch den Namen Magna Hungaria führte (was sich nicht unbedingt auf Magyaren beziehen muß, sondern nur auf die On Ogur) - fand die erste Berührung der "Ur-Magyaren" mit einer türkischen Gruppe statt, die sehr nachhaltig gewe- 141 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 sen sein muß, ohne daß man deshalb von einer Überschichtung reden müßte. Eine zweite türkische Gruppe, aber nun in feindlicher Absicht, setzt das so entstehende Volkstum in Bewegung, es sind die Petschenegen, die etwa um 800 die Urmagyaren nach Westen drängen; in der ersten Hälfte des 9. Jhs. sind sie zwischen Don und Dnjestr anzutreffen, im Raume Lebediens. Hier schließen die Urmagyaren mit sieben anderen Gruppen einen Militärbund, der die Sprache der magyarischen Gruppe als Befehlssprache übernimmt. Diese Gruppe ist den Byzantinern als Megeres bekannt. Unter den affilierten und später assimilierten Gruppen war mindestens eine weitere türkische Gruppe, die ihrerseits schon ein Stammesbündnis dargestellt zu haben scheint: die Abspaltung der türkischen W olgabulgaren, die sich, wie schon erwähnt, On Ogur nannten, "Zehn Pfeile", aber auch mannigfaltige weitere Volkssplitter sind als Bundesgenossen aufzunehmen, sicher iranische, nämlich Alanen. Die "Acht Horden" konsolidieren sich offenbar sehr rasch. Die erste Horde besteht aus den sogenannten Kavarsstämmen, nämlich Resten der Chasaren, eines Turkvolkes, dessen Oberschicht judaistisch gewesen ist; damit haben wir bereits die vierte türkische Berührung. Als dritte Horde werden die Megweres genannt. Die vierte Horde verrät durch ihren aus byzantinischem Munde überlieferten Namen "Kourtogermatos" ebenfalls türkische Herkunft; darin steckt ziemlich sicher türkisch "kurt", der Wolf. (114) Konstantinos Porphyrogennetos nennt die Magyaren konsequent "Türken" (tourki), ein damals weit verbreiteter Irrtum, falls es sich nicht um bewußte Feindpropaganda handelt. Die acht Horden - der Anonymus von 1200 (115) hat nur sieben Horden - werden von den Petschenegen weiter bedrängt; aber gerade diese beständige Gegnerschaft scheint zur Konsolidierung und zur Entfaltung eines starken Identitätsbewußtseins beigetragen zu haben. 894 verdrängen sie die inzwischen in Bessarabien seßhaften Magyaren und Assozierte endgültig in den balkanischen Raum. 971 werden die Petschenegen endgültig von dem byzantinischen Kaiser Johannes I Tzimiskes geschlagen. Ihre Reste erbitten von eben jenen Magyaren Asyl und Schutz, die sie so lange bekriegt hatten. Sie werden aufgenommen und später als Grenzersoldaten im Westen verwendet - ungarische Ortsnamen wie Besseny6 und Bessenyö, sowie der burgenländische Ort Pötschendorf scheinen das Petschenegen-Ethnikum im Namen fortzusetzen; daraus folgt auch, daß das Burgenland einst petschenegischer Siedlungsraum gewesen ist. Die Petschenegen sind bereits die fünfte türkische Gruppe, die magyarisiert wurde. Als die Hauptmasse der Magyaren die Theißebene endlich erreichte, fanden sie schon Magyaren vor, die als Vorhut eingetroffen waren: die späteren Szekler. Diese ziehen vor der Masse ihrer Verwandten wieder nach Osten ab und lassen sich im Raum des heutigen Siebenbürgen nieder, wo sie heute noch wohnen. Auf ihrem Rückzug nach Osten entsandten sie ihrerseits eine 142 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 Vorhut nach Osten, die ebenfalls noch existieren, die isolierte magyarische Gruppe der Czangos in der einstigen Bukovina. Nach der Landnahme in der Theißebene, die sicher von allerlei Volkssplittern sporadisch bewohnt wurde - Goten, Langobarden, romanisierte und nicht-romanisierte Pannonier, Kelten, Gepiden, Hunnen, Awaren, Slawen - ist das magyarische Ethnos im wesentlichen konsolidiert und so gefestigt, daß der Prozeß nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Die slawischen Elemente Nord-, West- und Mittelungarns, die besonders um den Plattensee konzentriert waren ( der selbst slawisch benannt ist, "Sumpfsee"), sind teils slowakischer, teils slowenischer Provenienz. In fernerer Hinsicht ist mit einer gewissen Einwirkung slawisierter Bulgaren und serbokroatischer Gruppen zu rechnen. (116) Die slawische Einwirkung hinterließ ein beträchtliches Sprachgut an Lehnwörtern, die hauptsächlich die Wortfelder des Ackerbaus, des Staats- und Rechtswesens, der Kirche und des Christentums betreffen. Der ersten iranischen Berührung, die noch in den Sitzen südlich des Urals erfolgte, schließt sich eine zweite an, nämlich durch Assimilierung eines alanischen Reststammes, der im 12. Jahrhundert auf genommen wird. Diese Alanen, ungar. Jasz, lat. Jazones genannt, sind Verwandte der heutigen Osseten im Kaukasus. (117) Der fünften türkischen Berührung gesellt sich eine weitere durch die Kumanen zu, Resten eines einst mächtigen Turkvolkes, das ebenfalls ins magyarische Siedlungsgebiet aufgenommen wurde. Die Kumanen, ungar. Kun, Kunok, besaßen oder beherrschten einst das gesamte Gebiet zwischen der unteren Wolga und den Karpaten und waren teilweise nestorianisch-christlich. 1239 ging ihr Reich durch den Ansturm der Mongolen zugrunde. Es scheinen besonders ihre heidnischen Reste gewesen zu sein, die um 1250 um Aufnahme baten und im mittleren Nordungarn angesiedelt wurden, wo ihre inzwischen völlig magyarisierten Nachkommen immer noch Pal6czi heißen - nach dem russischen Namen der Kumanen, Polovci ("Tieflandsbewohner"). Im 17. Jh. verlieren sich die Spuren des Kumanischen im Magyarischen, doch bleiben reiche Sprachreste erhalten, besonders im Codex Comanicus in Venedig. (118) Endlich ist noch des starken osmanischen Einflusses zu gedenken, der also die siebente türkische Berührung darstellt; ihm entstammen nicht nur zahlreiche Lehnwörter des Türkischen im Magyarischen, sondern es ist auch mit einer gewissen anthropologischen Berührung zu rechnen, wobei die Osmanen selbst größtenteils europäide Elemente enthielten; nie repatriierte türkische Kriegsgefangene und Exilierte, die den Zorn des Großherrn zu fürchten hatten, heirateten ein. Man kann unseren relativ häufigen Familiennamen Türk, Türck vergleichen, der nicht nur ein Übername war, der an die Teilnah- 143 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 me an den Türkenkriegen oder überstandene türkische Gefangenschaft erinnerte, sondern oft genug auch auf christianisierte türkische Kriegsgefangene zurückging. Zu guter Letzt ist noch der zahlreichen Siedler bairischer Herkunft zu gedenken, die seit karolingischen Tagen zwischen Neusiedlersee und Plattensee lebten und größtenteils magyarisiert wurden, ein Prozeß, der ja bis ins 20. Jh. hinein weitergeht. Ein besonderes Element stellen schließlich die Zigeuner dar, jene Mischung wandernder indischer Paria-Stämme, hauptsächlich aus Schmiede- und Musikerkasten bestehend. Auch sie trugen sicher zum anthropologischen Bilde der Magyaren bei. Ein Familienname, wie Csondala, könnte indischen Ursprungs ein (Tschandala, die Niedriggeborene), wie der Familienname Käzar auf chasarische Abkunft deuten könnte. (119) V_ Schlußbemerkungen Völker, Volkstümer, Ethnien sind also keine festen, ein für allemal vorgegebenen Größen, kein reines, ungemischtes, organisches, nur sich selbst gleiches Seiendes; sie sind weder mit Nationen, noch mit Rassen, noch Sprachen einf achhin gleichzusetzen. Völker sind, unbeschadet des biologischen Substrats, des anthropologischen Befunds, soziale und politische Größen, die sich nicht aufgrund reiner Gesetzmäßigkeiten konstruieren lassen: Die Rolle des Zufalls und des bewußten Tuns ist evident. Völker sind daher labile, veränderliche, dynamische Größen. Nationen können aus verschiedenen Völkern bestehen - für bestimmte herrschende Schichten stets ein Ärgernis, das so weit geht, daß sie die Existenz von "Minderheiten", also anderen Volkstümern innerhalb ihrer Territorien entweder gar nicht oder nur gezwungen anerkennen. Frankreich, Italien, Griechenland, um nur einige Beispiele zu nennen, zählen offiziell ihre Minderheiten nicht. Es gibt Völker, die weder biologisch, noch geographisch, noch kulturell, noch sprachlich einheitlich sind; ebenso wenig gelangen wir an wirkliche Urheimaten, so weit wir auch zurückgehen und rekonstruieren - wir erreichen immer nur sekundäre, tertiäre, abgeleitete Urheimaten und Phänomene. Die oft fast manische Suche nach der wahren und eigentlichen Urheimat hat ihr Analogon in der Suche nach dem Paradies. Dennoch können sich, in diesem abgeleiteten Sinne, manche Völker als autochthon betrachten - die Rumänen, die Albaner von heute tun dies, die Etrusker taten dies. Das Beispiel der Juden ist lehrreich: Sie sind ein Volk, das weder territoriale noch kulturelle noch sprachliche Einheit besaß; sie sind nach fast zweitausend Jahren zu etwa einem Fünf tel ihrer Zahl wieder Bewohner eines jüdischen Staates und dabei eine Nation zu werden - aber eben nur ein Bruch- 144 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 teil, nämlich nur die Bewohner Israels, sofern sie Staatsbürger sind - aber per definitionem ist jeder Jude der Erde eine Art latenter Staatsbürger; aber als Nation haben sie schon ihr höchst ärgerliches Minderheitenproblem. Das Beispiel der Schweiz ist lehrreich: eine Nation, wesentlich getragen von einer deutschen Volksgruppe, die um 1499 aus dem Verband des Heiligen Römischen Reiches de facto ausschied, die aus vier verschiedenen Volkstümem bestehen - immer ein Ärgernis für stramme Nationalisten. "Reine Rassen", "reine Völker" (120) sind späte Ergebnisse von lnzuchtgruppen, keine ursprünglichen Phänomene. Es gab weder eine menschliche Urrasse - trotz der vorauszusetzenden Monogenese - noch eine menschliche Ursprache. Das Problem der Völkerverwandtschaft ist damit schärfer gefaßt. Die oben erwähnten und geschilderten Faktoren sind ja der Grund, warum es z.B. unmöglich ist, die überlieferten germanischen Stämme, das Durcheinander, wie es uns die antiken Quellen bieten, in eine wenn auch noch so bescheidene systematische, genetische Ordnung zu bringen; die Gruppierung nach Istävonen, Ingävonen, Herminonen, die immer wieder versucht wird, reicht nicht im entferntesten aus. Stammbaumfolgen, reine Völkergenealogien reichen nicht aus, um die verwickelten Abstammungs- und Entstehungsverhältnisse zu klären; sie sind n~r schematisierende Arbeitsmodelle. Auch rein biologisch-anthropologische Fragestellungen sind betroffen: Wie weit sind, um boshaft zu sein, wir Österreicher nun "echte" Germanen? Die Juden echte Semiten? Die Ungarn oder Türken Asiaten? Zum Schluß kehren wir in die Welt der Kanarier zurück - im doppelten Sinne des Wortes. Auch für die alten Guanchen und andere Vorbewohner des kanarischen Archipels gilt die gleiche Problematik. Die ausgewählten Beispiele ethnogenetischen Werdens zeigen uns, daß einfache, geradlinige Entwicklungen im Werden der Völker in Wirklichkeit nicht gegeben sind; wir haben stets mit Ursachen-Komplexen zu rechnen, mit verwickelten Prozessen und Mischungen; diese werden vielfach, besonders wenn es zu vereinheitlichten Staatsgebilden kommt, die sich womöglich mit einer einheitlichen Staatssprache decken, durch nationalistische, politische und wirtschaftliche Faktoren überdeckt, d.h. simplifiziert. Gerade die Vielfalt der Völkercharaktere geht auf die Vielfalt jeweils verschiedener Mischungen und Formungen zurück; "reine" Völker sind, genauso wie "reine" Rassen oder "reine" Sprachen eine Illusion oder etwas Sekundäres, Nachträgliches. VI. Anmerkungen (1) Jakob Grimm: Über die deutsche Sprache, Teilsammlung Inselbücherei 145 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 Nr. 120; Vorreden zur "Deutschen Grammatik"; vgl. Franz Bopp in der "Vergleichenden Grammatik des Sanskrit, Send, Armenischen, Griechischen, Lateinischen, Altslawischen, Gothischen und Deutschen, vol. 2. Aufl. Berlin 1857, Vorwort pp. VI - VII: "unsere Muttersprache in ihrer ältesten, vollkommensten Gestalt wird durch Vergleichung, speziell mit Sanskrit enthüllt". Dazu ferner, speziell über Jakob Grimm und die romantischen Sprach- und Volkstheorien: Arno Borst: Der Turmbau zu Babel. Geschichte der Meinungen über Ursprung und Vielfalt der Sprachen und Völker, Stuttgart 1957 - 1963, 4 Teile in 7 Bänden, Bd. 3, pp. 1.521 - 1.629 bzw. bis 1.757. (2) Carl Christian Bry: Verkappte Religionen. Kritik des kollektiven Wahns. Ed. Martin Gregor-Dellin, München 1979, Neuausgabe der Ausgabe von 1924, bes. pp. 107 - 116
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Calificación | |
Colección | Almogaren |
Título y subtítulo | Probleme der Ethnogenese |
Autor principal | Stumfohl, Helmut |
Entidad | Institutum Canarium ; Direccion General de Patrimonio Histórico |
Publicación fuente | Almogaren |
Numeración | Número 20-2 |
Tipo de documento | Artículo |
Lugar de publicación | Viena |
Editorial | Institutum Canarium |
Fecha | 1989 |
Páginas | pp. 101-154 |
Materias | Prehistoria ; Islas Canarias ; Etnias ; Genética |
Copyright | ULPGC. Biblioteca Universitaria. 2017 |
Formato digital | |
Tamaño de archivo | 25169298 Bytes |
Texto | Almogaren XX/ 2 / 1989 Hallein 1~ 1. Einleitendes Helmut Stumf ohl Probleme der Ethnogenese (1983) a) Stichwort „Ethnogenese" 101-154 Sieht man die einschlägigen Lexika auf ein mögliches Stichwort "Volkswerdung", "Völkerentstehung" oder eben "Ethnogenese" durch, stößt man auf eine erstaunliche Lücke: es gibt es nicht. In die Nähe kommt Bertil Lundmann mit seinem Begriff der "Ethnogonie", er geht aber auf die eigentliche Problematik kaum oder zu wenig ein. Unter dem Begriff "Ethnogenese" fassen wir jene Prozesse zusammen, die zur Herausbildung eines Stammes, eines Volkes, eines Ethnos führen, wozu auch die Entstehung eines bestimmten Bewußtseins der Idendität, der Zusammengehörigkeit gehören; dabei handelt es sich keineswegs nur um einen biologischen oder gar organischen Prozeß, der mit unanwendbarer naturgesetzlicher Notwendigkeit abrollt, sondern vor allen Dingen um einen sozialen Prozeß. Hier größere Klarheit zu erlangen, sollte nicht nur für Historiker und Linguisten, sondern auch für Staatswissenschaftler, Politiker und Politologen von Interesse sein. In der großen Masse politischer, historischer, geographischer und linguistischer Darstellungen werden Begriffe wie Volk, Stamm, Ethnos, Clan, Nation, Sprache etc. als feststehende Größen behandelt, die ein für allemal gegeben sind und gegeben waren; noch dazu als einsinnig bestimmbare Größen. Gewöhnliche Überlegungen - auch den und gerade den nationalistisch- chauvinistisch bestimmten liegt es ganz fern, auf das Phänomen des mehrfachen Bewußtseins etwa einzugehen, das doch in Wirklichkeit eine sehr große Rolle spielte; gerade indem man es in der bewußten, auf einen Einheitsstatt zielenden Nationalitätenpolitik vermied, wurde es in Wirklichkeit vorausgesetzt. In Wahrheit handelt es sich um sehr komplexe Erscheinungen, auch im vor- und frühgeschichtlichen Raum. Man stelle sich einen alten Österreicher kroatischer Muttersprache aus dem Burgenland vor, dem in einer magyarischen Schule ungarisches Nationalbewußtsein eingeimpft worden war, nebst dem täglichen Gebrauch der ungarischen Sprache, der nun aber überzeugter österreichischer Staatsbürger ist; oder man stelle sich einen in Israel, sagen wir auf den Golanhöhen lebenden Drusen vor, dessen Muttersprache zwar Arabisch ist, der sich aber als 101 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 Druse und israelischer Staatsbürger fühlt, der mit seinen syrischen Sprachkameraden keine Verbindung wünscht, obgleich diese dieselbe Sprache sprechen. Man denke daran, in welchem Ausmaß das Bild des zentralistischen Einheitsstaates mit einheitlicher Sprache noch heute nachwirkt - noch immer anerkennen Griechenland, Frankreich, Italien ihre Minderheiten entweder überhaupt nicht oder in zu geringem Maße oder nicht alle ihrer Minderheiten - dann nur die, die sich zu rühren verstehen. Für einen durchschnittlichen Griechen gibt es nur Griechen in seinem Lande. Die oft hunderttausende Köpfe zählenden Minderheiten der Mazedonier, Aromunen, Albaner, Türken etc. sind ihm unbekannt; allenfalls gibt er zu, wie es mir persönlich widerfahren ist, daß in seiner Nachbarschaft Griechen mit "unverständlichem Dialekt" leben; im konkreten Falle handelte es sich um Albaner im Zentrum Arkadiens! Manchmal wird, inmitten dieser nationalistischen Begriffsverwirrung, der Verdacht laut, eine Volksgruppe sei ihrer Identität beraubt worden - womit zugleich zugegeben wird, daß es diese Möglichkeiten gibt und also wohl auch gegeben haben kann - so etwa in der griechischen Behauptung, daß alle Türken Zyperns eigentlich türkisierte Griechen seien (möglicherweise ein Teil), wozu die entgegengesetzte Behauptung der Türken gehört, daß alle Griechen Zyperns nur zwangsweise griechisierte Türken seien ( eher unwahrscheinlich). b) Projektion in die Vergangenheit Überall sind wir ohne weiteres Nachdenken geneigt und versucht, Begriffe wie Volk, Stamm, Nation, Sprache als einheitliche gegebene Größen in die Vergangenheit zurückzuprojizieren; wir schreiben vorge- . schichtlichen Völkern, die oft nur archäologisch deutlich sind, ein Volks-, Sprach- oder Stammesbewußtsein zu, über das wir schlechterdings nichts aussagen könnten; ja wir transponieren den modernen Nationalitätenbegriff, der an sich kaum mehr als zweihundert Jahre alt ist, unbesehen und unbesorgt in Epochen der Geschichte, die ihn gar nicht kannten. Nennen wir als brisantes Beispiel den Streit um die Nationalität des Nicolaus Kopernikus. Für die Deutschen war er Deutscher - seine Muttersprache war ja unzweifelhaft Deutsch; für die Polen ist er Pole, nicht nur des polnischen Namens wegen, was gar nichts besagt, man denke an viele Polen mit litauischen, ukrainischen, weißrussischen oder deutschen Namen. Ohne Zweifel aber lebte er im Einflußbereich der polnischen Krone und hätte man ihn selbst befragt, wie er sich klassifiziere, hätte er die Fragestellung vermutlich nicht ganz verstanden, sondern gesagt, er sei ein treuer Sohn der Kirche und em l<:>yaler Untertan der polnischen Krone! Vom 102 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 modernen Begriffsinventar her gesehen, war er weder deutschen noch polnischen Bewußtseins! c) Die ideologische Mißdeutung Begriffsverwirrung und Mißdeutung verdanken wir grundsätzlich dem romantischen Denken, das ohnedies gerne die Begriffe vermischte, weil es grundsätzlich Grenzen und Abgrenzungen aufhob zugunsten eines mehr gefühlten als erkannten Universalen. Noch genauer: man verdankt dies der Popularisierung romantischer Gedanken und Gefühle, der die eigentlichen Romantiker durch die bewußte und noch mehr unbewußte Gleichsetzung von Volk, Stamm, Sprache, Nation und Rasse vorarbeiteten. Der Schritt von der romantischen Grundüberzeugung, daß Deutsch eine "reine, ungemischte" Sprache sei (1). zu der Meinung, daß die Deutschen oder die Germanen, reiner, ungemischter, endlich besonders "edler" Rasse seien, ist leicht vollzogen und außerdem schmeichelhaft. Bei den romantischen Sprachwissenschaftlern, etwa Jakob Grimm eben, vollzieht sich das wider besseres Wissen; aus seinen sprachlichen Materialien heraus hätte er auch zu dem entgegengesetzten - und sachrichtigeren - Schluß kommen können. Der eigentliche Hintergrund ist das romantische Gefühl einer verklärten und besseren Urzeit, in der alles reiner, natürlicher, gesü, nder gewesen sei, die es wieder herzustellen gilt; in dieser war alles "organisch" - ein anderes Lieblingswort des Romantikers dieser Art - "unverfälscht" etc. Hierher gehört natürlich auch der Mißbrauch der Vorstellung des "reinen Blutes", was sich praktisch nur in einer extremen lnzuchlbevölkerung verwirklichen ließe. Das reduziert sich auf die Heiratspolitik von Vorfahren - bewußt oder unbewußt - die nur innerhalb des engen Verwandtschaftskreises heirateten oder heiraten konnten; Habsburger, Coburger, die Rothschilds; das erzeugt rasch einen einheitlichen Typus. Man überlege die Verwaschenheit, die Verblasenheit schon im Titel von Jakob Grimms "Deutscher Grammatik" (1819 - 1837 in vier Bänden, besonders das Vorwort ist wichtig): in Wirklichkeit handelt es sich um eine vergleichende Grammatik aller germanischen Sprachen, die als deutsche Dialekte angesehen werden - eine noch unschuldige Wurzel pangermanistischer Vorstellungen; zugleich werden Stämme, Völker, Nationen gleichgesetzt. d) "Reine Abstammung" Der Begriff der "reinen" Abstammung, des "reinen Blutes" gehört auch in den weiten Bereich der säkularisierten Vorstellungen: in ihm wird der Begriff des "reinen", des "wahren" Glaubens säkularisiert, seines religiösen Bezugs beraubt; wir begegnen hier einem Säkularisationsprodukt 103 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 des machtmäßig und dogmatisch fixierten und etablierten christlichen Kirchentums. Der "Bastard", der "Mischling" entspricht dem "Ungläubigen", dem "Ketzer"; im Spanien des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit war dies sogar identisch: wer nicht reinen, besonders kastilischen Blutes war, der war von vornherein als Ketzer verdächtig, ganz besonders wenn er maurischer oder jüdischer Herkunft war. Was den Begriff der reinen Rasse so gefährlich macht, ist gerade die Tatsache, daß er säkularisiert ist; der religiöse Antrieb wirkt unter der Maske des Weltlichen und Säkularen fort; er ist jenseits logischer Zugänglichkeit angesiedelt. In allen rassistischen Gedankengängen haben wir in Wirklichkeit mit einer verkappten Religion zu tun. (2) Das heißt auch sagen, daß die romantischen Reinheitsvorstellungen in Bezug auf Abstammung/Rasse, Sprache etc. weniger deutlich ausgesprochen und ausformuliert sind, als vielmehr latent, suggeriert, impliziert sind; gerade deshalb sind sie auch so wirksam. Wir finden Vorstufen schon bei Novalis, die zunächst noch, wie bei allen Romantikern, unschuldig klingen, aber leicht dem Mißverständnis ausgesetzt sind. "Deutschheit ist echte Popularität und damit ein Ideal". (3) Damit ist gemeint, daß die Deutschen wahrhaft volkhaft sind, zugleich aber, daß sie dies noch nicht ganz erreicht haben. "In energischer Universalität kann keine Nation gegen uns auftreten". (4) Ein vertrackter Satz, eines Romantikers würdig - er macht die Deutschen zu universalen Weltbürgern und gerade darin zu etwas eigentümlich Volkhaften oder Nationellen, wie man damals gerne sagte. Bei Friedrich Schlegel finden wir, daß Einheit der Sprache gemeinsamen Ursprung beweise und daß die Sprache das würdigste Prinzip für die Einteilung der Staaten sei: "Je älter, reiner und unvermischter der Stamm, desto mehr Sitten, und je mehr Sitten und wahre Beharrlichkeit" und Anhänglichkeit ~n diese, desto mehr wird es eine Nation sein." (5) Hier finden wir das ganze Instrumentarium romantischer Anschauungen m nuce. Wir merken leicht, daß der Begriff der gemeinsamen Abstammung schon den ideologisch mißbrauchbaren Rassenbegriff im Keime enthält; wir begegnen gewissen Beiwärtern, wie "rein", "echt", "unvermischt"; wir begegnen der romantischen Vermischung der Begriffe, die entweder gleichgesetzt oder in gegenseitiger Abhängigkeit verwendet werden - immer wird ein Begriff durch den anderen definiert und das Entscheidende vorausgesetzt; hier, in unserem Beispiel Sprache, Stamm, Nation. Wir begegnen, um es mit Meinecke zu sagen, dem Irrtum, daß Blutsverwandtschaft die Nation ausmache, was nicht heißt, daß sie nicht auch eine gegebene Größe sein kann, aber eben ein Faktor unter anderen. 104 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 Noch schärfer sagt es Fichte, der schlechterdings meint, im deutschen Charakter liege etwas Ursprüngliches und Überzeitliches vor; die deutsche Sprache ist ihm Ursprache, das deutsche Volk Urvolk, das Urvolk schlechthin, neben dem alle anderen Völker nur abgeleitete Größen sind. (6) Hier sehen wir nicht mehr ganz so unschuldige Wurzelgründe ideologischer Verzerrung, ideologischen Mißbrauchs der Volkstumsideen. (7) Die romantische Betrachtungsweise hatte natürlich auch, nicht nur im Sprachwissenschaftlichen, ihre positiven Seiten, ihre Fruchtbarkeit; so in der Herderschen Lehre vom schöpferischen Volksgeist. (8) Aus ihr folgt je nachdem, was wir betonen, einerseits die besondere Beachtung des anonymen Tuns - Sprache, Märchen, Volkslied - anderseits aber die sich stets übersteigernde Vorstellung, daß Völker, Stämme, Nationen in sich geschlossene, ursprüngliche Identitäten (8) seien, etwa a priori Gesetzes, das durch Geschichte und Entwicklung allenfalls nur schlechter, unreiner, unechter, vermischter werden konnte. Wir sehen hier auch Rousseaus Wirkung auf die Romantik durchscheinen. (9) c) "Autochthon" Reiner, ungemischter Abstammung zu sein, wird dann oft gleichbedeutend mit "autochthon" zu sein, Ureinwohner, indigena, aborigenes zu sein: mythisiert erscheint dies dann als Abstammung von einem Urpaar. Dies alles ist schmeichelhaft, man erschafft sich Ahnen, die schon der Reinheit ihres Blutes wegen zu bewundern und nachzuahmen sind. Dererlei Vorstellungen sind alt, sie begegnen schon in der Antike als ein Topos, als stereotype Behauptung, die unbesehen als exakte Beschreibung der Wirklichkeit aufgefaßt wird. So beschreibt Hippokrates die Skyten "als ein nur sich selbst ähnliches" Volk. (10) Tacitus operiert mit derselben Vorstellung, auf die Germanen bezogen. (11) Er erklärt sie auch für Eingeborene, Autochthonen. Wieweit Tacitus dies selbst für exakt beschreibend hielt, sei dahingestellt; ihn leiteten ja pädagogische Absichten - die Germanen sollten für seine dekadenten Römer ein Spiegel und Beispiel des Echten, Unverfälschten, Natürlichen und Biederen sein. (12) f) Romantische Übertragungen: Slawen Dieser Komplex von Vorstellungen - also: reines Volk, reine Sprache, wahre Ursprache, wahres Urvolk - der zuerst den Germanen gilt, wird nun zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf andere Gruppierungen übertragen, insbesondere die Slawen, worin schon Herder den Romantikern und deren späteren politischen Popularisatoren vorarbeitet. Der in Jakob Grimms Werk noch harmlose, unschuldige, gleichsam nur philologische Pangerma- 105 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 nismus, verwandelt sich unversehens über seinen Vetter, den politischen Pangermanismus, in einen viel schärfer bewußten und aufgeheizten Panslawismus, der seinerseits wieder auf den politischen Germanismus und Pangermanismus zurückwirkt. (13) Der noch universalistische und humanitäre Pangermanismus Jakob Grimms und die romantischen Folgevorstellungen werden ins Slawische übertragen: Die Slawen erscheinen nun als das reine, echte, schöpferische Urvolk, als eine Umation, die in Dialekte zerspalten, wieder unter russischer Führung zur Einheit geführt werden muß. Es verwundert nicht, daß dabei gerade kleine slawische Völker, besonders Slowaken und Tschechen, führend waren, während die Slowenen sich auf den Traum vom großslowenischen Reich beschränkten. Ja, es gab sogar Bestrebungen, eine allgemeine slawische Literatursprache zu schaffen, in Wirklichkeit ein unmögliches Unterfangen. (14) g) Verwaschenheit der Begriffe Dabei erfahren an sich schon ältere Vorstellungen - wie die biblisch oder religiös gegründeten Vorstellungen von Urpaar, Urvolk und Ursprache - eine Verschärfung und verschiedene Übertragungen. Dererlei Vorstellungen färben noch die Anfänge von Wissenschaften, die dann später einen anderen Gang gehen. Aber Reste solcher Vorstellungen werden mitgeschleppt und landen dann oft in den Randzonen der Schwarmgeister, "in the frings of insanity", der Randzone, die die moderne Gesellschaft umgibt. Sie führen da ein zähes Leben - so die von Friedrich Schlegel aus einer ersten Begeisterung über neu erschlossene Sprachzusammenhänge geborene Vorstellung vom Sanskrit als einer edlen, reinen Ursprache, von der alle indogermanischen Sprachen abstammen, (15) in der sich aber nur . die um vieles ältere Vorstellung spiegelt, daß Hebräisch die Ursprache der Menschheit und die Sprache der Engel sei. (16) Urvolk, Ursprache, Urpaar sind keine wissenschaftlich faßbaren Begriffe, sie sind emotionell, symbolisch, mythologisch; brauchbar können sie erst durch Scheidung in sekundärem Gebrauch werden. Die angebliche Abstammung von einem Urpaar ist eine Abstraktion, eine biologische und anthropologische Vereinfachung, die in der Bibel symbolischen Wert hat: grundsätzliche Einheit des Menschengeschlechtes. In ihr steckt zugleich in nuce die Vorstellung, reiner, ungemischter Abstammung zu sein. Ein Urpaar wird konstruiert, indem die biologische Anschauung, die bestenfalls über wenige Geschlechterfolgen reicht, bis in einen mythischen Anfang hinein erstreckt wird. In Wirklichkeit umschreibt der Begriff ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, das in Wirklichkeit nie rein biologisch zu verstehen war, weil Fremde durchaus assimiliert werden 106 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 konnten. Daß auch den Bibelvätern die Vorstellung nicht ganz geheuer war, daß es nur das eine Urpaar gegeben habe, zeigt die hebräische Sage von der zweiten oder anderen Frau Adams, Lilith, die nach einigen Erzählern sogar seine erste Frau gewesen sei. Die tatsächliche Monogenese der Menschheit, erwiesen durch die uneingeschränkte Fruchtbarkeit zwischen Vertretern aller Menschenrassen, bedeutet nicht Abstammung von einem Urpaar, auch dann nicht, wenn immer klarer wird, daß die Verschiedenartigkeit der heutigen Menschenrassen keinen ursprünglichen Zustand darstellt, sondern einen sekundären, der durch lnzuchtgruppen, unterbewußte Zuchtwahl und durch all das erklärbar wird, was wir heute unter den Faktoren der Domestikation und der Selbstdomestikation begreifen. Dieser scheinbare Widerspruch zwischen Monogenese Ablehnung der Urpaar-Vorstellung löst sich durch das Mittel der Populationsgenetik. Im Mensch-Tier-Übergangsfeld, das unbedingt vorauszusetzen ist - muß es Populationen auf dem Wege zur Menschwerdung gegeben haben, die einander so nahe standen, daß es, wenigstens vereinzelt, zu fruchtbaren Vereinigungen kam; im Zusammentreffen und Verschmelzen solcher hypothetischer Genträger entstanden die ersten eigentlichen Menschen, die zusammen, als Population, nicht als Individuen, alle Gene auf wiesen, die den Menschen ausmachen. Hier auch, bevor es zur eigentlichen Menschwerdung kam, ist die Urhorde, die vielleicht schon des Spiels der genetischen Möglichkeiten wegen promiscue war, einzuordnen. Morgans (17) Begriff der Urhorde, die er sich in weiterer Entwicklung als eine Urfamilie mit Gruppenehe und inzestuösen Bindungen vorstellt, die ein allgemeiner Urzustand der Menschheitsentwicklung gewesen sei, ist abzulehnen - sie hat es so nie gegeben. Im strengsten Sinne bedeutet Populationsgenetik, daß niemals alle genetischen Möglichkeiten in einem Individuum vereinigt sind, sondern nur in einer Gruppe von Personen; in einem übergeordneten Sinn muß die ganze Menschheit auch heute noch als eine solche Population angesehen werden. D.h. auch, genetisch gesprochen, daß der Phänotyp nie ganz der Genotyp sein kann. Damit ergibt sich von vornherein eine gewisse Variabilität und Plastizität der Erbanlagen, die durch nicht genetische Faktoren - Auslesefaktoren bewußter und unbewußter Art noch modifiziert werden. Daraus ergeben sich für alle Rassentheorien, aber auch für die Ehtnogenese entscheidende Folgerungen. (18) Beachten wir die bis jetzt aufgewiesene Problematik, so zeigt es sich leicht, daß eigentlich in der gesamten ethnographischen und volkskundli- 107 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 eben Literatur, aber auch in Politologie und Soziologie, miL verwaschenen Begriffen gearbeitet wird, die z.T. der Romantik immer noch verhaftet sind. Dazu kommt, daß vor allen Dingen im anglosächsischen Bereich Volk, Stamm, Ethnos, aber sogar Nation einfach mit "race" bezeichnet werden, was besonders in Übersetzung durch das deutsche "Rasse" zu zahlreichen Verschiebungen, ja Sinnentstellungen und Mißdeutungen führt. So werden beständig linguistische, biologische und soziologische Gegebenheiten miteinander gleichgesetzt oder verwechselt; am Ende erreichen wir statt Wissenschaft Mythologie, eine mythische Ureinheit von Volk, Stamm, Rasse, Sprache, die es nie gegeben hat. Das herkömmliche romantische Begriffsinventar reicht nicht aus, um etwa folgende Fragen zu beantworten, die nur eine kleine Auswahl der möglichen Fragen darstellen: Sind die Zigeuner ein Volk? Sind die Juden ein Volk? Wohin sind Restvölker und Volkssplitter zu zählen? Etwa: die Tahtaci Anatoliens? Die Karamanli, die türkischen Christen? Die Parsen Irans? Die Parsen Indiens? Sind die Drusen ein Volk? Wohin gehören die heute noch Türkisch sprechenden Nachkommen der Mamelucken Ägyptens? Was ist mit den Basken, die nicht mehr Baskisch sprechen? Sind die Aromunen und Kutzowlachen ein Teil des rumänischen Volkes? Wohin gehören die jetzt aussterbenden Liven Kurlands? Die ebenfalls sprachlich aussterbenden kleinen finnischen Restvölker im Süden und Südosten Leningrads - die Woten, Wepsen, Ingermanländer? Wohin gehört das kleine Kaukasvolk der Ubychen, das bei Bandirma in Anatolien am Marmarameer lebt - noch etwa 25 Familien? Was ist mit den Tscherkessen, die im Inneren Anatoliens, in Syrien, in Israel leben? Wie sind, um ein ungelöstes ethnisches Rätsel in unserer nächsten Nachbarschaft zu nennen, die Bewohner des Val Resia im Friaulischen zu klassifizieren? h) Methodisches Zum Methodischen seien ermge Bemerkungen erlaubt. Die romantischen Auffassungen stellen auch eine unzulässige Vereinfachung dar. Sie übersehen völlig die Fülle der Faktoren, die ethnogenetisch wirksam waren; hier erscheint, ausgerechnet bei den Romantikern, eine falsche wissenschaftliche Ökonomie, die auf eine Ursache zurückzuführen anstrebt, was irgendwie angängig ist oder Gegebenes als eine feste Größe behandelt, die nicht mehr abgeleitet zu werden braucht. In der Tat ist aber die Entstehung von Völkern, Volkstümern, Ethnien - jeweils hier gleichbedeutend gebraucht - ein sehr komplexer Vorgang. Viele Verwirrung wird dadurch hervorgerufen, daß Bündel von Faktoren vereinfacht, simplizifiert werden. Jakob Burckhards "terribles simplificateurs", die er für das 20. Jahrhundert in der Politik erwartet, sind leider nicht nur da zuhause: 108 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 sie haben ihr Unwesen ebenso sehr in Anthropologie, Linguistik und Ethnographie getrieben. Im Begriff des Komplexes verfügten wir über ein Erkenntnismittel, das Vielgestalt in Eingestalt, Vielfalt in Einheit faßt; damit vermeidet man die Fallgruben monokausaler Ableitung oder bloß axiomatischer Voraussetzung. Wer nur Einzelfaktoren, aus dem Zusammenhang gelöst, vergleicht, der gelangt leicht zu extremen Idealtypen, an denen die Wirklichkeit schematisierend gemessen wird. (19) i) Gustav Kossinna Zwischen Wissenschaft und Ideologie ist Gustaf Kossinna (1858 - 1931) mit seiner Siedlungsarchäologie angesiedelt. Kossinna nimmt dabei Gedankengänge des schwedischen Prähistorikers Oskar Montelius (1834 - 1921) auf, die dieser allerdings mit sehr viel größerer Vorsicht und Zurückhaltung geäußert hat, als der apodiktisch formulierende Kossinna. (20) Kossinnas wohlbekanntes Diktum umreißt die Methode: "Scharf umgrenzte Kulturprovinzen decken sich zu allen Zeiten mit ganz bestimmten Völkern und Völkerstämmen." (21) Seine Methode exerziert Gustaf Kossinna in seiner an sich kenntnisreichen und folgenschweren Arbeit über die Ostgermanen durch. (22) Hier zeigt Kossinna seine große, übrigens fast gänzlich durch Museumsstudien und nicht durch Feldforschung erworbene Sachkenntnis, dennoch sind die Ergebnisse nicht eindeutig. Schon die Scheidung zwischen Ost- und Westgermanen ist zunächst eine rein philologische gewesen - tatsächlich aber sind die Ostgermanen eine Abzweigung der Nordgermanen: heute ist klar, daß selbst sprachliche Unterscheidungen schwierig sind; es muß jedenfalls Übergänge und Konvergenzen gegeben haben. Sind die Burgunder Nordgermanen) Sie kamen aus skandinavischen Sitzen; ihre spärlichen sprachlichen Hinterlassenschaften sind keineswegs eindeutig nordgermanisch. Wie steht es mit den Langobarden!? Ostgermanen, die sich mühelos sozusagen, ins Westgermanische einfügen - ihre hinterlassenen sprachlichen Reste sind jedenfalls dem Althochdeutschen sehr nahe. Kossinnas Beispiel machte Schule nicht nur bei seinen polnischen Schülern. Jürgen Spanuth exerziert seine germanische Griffzungenschwerter durch - ein einziges, extremes Merkmal; die Historiker der Seevölker bemühen z.T. die bis zum Überdruß strapazierte phrygische oder philistäische Federkrone - die vielleicht nur das versteifte eigene Haar gewesen ist. Tatsächlich ist Kossinnas Siedlungsarchäologie jeweils nur in eng begrenzten Bereichen anwendbar, besonders dann, wenn sie durch andere Methoden gestützt werden kann. Als einzige Methode angewendet kann sie in die Irre führen. Ein schon sattsam bekanntes Beispiel ist das der Lausitzer Kultur (13. - 9. Jh. v. Chr.). Für Alfred Götze - einen der Lehrer 109 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 Kossinnas - war sie thrakisch. Für Rudolf Virchow war sie - mit Zurückhaltung - germanisch oder vorgermanisch; Carl Schuchhardt - der Lieblingsfeind Kossinnas, im Gegensatz zu diesem ein hervorragender Feldforscher - schloß sich später dieser Meinung an. Für den bedeutendsten polnischen Schiller Kossinnas, Josef Kostrzewski, war sie - natürlich - slawisch. Für Kossinna selbst war sie zunächst karpodakisch, dann illyrisch. (23) In Wirklichkeit kann keine dieser Zuschreibungen Anspruch auf Gü1tigkeit erheben; die Lausitzer Kultur, die irgendwie eine Nachfolgekultur der Umengräberkultur darstellt, war vermutlich eine Konföderation idg. Stämme mit den verschiedensten Übergängen und Konvergenzen sekundärer Art. Eine eindeutige ethnische Zuordnung ist schlechterdings unmöglich. Die Westgoten Südfrankreichs und Nordspaniens, ohne Zweifel ein geschlossenes Volk, hinterließen dennoch die~seits und jenseits der Pyrenäen ein verschiedenartiges ~rchäologisches Inventar; nach der Methode der Siedlungsarchäologie wäre auf zwei verschiedene Völker oder Stämme zu schließen; ja die Goten Nordostspaniens wären nicht einmal als Germanen zu erkennen- sie gebrauchen ein mediterranes Inventar. Die Rumänen der sogenannten dunklen Jahrhunderte verhalten sich archäologisch anders als die romanisierten Daker der Römerzeit, die zweifellos ihre Vorfahren sind; das ursprünglich städtisch bestimmte Inventar wird Inventar einer Hirten- und Jägerbevölkerung, die übrigens den Ackerbau nie ganz aufgibt, sondern ihn als eine Art von Hack- und Gartenbau weiter pflegt, wenn es die saisonalen Bedürfnisse der Herden gestatten. Die Siedlungsarchäologie müßte hier, streng genommen, auf zwei verschiedene Ethnien schließen. Das alles heißt nicht, Kossinnas Verdienste leugnen; es heißt aber . zeigen, daß der so wissenschaftlich scheinende Begriff der Siedlungsarchäologie, auf den Kossinna, in seinem wissenschaftlichen Streben oft frustriert, allergrößten Wert legte, sobald er verabsolutiert wird, vom Ideologischen und Emotionellen überwuchert wird; man erkennt den ideologischen Untergrund, latent die Vorstellung, daß es so etwas wie reine Volkstümer als durch lange Zeit, wenn möglich "von Urzeit her", bestehende Größen gegeben habe; man erkennt die Übertragung moderner Volksbegriffe ins Archäologische und Prähistorische. Trotz unzweifelbar großer Fachkenntnisse ging Kossinna später ins ideologische Lager über; gerade darin hatte er, buchmäßig gesehen, den größten Erfolg. (24) Hier finden wir schon Ausdrücke, die wir aus einem anderen Lager gewohnt waren, wie "Segen der Blutsbrüderschaft" (25) oder die unbedenkliche Gleichsetzung von Deutsch und Germanisch (ebenda). Je mehr etwas ideologisch ist, desto mehr versteht er sich wis- 110 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 senschaftlich, so eben auch Kossinna. (26) "Das siegreiche Vordringen meiner wissenschaftlichen Anschauungen als Ergebnis einer wissenschaftlichen Methode." Aber auch bei Kossinna finden wir manchmal gute Einsichten - so die, daß das westliche Megalithikum älter sei als sein angebliches ägyptisches Vorbild. II. Stamm, Volk, Ethnos; eine Zwischenbemerkung Diese für uns wesentlichen Begriffe sind nicht klar zu scheiden. Der Begriff des Ethnos, den die neuere Völkerkunde bevorzugt, stellt eigentlich nur den Versuch dar, diese Problematik aufzuheben und einen unbelasteten Ausdruck zur Verfügung zu haben. Ob sich eine bestimmte Gruppe für einen Stamm oder ein Volk hält, hängt von der Bewußtseinslage ab; dabei setzen wir eine gewisse geographische Kontinuität, eine gewisse Siedlungsgeschlossenheit voraus, ebenso sehr eine gemeinsame Sprache und einen gemeinsamen anthropologischen Typus. Im einzelnen zeigt es sich, daß eine oder sogar mehrere dieser Voraussetzungen fehlen können, obgleich ein Bewußtsein der Zusammengehörigkeit, der Identität vorhanden ist. Dabei sind wir stark von der historischen Zuordnung her beeinflußt - im Historische und im Ethnographischen sprechen wir von Stämmen, die für uns häufig auch statistische Größen sind - aber welche Spannweite zwischen einem kleinen Pygmäenstamm der philippinischen Aeta und einem keltischen oder germanischen Stamm! Das hat ja auch mit dazu geführt, daß man sich des Kompromißausdrucks "Volksstamm" bedient, der im Grunde auch nicht mehr aussagt, als daß die Grenzen fließend sind. Betrachten wir die Bestimmungsstücke im einzelnen. Der Begriff der gemeinsamen Sprache ist schon problematisch. Bei vielen großen Völkern, etwa den Italienern oder den Deutschen sind die Dialekte untereinander unverständlich, wenigstens teilweise; nur eine gemeinsame Hochsprache, die mehr oder weniger beherrscht wird, macht Verständigung möglich - auch die moderne Verwaltungsbürokratie, moderne politische Verfahren und Formen. Es gibt aber auch Volkstümer ohne gemeinsame Sprache: die Juden. Wir sprechen von gemeinsamer Kultur: dies ist eher eine Begriffsbestimmung des Stammes als des Volkes! In Wirklichkeit handelt es sich nicht um eine tatsächlich von allen als gemeinsam erfahrene Kultur, sondern mehr um die Möglichkeit der Gemeinsamkeit; man denke an den herkömmlichen Gegensatz von Stadt und Land, den erst die moderne Mobilität, die modernen Massenmedien teilweise verwischen. Wir sprechen von geographischer Geschlossenheit, von Territorialität; eine Reihe von Völkern verfügen in keiner Weise darüber, Zigeuner, Juden, Parsen. Häufig mischt sich in die Begriffsbestimmung von Volk und Stamm 111 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 eine beginnende Begriffsbestimmung der Nation; dieser verlangt gemeinsames Schicksal, gemeinsame politische Erfahrung, Staatsformen, Zentren; verlangt, daß das Prinzip der Territorialität sich zur Staatlichkeit erhebe; Nation ist ohne Staat, ohne bewußt erlebte geschichtliche und politische Formung undenkbar, wobei die gemeinsame Abstammung, d.h. das Gefühl der gemeinsamen Abstammung, das den Stamm und in weiterer Linie das Volk kennzeichnet, nicht zum Begriff der Nation gehört. Die Schweizer halten sich für eine Nation - selbst, wenn es sich um lokale Separatisten handelt - obgleich diese aus vier verschiedenen Volksgruppen besteht, einer deutschsprachigen, die die Mehrheit ausmacht und drei romanischen verschiedener Stärke. Mit dem Begriff etwa einer Sprach- oder Kulturnation ist dem Phänomen Nation nicht beizukommen. Zum Stamm: es mag ein kleines Volk, es mag große Stämme geben; auch hier ist das Bewußtsein maßgebend. Im Stamm ist die biologische Einheit bewußter mitgedacht, die gemeinsame Abstammung, deren man sich gerne rühmt - oder mindestens einer Komponente dabei, die dem Selbstbewußtsein mehr schmeichelt. Das Bewußtsein reiner Abstammung - häufig wird nur ein Heros Eponymos oder eine Urmutter genannt - schließt theoretisch Beimischung und Vermischung, schließt überhaupt Fremde aus, meist aber nur theoretisch, denn in Wirklichkeit haben Beimischungen, Assimilationen stattgefunden. Auch hier lassen sich die Beispiele häufen - die Coloureds Südafrikas zählen nach Millionen, obgleich eigentlich jede Vermischung zwischen Buren, Engländern und Bantus offiziell verboten ist, ja gerichtlich verfolgt wird. Offiziell haben aber Vereinigungen von burischen Männern und Bantufrauen nie stattgefunden. Juden wie Nichtjuden pflegen die Frage der Vermischung gerne auszuklammern; man berief sich gerne auf die Reinheitsgesetze Esras, die in Wirklichkeit eine vorhandene Mischung weit eher billigten als daß sie· alle vorhandenen Mischehen aufgehoben hätten (5. Jahrh. v. Chr.). Das ist weit eher ein Wunschtraum nachträglicher Redaktion! In der Tat gab es einen ständigen Zustrom an Nichtjuden durch Heirat, Konversion, Sklavinnen fremder Herkunft. Anders ist die enorme anthropologische Verschiedenheit der heutigen Juden nicht zu erklären, wie sie im heutigen Israel zu beobachten ist: von den völlig mitteleuropäisch aussehenden deutschen Juden und deren Nachkommen zwischen Haifa und Naharia bis zu den dunkelhäutigen jemenitischen und südindischen Juden. Man überlege vom rein Genealogischen her, wie viele heutige Europäer umgekehrt jüdische Vorfahren besitzen müssen, von Spanien ganz abgesehen, wo es praktisch keine Familie - vielleicht die spanischen Zigeuner und Teile der Basken ausgenommen - geben kann, die nicht jüdische Vorfahren hätte. 112 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 Einheitliche Abstammung stellt sich erst oft nachträglich her, so paradox dies auf den ersten Blick klingt. Dies aber hat sich immer wieder vollzogen, wenn eine bestimmte Gruppe von einem bestimmten Zeitpunkt an endogam heiratete, vorausgesetzt, die Gruppe war nicht zu groß. Als Beispiel mögen die Wilna-Tataren dienen, die bis zum 2. Weltkrieg als geschlossene Gruppe - von einigen Verbannten abgesehen - in Wilna lebten: sie stammen samt und sonders von einem Enkel des Dschengis-Khan ab, der nach dem Tode des Großkhans (1227) die gebotene Einberufung zur Kurultai, der großen Ratsversammlung ausschlug, mit seinem Gefolge in Wilna blieb und sich taufen ließ; das Gefolge, das wie bei allen Nachkommen des Dschengis-Khan z.T. aus Türken bestand, türkisierte sich. Die Gruppe blieb endogam und als eine lnzuchtgruppe, in der nach wenigen Generationen jeder vom Großkhan abstammte, überlebte sie bis auf unsere Tage. Man muß beachten: die Verwandtschafts- und Abstammungsvorstellungen solcher Gruppen - man kann die Wilna-Tataren allerdings kaum einen Stamm nennen - sind immer z.T. biologische, z.T. aber auch mythologische Größen. Viele der mythischen Abstammungsgeschichten enthalten aber auch das geheime Einverständnis gemischter Abkunft; so die vielen zirkumpolaren Völker, die sich einer Hunde-Abstammung rühmen, was natürlich daneben noch andere Bedeutungen haben kann. (27) Tatsächlich sind in der völkerkundlichen und soziologischen Literatur unter Stamm und Volksstamm so mancherlei Gruppierungen mit gemeint, die tatsächlich in die Genese gehören, die v o r der Ethnogenese entstehen. Man ist versucht, eine auf steigende Reihe anzugeben, ohne daß es auch hier stets klare Abgrenzungen geben könnten, etwa: Urhorde, Horde, Familie, Familiengruppe, Großfamilie, Clan, Kleinstamm, Stamm, Volk. Aber schon diese Reihe wird, abgesehen von Überschneidungen und unklarer Begriffslage im allgemeinen unangenehm unterbrochen durch Sonderformen, wie Stammeshälften (moieties), Phratrien, gentes. Für unsere Zwecke kommt alles in Frage, was mehr ist als Familie, weniger aber als Nation. Ein Kleinstamm, der aus mehreren Clans entsteht - diese aus Großfamilien - ist im Sozialen noch relativ ungeschieden: alle Mitglieder machen alles, es gibt weder Kasten noch Sonderhandwerker, Alltag und Sakralwelt sind wenig geschieden, das Weltbild wird in unmittelbaren sozialen und mythischen Beziehungen vermittelt, es gibt keine Sonderung der Wissensvermittlung; erst später treten die ersten Sonderungen auf, entsteht etwa die Schmiedekaste. Später wächst der Stammesältestc über eine reine Ehrfurchtsposition hinaus, Priester, Schamanen, Heiler erschei- 113 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 nen. (28) Mit Thumwald (29) definieren wir die Großfamilie als Verwandtengruppe, die in mehreren Generationen zusammensiedelt, auch gemeinsam wirtschaftet und ein definitives Oberhaupt hat. Als Beispiel wäre in Europa die serbische Zadruga anzuführen, die gerade noch bis auf unsere Tage überlebt hat, mit ihrem "gospodar", dem die einstige russische "derevnja" entspricht. Das war eine bäuerliche Haus- und Wohngemeinschaft, die aber auch Fremde aufnehmen konnte, jenseits der Verschwägerung durch Heirat. Eine solche Großfamilie, die oft Hunderte von Mitgliedern umfassen konnte, betrachtete sich als eine biologische Einheit und war es auch größtenteils. Aber in der Zadruga begegnen wir schon einer späten Sonderform, keiner Urform, sie entstand ja in einer Ackerbaugesellschaft, doch sind ähnliche Formen auch urzeitlich vorauszusetzen; freilich bringt erst der Ackerbau ein verengtes Territorium und eigentliche lokale Geschlossenheit. Die Sippe unterscheidet sich von der Großfamilie dadurch, daß sie nicht gemeinsam wirtschaftet. (30) Der Clan hingegen ist eine etwas stärker politisch ausgerichtete Gruppe, ein Verband, der aus mehreren Großfamilien besteht, die sich oft erst nachträglich eine gemeinsame Abstammung konstruieren. Bei den größeren und ausgebreiteteren Clans - die keine geographische Geschlossenheit mehr aufweisen - ist die gemeinsame Abstammung nur mehr Fiktion. Ein gutes Beispiel liefern die letzten, wenn auch schon sehr verwischt, noch existierenden Clans, die schottischen, die sich aufgrund des gemeinsamen Familiennamens und Tartans einer gemeinsamen Abstammung rühmen, obgleich dieser keineswegs durch Abstammung entstanden sein muß, sondern auch durch Adoption oder Hintersassenschaft. (31) Ein solcher Clan reicht durch alle Stände hindurch. In Großfamilie und Clan haben wir analoge Formen für die Ethnogenese vieler Völker, aber keineswegs aller. III. Sonderungen Hier betrachten wir kurz Sonderformen der Ethnogenese, ehe wtr uns den großen, prägnanten Beispielen zuwenden, die den Hauptteil der Arbeit ausmachen. 1. Eine Ethnogenesc, die nicht stattfand In dem weißen Zulu-Häuptling John Dunn, der sich um 1860 mit 44 (!) Zulufrauen in Südafrika niederließ, begegnen wir einer nicht realisierten Möglichkeit der Stammesbildung. Die zahlreichen Nachkommen Dunns siedelten und wirtschafteten verstreut; obgleich sie ein Bewußtsein ihrer gemeinsamen Abstammung hatten, führte dies nicht zur Ehtnogene- 114 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 sc, nicht zu einem Clan- oder Stammesbewußtsein. Hätten sie territorial gesiedelt - möglichst ohne Nachbarschaft von Zulu-Stämmen, hätte daraus ein eigenes Ethnos werden können. (32) 2. Die Zulus Die Zulus selbst, wie sie sich uns heute darbieten, entstehen aus einem kriegerischen Männerbund von äußerster Härte und Grausamkeit - nicht in der Feme der Geschichte, sondern sozusagen vor unseren Augen. Dies geschieht unter dem gefürchteten Häuptling Chaka. Chaka flieht mit seiner Mutter Nandi ("der Lieblichen") aus dem Großkraal seines Vaters Sanzanakhona (1757 - 1816) - er flieht also aus einer Großfamilie. Er findet Zuflucht am Hofe - also in einer anderen Großfamilie - des Häuptlings Dingiswayo, dessen Hauptclan Mthethwa heißt. Dieser umfaßt etwa 2.000 Mitglieder. Dingiswayo wird ermordet, Chaka rächt ihn und wird König, d.h. also Kleinkönig. Aus dem Mthethwa-Clan macht er einen kriegerischen Männerbund, in dem es für das geringste Vergehen - oder gar keines - nur eine einzige Strafe gibt: die Todesstrafe. Er führt die "impis" ein, die besonders gegliederten Regimenter - ein impi umfaßte 1.000 Mann; auf dem Höhepunkt seiner Macht hatte Chaka 100 Regimenter. Die Krieger waren zur Ehelosigkeit verpflichtet; ein Krieger, der vom Kriegszug ohne Beute zurückkam, wurde wegen Feigheit hingerichtet. Als allgemeine Waffe wurde der kurze Speer, assegai, eingeführt. Die Truppen terrorisierten durch Raubzüge und die Methode der "verbrannten Erde". Die Unterlegenen der anderen Stämme und Gruppen wurden verschieden behandelt, die alten Männer und alte Frauen wurden getötet, die jungen Leute hingegen vor die Wahl gestellt, entweder getötet oder eingegliedert zu werden. Die Truppe, die in der Form des Büffelhoms kämpfte - vier Regimenter - war sehr beweglich. Die Regimenter bestanden aus möglichst Gleichaltrigen, d.h. Chaka führte die Altersklassen als Organisationsform ein und baute auch vielleicht auf die Freundschaft unter Männern, soweit dies die grausame Disziplin zuließ. Es gab auch Frauenregimenter, die sich, wie die berüchtigten Amazonenregimenter der Dahomey, durch besondere Grausamkeit auszeichneten. Diesem Bund entstammen die heutigen Zulus, die ethnisch den verschiedenen Zweigen der Nguni-Gruppe der Bantus entstammen. Heute zählen die Zulus rund 4 Mio .. Wir sehen, aus einem Kriegerbund, den ein Ausgestoßener gründete, wurde ein Volk, dessen nächste Verwandte die Xhosa und die Swazi sind. (33) 3. Die Kerngruppe, die sich biologisch durchsetzt oder sprachlich Es wird Abstammungslinien in solchen Fällen geben, die tatsächlich 115 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 durchlaufen; oft aber trifft dies sicher nicht zu, zumal bei Assimilationen, die erst wenige Generationen zurückliegen. Hier ist die sehr weitgehende, aber dennoch nicht völlige anthropologische Veränderung oder Umvolkung der Ungarn und der osmanischen Türken zu nennen. Die Kerngruppe beider Völker stammt aus dem europid-mongoliden Übergangsgürtel Westasiens. Anthropologisch handelt es sich bei dieser magyarischen Kerngruppe um Paläosibirier, Europide, Mongolide in den verschiedensten Übergangsformen und Konvergenzen. Im Verlaufe der Westwanderung kommt es zu einem immer stärkeren Überwiegen des europiden Anteils, endlich zu einer sehr weitgehenden Europäisierung. Bei den osmanischen Türken, die einen stärkeren Anteil an mongoliden, einen etwas geringeren an europiden Genen mitbrachten - mit einem tungusischen Anteil, der Paläosibirisches enthalten haben wird - kommt es ebenfalls, sowohl durch Eroberung als auch durch Haremspolitik und Knabenzoll, zu einem immer stärkeren Anteil des europid-europäischen Anteils. Als die ersten osmanischen Türken in Kleinasien einsickern - häufig als Söldner miteinander rivalisierender byzantinischer Militärbefehlshaber - nehmen sie vielfach Frauen aus der griechisierten kleinasiatischen Bevölkerung, die ihrerseits nun aus Nachkommen der Hethiter, der Lydier, der Luwier, der Urartäer, der Galater etc. bestand. Dazu kommt später nicht nur die Haremspolitik, sondern auch der meist erzwungene Übertritt griechischer und . armenischer Mädchen. All dies führt zu einer weitgehenden Europäisierung, wobei die sprachliche Kontinuität gewahrt oder sogar ausgeweitet wird. In beiden Fällen, bei den Magyaren und bei den Türken, hat sich eine machtmäßig überlegene Gruppe durchgesetzt, trotz zahlreicher Assimilationen und Mischungen. Hieran kann die Frage geprüft werden, wieweit es sich bei einem Individuum der fraglichen Gruppen nun wirklich um einen "echten" Türken oder Ungarn handelt - eine Frage, die sich cum grano salis auch auf die meisten anderen Völker - oder Adelsgeschlechter - ausdehnen läßt. Wieweit ist ein beliebiger Österreicher ein "echter" Germane? Zu welchem Volk gehören etwa die Radziwill? Eine ursprünglich litauische Familie - der in der Legende besondere heidnische Wildheit zugeschrieben wird - mit polnischen und deutschen Zweigen, österreichischen und amerikanischen Nachkommen. Wohin gehören die heutigen Bourbonen genealogisch und genetisch? Franzosen, mit italienischen, spanischen und österreichischen Zweigen. 4. Bevölkerungspolitik Eine Reihe germanischer Stämme betrieb während der Völkerwanderung bewußte Bevölkerungspolitik - Goten, Gepiden und Langobarden 116 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 nahmen andere Volkssplitter auf, auch solche nichtgermanischer Herkunft (Hunnen, Sarmaten, Skythen, Alanen) - um ihre Reihen aufzufüllen. Ulfila, der Bibelübersetzer, war seiner Abkunft nach halber Alane und dabei viersprachig - er sprach Ostgotisch, Lateinisch, Griechisch und Alanisch. Die Langobarden nahmen im Friaulischen Hunnen in ihre Dorfgemeinschaften auf. Von den türkischen Chasaren Süd.rußlands - deren Oberschicht jüdischen Glaubens war, ihnen werden wir in der Ehtnogenese der Ungarn wieder begegnen - wird berichtet, daß sie andere Volkssplitter, wohl Alanen und Skythen aufnahmen. Besonders den Alanen begegnen wir in verschiedenen Ethnogenesen - bei den slawischen Anten, die in der rumänischen, aber auch in der bulgarischen Ethnogenese eine Rolle spielen; bei Goten und Chasaren und endlich den Slawen, besonders den Ukrainern. Endlich haben die Hunnen, im Kern türkischer Herkunft, sich nicht gescheut, andere Völker und Volkssplitter aufzunehmen: Tungusen, Mongolen. Dabei ist historisch zwischen Assimilierten, Untertanen etc. kaum zu unterscheiden. Bekannt ist, in welchem Ausmaße der Hof Attilas von Goten unterwandert war, was ja bewirkte, daß Attila als Friedensfürst unter den Namen Atli in die nordische, als Etzel in die deutsche Sage geriet. 5. Frauen als Kriegsbeute Die römische Legende vom Raub der Sabinerinnen widerspiegelt eine alte Praxis, eine ethnologische Wirklichkeit, wobei der Raub vielleicht nicht so wörtlich genommen werden darf. Die lateinische Urgruppe, die sich durch Exilanten, Exilierte, Asylsuchende vermehrt hatte, war gewiß einseitig strukturiert - ein Überschuß an jungen, heiratsfähigen Männern. So kann es vorher zu gewissen Verständigungen zwischen den jungen Männern und Mädchen der Sabiner gekommen sein. Noch heute führen wir den Brautraub als ein vergnügliches Spiel bei einer Hochzeit durch. Die Mutter des künftigen Dschengis-Khan, die als Verlobte Tschiledüs von diesem ins heimatliche Lager gebracht wird, fällt Jesügei in die Hände; obwohl Ölün-eke Braut eines anderen Steppenhäuptlings ist, entführt sie Jesügei und zeugt mit ihr den künftigen Dschengis-Khan, dessen persönlicher Name Temudschin war. (34) Frauenraum war innerhalb verwandter oder unverwandter Stämme und Gruppen weit verbreitet, wie bei sibirischen Stämmen. (35) Prärie-Indianer übten denselben Brauch; gelegentlich erbeuteten sie auch weiße Frauen, die oft so sehr zu "Indianerinnen" wurden, daß sie ihre Muttersprache nicht mehr sprechen konnten. (36) 117 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 6. Ein Sonderfall: die Paraguay-Ehe Nach den wirklich männermordenden Kriegen des 19. Jahrhunderts (37) blieben weniger als 30.000 zeugungsfähige Männer auf dem Gebiet des heutigen Paraguay zurück, wobei Knaben über 15 Jahren schon mitgezählt sind. Mit stillschweigender Duldung der Kirche und der Behörden durften die überlebenden Männer mehrere Frauen haben, meist geraubte oder wenigstens entführte Guarani-Indianerinnen. Damit gelang es, die Bevölkerung bis zum 1. Weltkrieg annähernd wieder auf den Stand des Jahres 1850 zu bringen. Dies veränderte den wesentlich spanisch-iberischen Charakter der Bevölkerung beträchtlich, so daß. die heutigen Paraguayanos als eine europäisch-indianische Mischgruppe anzusehen sind, in der die indianischen Züge anthropologisch überwiegen, was in gewissen Gegenden durch Einströmen deutscher Siedler wieder aufgehoben wurde. Sehr viele Paraguayanos sind daher zweisprachig - sie sprechen Spanisch und Gunarani. (38) 7. Die polygame Patriarchal-Gruppe Unter den verschiedenen Arten der Polygynie - der gerontokratischen Polygynie (alte Männer heiraten die jungen Mädchen des Stammes oder reservieren sie jedenfalls für sich) und der Leviratspolygynie (Witwer oder Ehemänner der männlichen Verwandtschaft heiraten überlebende Witwen, besonders des Bruders, besonders wenn die Ehe kinderlos war) - ist nur die Harems-Polygynie ethnogenetisch bedeutsam. Sie war im Falle der Gruppe um Abraham für die jüdische Ethnogenese der entscheidende Anstoß, zusammen mit einem religiösen Faktor. Daneben kann die Harems-Polygynie - mit späterer Entlassung der Harems-Frau, wenn sie den erwünschten Sohn geboren hat - auch eine . außerordentliche politische Bedeutung haben, wie die noch gegenwärtig herrschende Praxis in Saudi-Arabien beweist; durch sie wurden praktisch alle Stammeshäuptlinge Saudi-Arabiens zu Verwandten und Verschwägerten der königlichen Familie; außerdem kann die Familie über Hunderte von Söhnen gebieten, die alle führenden Stellen einnehmen. Das Besondere aber, das der Entstehung des jüdischen Volkes, d.h. seiner Kerngruppe zugrunde liegt, ist das Zusammentreffen eben zweier Faktoren: eine religiös gebundene Gruppe - im wörtlichen Sinne des Wortes, denn Abrahm schloß ja seinen "Bund" mit Gott (39) und sonderte seine Gruppe von den übrigen Aramäern ab. So formte der "schweifende Aramäer" mit Gefolgsleuten, Frauen, Konkubinen, Sklavinnen, Assimilierten in wenigen Generationen ein Volk, was nachträglich in seinen Namen hineingedeutet wird - Abraham, "Vater der Menge", nämlich Stammvater zahlloser Nachkommen. Biologisch komplementieren sich 118 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 zwei Faktoren, einerseits kommt es durch die Absonderung zu lnzuchtTendenzen, die aber durch die Aufnahme fremder, der Gruppe näher oder ferner oder gar nicht verwandter Menschen, wohl meist Frauen, wieder aufgehoben werden. Sklavinnen, die in den Verband eintreten, haben ihrem Herrn auch sexuell zu dienen - ein akzeptiertes Schicksal - aber gerade dies hat seine soziale Seite, denn sie steigt sozial auf, besonders wenn sie einen Sohn geboren hat. Dazu muß bemerkt werden, daß die beginnende Jahwe-Religion auch missionierenden Charakter hatte, was bis zur Zerstörung des Tempels der Fall bleibt. (40) Daß nur innerhalb der Sippe geheiratet werden darf, entstammt sicher nachträglicher Redaktion und bezieht sich nur auf die eigentlichen formellen Verbindungen, sicher nicht auf die Verbindungen mit Sklavinnen und Konkubinen. (41) 8. Religiöse Inzuchtgruppen Religiöse Inzuchtgruppen gibt es natürlich auch außerhalb der jüdischen Ethnogenese. Es handelt sich um Gruppierungen, die mehr oder weniger auf dem Wege zur Volkwerdung sind oder waren. Hierher gehören die Hutterer, eine Gruppe deutsch-sprachiger Wiedertäufer (Deutsch wenigstens als liturgische und als Sprache des Gottesdienstes), besonders die Kanadas, die sich, obwohl reine lnzuchtgruppe, von wenigen hundert Mitgliedern auf mehr als 40.000 vermehrt haben. Bei ihnen zeigen sich die lnzuchtfolgen in einem starken Anteil Schwachsinniger, die allerdings nicht in Anstalten abgeschoben, sondern brüderlich mitgeführt werden, mit den Arbeiten beschäftigt, die sie gerade leisten können. Gerade die Verfolgung, der die Hutterer lange Zeit ausgesetzt gewesen sind, schweißte sie zusammen. Heute sind sie eine Gruppe, die sich auf dem Wege zur Volkwerdung befindet. (42) 9. Die Mormonen als Beispiel und Gegenbeispiel Sie stellen eine religiös bestimmte Gruppe dar, deren - ihnen wohl selbst nicht gänzlich bewußter - Weg zur Volkwerdung unterbrochen wurde, gerade weil die Verfolgung und die Diskriminierung aufhörten. Hätten diese angedauert, wären sie auch aus ihren endlich gewonnenen wüstenhaften Sitzen im Staate Utah vermutlich nach Kanada ausgewichen und dort zu einem Volkstum eigener Art, aber englischer Muttersprache geworden. So aber blieb, trotz langer Verfolgung, der Gesamtzusammenhang mit dem Amerikanertum der USA erhalten. Dabei betrieben sie bewußte Bevölkerungspolitik, indem einzelnen, übrigens sonders geprüften und ausgewählten Mitgliedern, die mehr oder weniger geheime Mehrehe erlaubt wurde, die natürlich in Visionen Brigham Youngs sanktioniert war, aber in Wirklichkeit weit weniger Alttesta- 119 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 metarisches wiederherstellen, sondern die Gruppe zahlenmäßig und abstammungsmäßig festigen sollte. Auch nach ihrer offiziellen Abschaffung ( 43) besteht die Polygamie in kleinen Gruppen insgeheim fort. ( 44) Geistesgeschichtlich stellt sich die mormonische Grundlehre - daß die Indianer Nachkommen ausgewanderter Israeliten seien und die Offenbarung auch auf dem amerikanischen Kontinent erfolgte - als eine Übertragung der Anglo-Israelite-Theory dar, die ja behauptet, daß die verlorenen zehn Stämme im Westen, in den Engländern oder Iren überlebt hätten. (45) 10. Eine Zufallsgruppe: die Melungeons Tennessees Ihr Name ist wohl auf frz. "melange" Mischung zurückzuführen. Sie sind nicht die einzige Zufallsgruppierung auf dem Wege zur Ethnogenese, deren Ursprung nicht aufgeklärt werden konnte oder deren Angehörige entweder selbst nichts über ihre Ursprünge wissen oder phantastische Behauptungen darüber vorbringen. Die Melungeons entsprechen den Weromos and Renabees Virginias, den Rivers North Carolinas. Anders steht es, was die Ursprünge betrifft, mit einer sozialen Randgruppe des oberen New York (Staat), den sogenannten Jackson Whites. Alle diese Gruppen wären, wenn sie die nachkommende Siedlung nicht überrollt hätte, zu eigenen kleineren oder größeren Ethnien geworden - ausgenommen die Jackson Whites, die infolge ihrer kriminellen Anfälligkeit bekannt sind. Sie stammen von jenen insgesamt 3.500 britischen Straßenmädchen ab, die für die britischen Truppen während des Unabhängigkeitskrieges nach Amerika geschickt wurden. (Später schickte man, nach der Abtrennung der USA, derlei Damen nach Australien, wo sie sehnsüchtig von den "convicts" erwartet und oft schon auf dem Kai geheiratet wurden. So mancher Australier stammt nicht nur von einem "convict" ab, sondern · auch von einem "woman of trade" - wobei er nur die erstere Abstammung zugeben wird, die fast ein Ehrentitel geworden ist.) Nachdem die nach Amerika verschifften "Damen" ihre Dienste geleistet hatten, wurden sie von Leuten niedrigen sozialen Standes und niedrigsten Bildungsgrades aufgeheiratet. Sie heißen übrigens nach dem Unternehmer, der sie auf uralten Schiffen, wahren Seelenfängern, in die Neue Welt brachte, wobei sich in Westindien entlaufene Sklavenmädchen anschlossen, so daß die Bezeichnung Jackson Whites vermutlich ein Euphemismus oder eine Tarnung ist. Die Melungeons - deren Zahl wird mit 7-10.000 Köpfen angegeben - siedelten in der später so benannten Hancock County und wurden um 1700, als die ersten Pioniere schottischer Herkunft bis dorthin vorgedrungen waren, schon vorgefunden. (46) Den Indianern waren sie schon früh, 120 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 um 1600 bekannt. 1795 wurden sie als nicht-weiß, aber als gemischte freie Neger klassifiziert; 1834 wurde ihnen das Wahlrecht entzogen und der Besuch "weißer" Schulen verboten. Sie zogen sich in die Hügel zurück und entwickelten zwei typische Berufszweige neben ihrer etwas sparsam betriebenen Landwirtschaft: sie destillierten Schnaps und machten kleine Falschmünzereien auf - ihre Münzen sollen ausgezeichnet gewesen sein - und entwickelten sich zu heimlichen Viehdieben. Die Melungeons selbst, die z.T. dunkelhäutig, aber nicht eigentlich negroid sind, halten sich für Weiße und nennen sich selbst "Portergheezers", worin man leicht "Portuguese" erkennt. Sie sind vermutlich eine Mischung gestrandeter portugiesischer, vielleicht auch spanischer Matrosen, die sich mit Überlebenden von Sir Walter Raleighs verschwundener Kolonie Roanoke (Raleigh 1552 - 1618; Roanoke 1585 - 1586) vermischten, wobei sie bald auch ausgestoßene Indianer und später entlaufene Negersklaven aufnahmen. Ihre Sprache erwies sich als Mischung von Portugiesisch und Englisch mit einigen unaufgeklärten Bestandteilen, aber die Art ihrer Namensgebung scheint vom Walisischen beeinflußt zu sein! Die Frau des Jack Collins ist nicht Mary Collins, sondern Mary Jack, der Sohn heißt Tom Jack etc .. Vielleicht ist also eine gewisse Beimischung gescheiterter walisischer Seeleute anzunehmen - keinesfalls aber, wie ein phantasievoller Kopf meinte - sind die Melungeons Reste der Fahrt des walisischen Häuptlings Madoc (47), der 1170 mit zwei Schiffen und dreihundert Mann nach Westen aufgebrochen und nie zurückgekommen sein soll. Die Religion der Melungeons hatte unbestimmt katholische Züge, so gab es eine gewisse Verehrung des Kreuzes. Ihre Gesichtszüge werden als "lateinisch", also romanisch beschrieben. Ihre Familiennamen - Sylvester, Bragen - erinnern an Portugiesisches. Zur Zeit sind sie im Aussterben begriffen, da die jungen Leute in die Städte gehen und sich amerikanisieren. Heute leben noch "echte" Melungeons in Newan Ridge, die man Ridgmanites nennt, ferner in zwei Dörfern des östliche Tennessee, Snake Hollow und Mulberry Cap, östlich der Stadt Sneedville. ( 48) Eine phantastische Theorie macht sie zu Nachkommen der Karthager. Der umstrittene Stein von Bat Creek - 1886 gefunden, nun in der Smithsonian Institution - wurde von Cyrus H. Gordon "gelesen" und als semitisch bestimmt. Die Inschrift soll angeblich "Für das Land von Juda" lauten und würde eher auf irrende Hebräer hindeuten und das Herz der Mormonen erfreuen. Nach Cyrus H. Gordon sind die Melungeons also Semiten, keinesfalls Nachkommen der Portugiesen oder der verschwundenen Gefolgsleute Heman de Sotos (1500? - 1542). Nun, Gordon hat einen Semitenkomplex und liest jeden Kratzer als Semitisch. (49) Wie immer die Melungeons entstanden ~d, mit ihnen kann man 121 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 eine rezente Gruppe studieren, die durch Zufall zusammengewürfelt wurde, zu einer Art Quasi-Volk wurde und sich jetzt, angesichts des übermächtigen Drucks d~r anglosächsisch-amerikanischen Zivilisation in voller Auflösung befindet. In ungestörter Isolation belassen, hätten sie, vermutlich durch weitere Assimilation und unter straffer Führung, vielleicht durch weiteren Zulauf von Negern, Indianern und gelegentlichen Weißen, ein neues Ethnos bilden können. 11. Zur Zufallsgruppe Diese Erscheinung ist häufiger als man denkt. Sie bekam schon im vorigen Jahrhundert durch den Brasilienreisenden C.F.P. v. Martius (50) den Namen "Colluvies gentium", Volksentstehung durch zufälligen Zusammenschluß Entlaufener, Ausgestoßener, Gescheiterter, wozu ja auch bewußtes oder unbewußtes Asylangebot kommen, wie im Falle des alten Rom oder in Berggebieten und Dschungeln. Ein bekanntes Beispiel sind die Buschneger Guayanas, entlaufene Negersklaven und deren Nachkommen, die, oft zusammen mit versprengten Indianern, neue Volkstümer bildeten, die übrigens relativ viele sprachliche Relikte afrikanischer Herkunft aufweisen. Martius kam mit Indianerstämmen in Berührung, die zunächst einheitliche Stämme schienen, sich aber bei näherer Kenntnis als Zufallsbildungen erwiesen. Sie bestanden aus Angehörigen verschiedener Stämme, mit verschiedenen Sprachen oder Dialekten, verschiedenen Gewohnheiten; hier sehen wir sogenannte "Banden" auf dem Wege der Volkwerdung. Man glaubte dies Martius nicht, befangen, wie man in romantischen und pseudoromantischen Vorstellungen war; dabei waren die Buschneger schon wohl bekannt. (51) Mühlmann bringt zusätzliches Material, so die Seminolen Floridas, deren Name (aus dem Muskogee) schon an sich "Entlaufene" bedeutet, die sich aus einer prägenden Muskogee-Gruppe, anderen Indianern, Negern, aber auch vereinzelten Weißen, besonders Spaniern, zusammensetzte. In ihren einstigen Sitzen in Oklahoma boten sie systematisch entlaufenen Negersklaven Asyl, bis man sie nach Florida vertrieb, wo sie in den Sümpfen der Everglades noch heute ein relativ isoliertes Leben fristen, z.T. katholisch geworden, mit spanischen Bräuchen - die Frauen tragen z.b. lange bunte Röcke im spanisch-zigeunerischen Stil. Zur Zeit wird ihr Lebensraum durch Trockenlegung von Sümpfen stark bedroht, so daß zahlreiche Seminolen gezwungen sind, in den Städten als Tagelöhner zu arbeiten. Auch das römische Clientel-System mag auf eine solche zufällige Bildung zurückgehen, derart, daß Vogelfreie, Entlaufene, die in der römi- 122 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 sehen Urgeschichte überhaupt eine große Rolle spielten, gekennzeichnet durch das Hüllwort "Wölfe" sich einer gens anschlossen, deren patronus oder princeps ihnen Landlose zuteilte. (52) Mühlmann nennt noch eine Reihe von Turkstämmen, die derlei Zufallsanfänge hatten, so die Karagassen und Korbalen Zentralasiens. Er nennt aber auch die Krimtataren; bei diesen allerdings sind die Verhältnisse verwickelter als es bei Mühlmann erscheint, denn die Krimtataren sind keinesfalls nur ein Zufallsstamm. Ihr Kern bestand als Mongolen, die Nachkommen der Gefolgsleute der Goldenen Horde waren. Mit ihrer führenden Familie, den Giraj - Nachkommen von Dschingis-Khans Enkel Batu - zogen sie auf die Krim. Dem Testament des Großkhans gemäß wurden den einzelnen Nachkommen nur relativ geringe Detachements eigentlicher Mongolen zugeteilt, meist ohnedies lose Verwandtschaftsgruppen, so daß diese sehr bald von den viel zahlreicheren türkischen Hilfstruppen unterwandert wurden und sich so ziemlich rasch türkisierten. Dies ist auch der eigentliche Sinn des Wortes Tatar (53). Zu dieser türkisierten Gruppe stießen andere Volksreste, Chasarenreste, Tungusen, Alanenreste, entführte Frauen, besonders Slawinnen und endlich Reste der Krimgoten. (54) Gelegentlich konstituieren sich derlei zusammengewürfelte Gruppen Entflohener und Geächteter als räuberische Banden, ohne es zu einem eigenen Volkstum oder eigener Sprache zu bringen; ein bekanntes Beispiel sind die Uskoken, die dalmatinischen und istrischen Seeräuber kroatischer Zunge, die aus entlaufenen Serben und Kroaten bestanden. Nachdem Venedig sie endgültig niedergerungen hatte, gingen sie in der kroatischen Küstenbevölkerung restlos auf. Noch erkennt man die einstigen Uskokensiedlungen an der Ausgesetztheit oder Unzugänglichkeit ihrer Lage. (55) 12. Aufstiegsassimilation und Umvolkung Im Prozeß der Umvolkung, wie sie für die Tataren charakteristisch ist, kann auch ein soziologischer Faktor eine Rolle spielen, nämlich die von Mühlmann so benannte Aufstiegsassimilation: man assimiliert sich einem anderen Volkstum, weil es politisch, wirtschaftlich, religiös mächtiger ist, bis zum völligen Wechsel der ethnischen und sprachlichen Selbstzuordnung. Dies ereignet sich sehr viel häufiger als gemeinhin ins Bewußtsein dringt, ganz einfach deshalb, weil die betreffenden Familien oder Personen gewöhnlich darüber schweigen, ja den Nachkommen die eigentliche Herkunft bewußt verschwiegen wird. Woher sonst etwa kämen die zahlreichen Bukovina-Deutschen mit polnischen und ukrainischen Familiennamen? Die Baltendeutschen mit russischen, estnischen, polnischen, ja tatarischen Familiennamen? 123 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 Wir können diesen Vorgang vielfach beobachten: Berber, die sich arabisieren und mit der kompensierten Aggression des "Umgekehrten" fanatische Araber werden; Lasen und Kurden, die zu fanatischen Türken werden; Elsässer als französische Patrioten. Der Prozeß der Aufstiegsassimilation war auch ein wesentlicher Faktor in der Romanisierung des römischen Reiches und damit in der Entstehung der romanischen Sprachen: ohne Kenntnis des Latein kein sozialer Aufstieg, keine geschäftlichen Erfolge, keine Beamtenstellung, kein Militärdienst, geschweige denn Aufstieg in den Legionen! Dies betrifft ebenso die Russifizierung sibirischer Völker wie die Hinduisierung zahlreicher indischer altvölkischer Gruppen. In vielen Fällen geschieht dies durch "Hinaufheiraten" - Heirat als eine Form des sozialen Aufstiegs. Frauen heiraten Männer überlegener Gruppen anderer ethnischer Herkunft: Malaienfrauen, die Kolonialchinesen Indonesiens oder der malayischen Staatengruppe heiraten, deren Kinder aber bewußt chinesisch erzogen werden. Dabei kann sich dieser Prozeß potenzieren: die Malaienfrauen können ihrerseits schon Nachkomminnen altmalaischer Frauen sein, die von Malaien geheiratet wurden. Dies kann so weit gehen, daß sich die ethnische Identität einer Führungsschicht verändert - so heirateten Mangbattu stets Frauen aus den unterworfenen Stämmen, bis sie diesen auch ethnisch glichen. Zur Aufstiegsassimilation gehört auch, gleichsam als Vorstufe, die Lage, die durch ein doppeltes Bewußtsein gekennzeichnet ist. Hierher gehört der typische Ungarndeutsche, besonders aus den alteingesessenen deutschen Dörfern westlich Budapests, der, obgleich er zuhause Deutsch spricht, fanatischer nationalistischer Magyare ist. Es ist bekannt, daß die burgenländischen Kroaten besonders bewußte und treue Österreicher sind, unbeschadet ihrer nichtdeutschen Muttersprache und kroatischen Volksbewußtheit. Aber aus einer solchen Lage heraus vollzieht sich die Aufstiegsassimilation sehr leicht - man vergleiche die vielen Burgenländer mit kroatischen oder ungarischen Namen, die weder Kroatisch noch Ungarisch sprechen können. Komplizierter wird der Fall der Ladiner Südtirols - die nicht nur ihr Ladinisch sprechen, sondern auch Deutsch, aber dieses in zwei Varianten: Dialekt und Hochdeutsch, daneben auch Italienisch; sie selbst aber sind grundsätzlich Ladiner, die Deutsch als Kultursprache sprechen und sich den deutschsprachigen Südtirolern zugehörig fühlen, Oder man denke an viele Dänen Südschleswigs, die zugleich dänisches und deutsches Bewußtsein haben - mit der Umkehrung im Falle der Deutschen Nordschleswigs. 124 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 IV. Einige konkrete Beispiele der Ethnogenese a) Das Baskische und die Basken Jedermann weiß - oder glaubt doch zu wissen - daß die Basken ein isoliertes Relikt des voridg. Westeuropa sind, das sich in den westlichen Vorbergen der Pyrenäen beiderseits des Hauptkammes, bis auf unsere Tage erhalten hat; wir finden noch eine knappe Million Sprecher, die sich auf fünf - oder wenn man die Unterteilungen der Dialekte mit berücksichtigt - acht verschiedene Dialekte verteilen, die untereinander nicht immer verständlich sind. Wir finden aber eine bedeutend größere Anzahl von französischen und spanischen Staatsbürgern, die sich selbst als Basken bezeichnen, ohne mehr als bloß ein paar Brocken Baskisch zu können; dies gilt auch für die nach Hunderttausenden zählenden Nachkommen ausgewanderter Basken in den lateinamerikanischen Ländern spanischer Zunge. Wir finden zahlreiche Spanier mit baskischen Namen, Unamuno, Echegaray, Ibaruri; wir finden bis in die Ebro-Ebene hinab baskische Orts- und Flurnamen, wo heute kastilisches Spanisch oder Katalanisch gesprochen wird; dasselbe gilt für Südwestfrankreich, wo dem Baskischen analoge oder doch sehr ähnliche Sprachspuren wohl auf das schwer faßbare Aquitanische zurückgehen. Seit Beginn des vorigen Jahrhunderts finden wir eine romantisch bestimmte Beschäftigung mit den Basken und dem Baskischen, von der Stimmung oder Meinung ausgehend, dclß man in ihnen, ihrer seltsamen, an keine andere Sprache anzuschließende Sprache, in ihren Gebräuchen, ja in ihrem anthropologischen Befund, ein "Urvolk" vor sich habe. Jacquetta Hawkes läßt in ihrem köstlichen Roman "Providence Island" (56) die Bewohner des Inneren einer schwer auffindbaren Vulkaninsel des Pazifik reines Baskisch sprechen, so daß sich ein Mitglied der Expedition mit ihnen verständigen kann, denn sie wanderten, eine Rasse schöner Cromagnoiden mit Megalithkultur, in den Pazifik aus. Seit Wilhelm v. Humboldts groß angekündigter Abhandlung über das "Vaskische" (57), die allerdings über eine Reisebeschreibung mit etwas Statistik nicht hinauskam und nie vollendet wurde, und Humboldts späterer Abhandlung über die Urbewohner Spaniens (58) riß die Beschäftigung nicht mehr ab, der sich allerdings auch Phantasten und Schwarmgeister widmeten. Seit Humboldt wurde viele Male versucht, das Baskische an eine andere Sprache, einen anderen Sprachstamm anzuschließen, wobei meist Wortschatzgleichungen, seltener Strukturelles die Grundlage bilden. Humboldt selbst hielt Baskisch für fortlebendes Iberisch, eine Meinung, die noch immer nicht ganz ausgestorben ist. Es ist fast erheiternd auf die Fülle der Anschlußversuche zu blicken, 125 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 wobei der Verfasser keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt - damit ließe sich leicht ein mittlerer Band füllen. Hans G. Mukarowsky (59) findet, daß es enge Beziehungen zu den Mande-Sprachen gäbe, besonders zum Songhai bestünden "enge" strukturelle und wortschatzmäßige Beziehungen. Die Arbeit leidet - wie viele Arbeiten dieser Art - an grundsätzlichen methodischen Schwächen: zum ersten wird die Rolle des Zufalls unterschätzt oder überhaupt nicht gesehen (60); zweitens wird das Baskische mit einer Reihe von Mande-Sprachen verglichen, während doch allein ein strikter Vergleich zwischen Baskisch und Songhai etwas erbringen könnte - einer Sprache, wobei allenfalls ein gemeinsames Substrat und Lehnwortbeziehungen herauszuheben wären; und drittens werden stützende Beweise aus anderen Bereichen - Geschichte, Archäologie - nicht herangezogen. Auf dieselben Gedankengänge kommt Mukarowsky später in modifizierter Form zurück, worin er die Möglichkeit der Beziehungen zwischen Baskisch und Berberisch untersucht. (61) Er nennt Hugo Schuchardt und Dominik J. Wölfet als Hauptvertreter der Ansicht, daß zwischen Baskisch und Berberisch Beziehungen bestünden, die mindestens ein gemeinsames Substrat voraussetzen. (62) Mukarowsky meint sogar, "die Beziehungen sind wesentlich enger, als man bisher wahrhaben wollte". (63) In einer bedeutend späteren Arbeit (64) findet Mukarowsky die These von der genetischen Verwandtschaft zwischen Baskisch und Berberisch erhärtet, wobei er hauptsächlich Schilch (Schlöch), Beraber und Rifai für Berber, die Dialekte von Labourdin und Navarra für das Baskische benützt. Eine andere Gruppe von Forschem tritt für Verwandtschaft mit den kaukasischen Sprachen ein. Hier ist besonders Karl Bouda (65) zu nennen. Boudas Arbeiten leiden darunter, daß mit dem Baskischen eine ganze Reihe kaukasischer Sprachen verglichen wird, deren gegenseitige Beziehungen ja ihrerseits voll ungelöster Fragen stecken; am ehesten scheint sich noch eine Beziehung zum Georgischen zu ergeben. Für Antonio Tovar (66) gelten die baskisch-kaukasischen Beziehungen als gesichert. Methodisch ist da allerlei einzuwenden: so müßte die westliche Gruppe der kaukasischen Sprachen (Georgisch, Chewasurisch, Swanisch, Lasisch, aber auch Adighe-Tscherkessisch, Abchasisch etc.) auf ein gemeinsames Substrat untersucht und dieses rekonstruiert werden; erst dieses rekonstruierte Substrat - dabei kann es sich größtenteils wohl nur um Wortschatzgleichungen handeln - könnte dann mit dem Baskischen verglichen werden, wobei beiderseits die Lehnwörter, Onomatopoetika, Elementargebilde auszuschalten wären; mit all den Fehlerquellen, die einer solchen Rekonstruktion per se anhaften, obgleich man sie unternehmen muß. Georges Dumezil ist da vorsichtiger; er bezieht nur die nordwestkaukasischen 126 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 Sprachen ein. (67) Schuchardt zeigt in einer späten Arbeit, in der er Nubisch und Berberisch vergleicht, (68) wie man methodisch vorgehen muß und wie man dabei auch bei kaum verwandten Sprachen Verwandtschaft "erweist". Dabei geht auch Schuchardt nicht auf die Tatsache ein, daß auch in seiner Arbeit nicht Sprache für Sprache verglichen wird - sondern zwei Dialektgruppen miteinander oder noch genauer: eine Gruppe miteinander verwandter Dialekte mit einer Gruppe von Sprachen! Ins Phantastische läuft Joseph Karst aus. (69) Bleichsteiner bemängelt dazu mit Recht, (70) daß Karst die Arbeiten Nikolaj Jakowlewitsch Marrs (1864 - 1934) zur sogenannten "Japhetitologie" nicht kenne, denen Bleichsteiner selbst anhängt. Freilich laufen auch Marrs Ansichten - der die Kaukasussprachen und die altkleinasiatischen und ägäischen Sprachen nebst Etruskisch und Pelasgisch für das "dritte Element" neben Indogermanisch und Semitisch hält - ins Phantastische aus. (71) Bleichsteiner hält die Beziehungen zwischen Baskisch und Kaukasisch für isoliert, was wohl zufällig heißen wird. Immerhin anerkennt Karst, trotz seiner schwerfälligen Ausdrucksweise - und der absurden Theorie von den beiden Atlantis in Libyen und Zentralasien - daß es so etwas wie ein mediterranes Substrat gibt, was ja auch Marr voraussetzt, für den dies ein teil des japhetitischen Sprachstammes ist. Immerhin können die Vertreter der kaukasisch-baskischen Beziehungen mit einigen Wortgleichungen aufwarten, die nicht ohne weiteres als zufällig erklärt werden können. (72) Auf der anderen Seite hingegen spricht sich Löpelmann, (73) m.E. mit unzureichender Begründung, gegen jede Beziehung zwischen dem Baskischen und dem Kaukasischen aus, wie immer man sie sich vorstellen mag. Löpelmann geht vom Dialekt von La Soule im französischen Baskenbereich aus - er hält ihn für den altertümlichsten - und findet Analogien zu den Berbersprachen; er nennt das Baskische eine "agglutinierende Schwester der Hamitensprachen". Wie die Berbersprachen haben es auch die Sprecher des Baskischen zu keiner gemeinsamen Hochsprache gebracht; trotz einer sehr großen Zahl von Lehnwörtern - mehr als die Hällte des baskischen Wortschatzes! - hat das Baskische seine Struktur gewahrt. Für Löpelmann sind Basken und Iberer unzweifelhaft verschiedene Völker, auf keinen Fall seien die Basken als direkte Iberer-Nachkommen anzusehen; dabei seien die ursprünglich iberischen Wörter im Baskischen sicher zahlreich, im einzelnen aber, beim Mangel an iberischen Schriftquellen, die uns mehr als ein paar Eigennamen böten, schwer greifbar. Der Name der Iberer ist nach Löpelmann als phönizisch anzusehen und bedeutet die "Jenseitigen", die "drüben Wohnenden"; dazu stellt er, sicher mit unrecht, den Namen der Hebräer (habiru). Die Iberer im Kaukasus - als deren Nachkommen man heute die awaro-lesghischen Völkerschaften ansieht - 127 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 sind mit den hispanischen Iberern nicht identisch, aber aus derselben Wortwurzel benannt, worin man diesmal Löpelmann folgen kann; der Name der kaukasischen Iberer dürfte wirklich aus semitischem Munde stammen. Für Löpelmann ist das "Urbaskische" eine ursprünglich hamitische Sprache, die aus Afrika kam; seine nächsten Verwandten seien das Guanchische, das Berberische, das Haussa, die nilotischen Sprachen, das Masai, das Somali, das Galla. (74) Kann man darin Löpelmann vielleicht noch folgen - abgesehen von den nilotischen und den danach aufgezählten Sprachen - so sind Berührungen mit dem Sumerischen, das schon für alle möglichen Anknüpfungen her halten mußte, höchst zweifelhaft; ebenso die aus gewissen Strukturanalogien aufgrund einer veralteten genetisch gemeinten Typologie der Sprachen gefolgerten und geforderten Beziehungen zum Finnisch-Ugrischen (womit die französische Sprachwissenschaft gerne operiert, bis in die Schulbücher hinein) und Mongolischen, wie sie auch Prinz Bonaparte verficht. (75) Eine Sprache teilweise agglutinierenden Typs ist deshalb noch lange nicht finnisch-ugrisch! Mit Recht sagt Löpelmann, daß die Erforscher der Kaukasussprachen nicht beliebige Einzelwörter verschiedener Sprachen miteinander vergleichen sollten, sondern einmal versuchen sollten, das auszuscheiden, was in ihnen an gemeinsamen Lehnwortgut vorhanden sei. Dies erweitert sich zu der Forderung, man solle zunächst einmal ein gemeinsames westkaukasisches Substrat zu identifizieren versuchen, von dem aus dann ein Vergleich möglich sei. M.E. geht Löpelmann zu weit in der Feststellung lateinischer Entlehnungen; manches davon geht eben doch eher auf ein gemeinsames Substrat oder Zufallskonvergenz zurück. Als Kuriosität sei die Arbeit N. Lahovarys erwähnt, der das Baskische mit den Drawida-Sprachen zusammenbringt und dem Sumerischen. (76) Hermann Berger wollte Beziehungen zum Burushaski herstellen, der isolierten Sprache der Hunzukut in Kaschmir (Gilgit, Baltit) und zwar über die Namen einiger Kulturpflanzen, was nicht glückte. (77) Das heißt wahrscheinlich ignotum per ignotum erklären wollen. Endlich sei noch einmal Bleichsteiner erwähnt, der definitive Beziehungen zwischen Baskisch und Elamisch findet, worin er auf den Spuren der Japhetitologie des schon erwähnten N. J. Marr wandelt. (78) Natürlich fand sich jemand, der Baskisch in Beziehungen zum Albanischen brachte, der schon erwähnte Lahovary. (79) Und endlich kann es nicht an Beziehungen zum Japanischen fehlen, wofür der ebenfalls schon erwähnte Karst eintritt. (80) Die Etymologien Karsts sind - bis auf geringe 128 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 Ausnahmen - Phantasiegebilde. Sonderbarerweise meint der Rezensent trotzdem, daß die japanisch-baskischen Gleichungen etwa zur Hälfte stimmen, wovon - natürlich - keine Rede sein kann. Zu allerletzt sei noch eines österreichischen Außenseiters gedacht - offenbar ein streitbarer Panslawist - der das Baskische mit dem Slawischen und, damit die Sache in "einem Aufwaschen" vor sich geht, zu allem Überfluß mit dem Altirischen. Slawen in Westeuropa! Es war dies Johann Topolov~ek. (81) Damit ist natürlich die Fülle aller behaupteten Beziehungen noch nicht erschöpft. Doch ergibt sich gerade aus einer Analyse der zahlreichen behaupteten - und einander widersprechenden! - Bezüge, Analogien, Verwandtschaften zweierlei: zum einen, daß Baskisch wirklich als wesentlich isoliert anzusehen ist, zum anderen, daß in ihm vielerlei Schichten, Mischungen, Konvergenzen stecken, womit wieder einmal gesagt ist, daß Ethnogenese ein komplexes Phänomen ist. Auch ergibt sich daraus, daß man dem Problem der baskischen Ursprünge hauptsächlich von der sprachlichen Seite beizukommen versucht, schon weil die historischen und archäologischen Quellen sehr spärlich fließen. Die antiken Quellen wissen nur sehr wenig über die "Vascones" und die sicher nahe verwandten "Aquitani". Hier begegnen wir auch einer Gefahr, bei der ethnologischen und linguistischen Analyse antiker Quellen besonders deutlich: administrative und geographische Bezeichnungen werden unversehens zu ethnischen und linguistischen! Was die Römer "Illyri" nannten, waren grundsätzlich Bewohner der Provinz "lliyricum", was sie "Raeti" nannten, ein Gemisch von kleinen Bergstämmen in den westlichen Ostalpen, mit gelegentlicher etruskischer Überschichtung - aber kein einheitliches Volkstum. Aus all dem oben Gesagten schälen sich doch einige hypothetische, wohl niemals wirklich beweisbare Anknüpfungsmöglichkeiten heraus: zu Iberern, Ligurern, Berbern über ein gemeinsames westmediterranes Substrat - auf keinen Fall sind die Basken direkte Nachkommen einer dieser Gruppen - und vielleicht doch zu einem gemeinsamen Substrat des Westkaukasischen, was aber nicht so zu verstehen ist, als sei ein Teil der "Urbasken" tatsächlich aus dem Kaukasus eingewandert, sondern es wird Berührungen (und damit Entlehnungen) mit einem westkaukasischen Stratum gegeben haben, einer Wandergruppe also, die vielleicht im Umkreis der Glockenbecherleute zu suchen ist, falls sie wirklich aus dem kaukasischen Bereich stammen, worauf ihre stark armenoiden Skelette vielleicht hindeuten. Die antiken Quellen ergeben dafür nichts; sie werden von den antiken Geographen einfach den "Bergvölkern" zugeordnet: Plinius (82) zählt am Meer beginnend folgende Stämme der westlichen Pyrenäen auf, die 129 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 Ausetani, die lacetani, die Cerretani und die Vascones. Der Name des Stammes der Calaguritani - abgeleitet von Calaguris, was ganz baskisch klingt deutet vielleicht auf eine iberische Überschichtung hin. Calagur(r)is lag im einstigen baskischen Siedlungsgebiet am oberen Ebro. Nördlich davon, die Südhänge der westlichen Pyrenäen entlangstreichend, hat Plinius (83) den "Vasconum saltus" - die Bergschluchten und Waldhügelgegend der Basken. Strabo (84) läßt sich allgemein über die rauhen Sitten, die Bedürfnislosigkeit, die Eichelnahrung und die freie Stellung der Frau aus - man denke, sie tanzt mit den Männern! Auch er spricht von den Gebirgsbewohnern, den " oreioi litoi" und hat jenseits der lacetani - also östlich davon - das "ouaskonon ethnos", das Volk der Basken. Er nennt zwei baskische Städte Pompelo, das er volksetymologisch auf Pompeius bezieht - das heutige Pamplona - und Oiasso, das heutige Oyarzun(a) . Auch die Archäologie hilft uns nur sehr beschränkt weiter. Ganz allgemein befindet sich das Baskenland im Bereich des Megalithikums und hat Berührungen mit der spanischen und französischen Megalithkultur. Es läßt sich immerhin zeigen, daß die Iberer sich erst eisenzeitlich auf Kosten der Kelten ausbreiten, was ja zur Doppeldeutigkeit des Namens der Keltiberer führte: Kelten und Iberer gemischt oder Iberer in einstigem Keltenland siedelnd - oder umgekehrt? Archäologisch wird das Baskenland keineswegs von iberischen Inventaren bestimmt, woraus wenigstens der negative Schluß zu ziehen ist, daß die Basken eben keine Iberer-Nachkommen sind. Ob nun wirklich eine Kontinuität von der paläolithisch-frankokantabrischen Kultur über die neolithische Asturiakultur anzunehmen ist, kann nicht entschieden werden. (85) Da nur sprachlich das Baskische zur Deutung iberischer Inschriften nicht ausreicht, ist auch vom Sprachlichen her eine unmittelbare Fortsetzung des Iberischen im Baskischen, wie es Wilhelm v. Humboldt μnd Hugo Schuchardt wollten, nicht anzunehmen. Immerhin ist auf einstigem iberischem Boden Überliefertes teilweise mit baskischen Mitteln zu deuten, woraus der Schluß zu ziehen ist, daß Iberisches in eine voriberische Bevölkerung einging. Viel fragwürdiger ist eine wie immer geartete Beziehung zu den Ligurern, die selbst schwer faßbar sind, da weder ihre Ausbreitung, noch ihre genauere Zuordnung und ethnische Bestimmung geklärt sind. Verliesse man sich bloß auf gewisse Übereinstimmungen der Hydronomie - ein antiker Flußname des einstigen Oberungarn, Durea (nicht genauer zu identifizieren, einer der slowakischen Nebenflüsse der Donau) läßt sich ja mit dem savoyardischen Flußnamen Dora und dem portugiesischen Duero vergleichen - so müßte das Volkstum der Ligurer von der Atlantikküste bis 130 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 nach Osteuropa gereicht haben. Dabei ist noch immer ungeklärt, ob nun Ligurisch zu den idg. Sprachen zu zählen ist oder nicht. (86) Nach Joseph Wiesner (87) sind die Ligurer, archäologisch gesehen, westmediterrane Gruppen gewesen, die durch Glockenbecherleute überschichtet wurden. Damit allein kann man sich nicht zufriedengeben; die Lösung liegt sicher in den folgenden Annahmen: Die Ligurer, die ohnedies kein geschlossenes Ethnikum dargestellt haben werden, wurden in verschiedenen, voneinander isolierten Sitzen - die Alpenligurer waren z.B. durch Keltenstämme von ihren westlichen Verwandten getrennt - auf verschiedene Weise beeinflußt; so ist für die Alpenligurer eine viel ·stärkere idg. Beeinflussung als durch die westlichen Ligurer anzunehmen. Dazu kommt das völlig ungeklärte Problem, inwieweit und wie denn nun eigentlich Ligurer und Iberer miteinander verwandt waren. Ligurer, Berber, Iberer, Guanchen, Basken werden eben in verschiedenem Maße an einem auch nicht einheitlich zu denkenden eurafrikanischen Substrat teilhaben, das vielleicht archäologisch im Capsien zu fassen wäre. Wenn wir die baskisch-kaukasischen Beziehungen ernst nehmen - ohne uns deshalb auf das Problem der kaukasischen Iberer weiter einzulassen - so ergibt sich, daß die Basken einem eurafrikanischen Substrat entstammen, das voriberisch, vorligurisch war; daß sie einmal mit einer kaukasischen Gruppe in Berührung gekommen sein müssen - und daß sie autochthon sind! Darin liegt kein Widerspruch, die Positionen las~n sich wie beim parallelen Fall der Etrusker vereinigen. Die drei Positionen in der Ursprungsfrage der Etrusker - sie kamen aus Lydien, sie kamen aus dem Norden aus den Alpen, sie sind autochthon - lassen sich vereinigen: das sprachlich maßgebende Element kam aus Lydien; ein idg. Substrat, das zuletzt auf die Urnengräberkultur zurückgeht, kam aus dem Norden - aber das Volkstum entstand erst auf italischem Boden! Für die Basken muß dasselbe gelten: Sie entstanden erst als gesondertes Volkstum in ihren historischen und heutigen Sitzen, eine Kerngruppe, die besonders die Strukturelemente der Sprache lieferte, nahm iberische, vielleicht ligurische Elemente auf, war selbst aber älter. Später kamen zahlreiche lateinische Elemente hinzu, die einen sehr alten Zustand des Vulgärlateins widerspiegeln, der vielleicht von früh romanisierten Kelten, Keltibern etc. getragen wurde. Viel später erst kommt eine geringe Berührung mit dem Gotischen hinzu - groß kann sie nie gewesen sein, denn die Bergvölker, besonders die Basken haßten die Goten - die Rolandssage widerspiegelt diesen Haß; die Guerillakämpfer, die die Nachhut eines fränkisch-gotischen Heeres angriffen, waren ursprünglich keine Mauren, sondern Basken! Die eigentliche Volkwerdung der Basken muß in den letzten vorchristlichen Jahrhunderten abgeschlossen gewesen sein. 131 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 Nach Gamillscheg (88) gehen die Basken erst zur Zeit des westgotischen Königs Leowigild (568 - 586) aus einer Verschmelzung der romanisierten Vascones - die er für Iberernachkommen hält - mit romanisierten Kantabrern - die er für Ligurernachkommen hält - hervor. Darin können wir ihm nicht folgen, weder im späten Ansatz der Ethnogenese, noch gar in ihrer Entstehung: Zwei romanisierte Volkstümer hätten in ihrer Verschmelzung Baskisch ergeben!? Die Basken sind daher, trotz allerlei Mischungen, Berührungen, Verschmelzungen, doch eigentlich autochthon; sie sind keine Ligurer, keine Iberer, keine Berber, keine fortlebenden Megalithleute - sie sind doch sui generis. (89) Eine kaukasische Beziehung könnte am ehesten wirklich über die Glockenbecherleute gelaufen sein, Gruppen von Wanderschmieden und - händlern, deren Grabinventare scharf von anderen geschieden sind, die in einer Spätform des Megalithikums z.T. "megalithisiert" wurden, deren archäologische Spuren vom Atlantik bis nach Osteuropa reichen. Restbestände "megalithisierter" Glockenbecherleute mögen also an der Ethnogenese der Basken mit beteiligt gewesen ein. (90) b) Die Haus(s)a Hier haben wir ein Gegenbeispiel - eine Ethnogenese, die sehr spät zustandekam. In den Haussa begegnen wir dem Phänomen, daß es trotz sprachlicher, ethnischer und historischer Einheit, trotz eines sehr starken Bewußtseins der Zusammengehörigkeit und der Identität, keinen politischen Zusammenschluß und keine geographische Geschlossenheit gibt. Hierfür besteht, wenigstens nach Westermann, auch kein Bedürfnis. Wir begegnen in den Haussa-Stadtstaaten einer Analogie zu antiken Mustern, Stadtstaaten mit Hinterland, die sich dennoch miteinander verbunden fühlen. Es geht hier um die sieben Stadtstaaten - Daura, Kano, Zaria, Gobir, Rano, Katsena, Biram - die nicht einmal untereinander Bündnisse geschlossen haben, also keine Amphiktyonie. Die Entstehung des Haussa-Ethnikums kann aus den Haussa-Chroniken z.T. rekonstruiert werden. Aus den legendären, halb mythischen Berichten läßt sich etwa folgendes herausschälen: ein Palästinenser, der eine führende Stellung innehatte, aber in Schwierigkeiten geriet, wanderte mit seinem Gefolge nach Libyen aus. Hier hatte er Zuzug von flüchtigen Berbern; in dieser Zeit wurden ihm fünf Töchter geboren - ein Hinweise auf gewisse mutterrechtliche Züge, die später zurückgedrängt wurden, aber noch nicht gänzlich erloschen sind. Sie heiratete einen gewissen Abuy azidi; nach anderen Berichten war sie nur die Gründerin des Stadtstaates Daura, während Abu-Yazidi, Sohn des Königs von Bagdat, wanderte mit 132 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 Gefolge in das Gebiet des heutigen oder späteren Bornu aus. Er heiratet dort eine Königstochter namens Magira - was der Titel der Königin-Mutter ist. Sein Sohn gelangt zu großem Kriegsruhm, Abu-Yazidi wird auf ihn eifersüchtig, vertreibt ihn. Er gelangt nach Daura, tötet dort eine riesige menschenfressende Wasserschlange, Daura heiratet ihn zum Dank, Von ihrem Sohn Bawo stammen die Herrscher der übrigen Haussa-Staaten ab. Wir finden hier eine Reihe ineinander verquickter Ursprungslegenden, die alle Vertreibungen, Vertriebene, Exilierte betreffen - hier verbirgt sich ein Kern historischer Wahrheit. Wir sehen eine arabische Komponente, die durch Palästina und den Irak verkörpert wird. Abu-Yazidi zeigt in seinem Namen, daß er als Religions-Flüchtling betrachtet wurde - ein Yazidi, ein sogenannter "Teufelsanbeter", der vertreiben wurde. Ein weiterer Faktor in der Ethnogenese ist Bornu: es entstand aus einem Zusammentreffen und nachfolgender Verschmelzung von schwarzhäutigen, aber europäiden Zagawa, Berbern und echten Negern. (91) Das führt zu folgendem historischen Kern: im 7. Jh. gab es zwischen Niger und Knuri eine Reihe "nigritischer" Kleinstämme - nigritisch bedeutet aus Europiden, Berbern und Schwarzaf rikanem gemischt - darunter einen kleinen, aber energischen Stamm, der Haussa hieß; dieser gewann die Oberhand. Dabei scheint es sich um bewußte Bevölkerungspolitik g~handelt zu haben: Flüchtlinge, Exilierte, Landlose, Vertriebene, Stammessplitter, Geächtete wurden aufgenommen. Weiteres sagt uns die Kisra-Legende. (Unter Kisra verbirgt sich vielleicht der sassanidische Königsname Kosrau) Kisra soll durch Kordofan gezogen sein - also eine ägyptisch-sudanische Komponente - und sein Enkel soll die gleichnamige Stadt Busa am Niger gegründet haben. Eine weitere Legende, diesmal der Nupe, will wissen, daß Leute des lsa - also wohl äthiopische Christen - die Webkunst zugebracht hätten. Daraus darf geschlossen werden, daß man Handwerkergruppen oder - stämme aufnahm, hauptsächlich Weber und Schmiede. Der Weg aus dem Osten, der die Ethnogenese symbolisiert und tatsächlich darstellt, heißt heute noch so: nämlich Darb el Arabian, "Weg der Vierzig", wobei der Zahl vierzig symbolische Bedeutung zukommt; sie verkörpert Vollkommenheit, Erleuchtung, Osten, Licht, Sieg, Heiligung. Wir haben hier Erinnerungen an einen historischen Wanderweg, der von Vorderasien über Ägypten, Libyen bis zum Tschadsee führt - teilweise nichts anderes als der alte Garamantenweg. Zu all diesen Beimischungen kommt ein Zustrom direkt aus dem Norden, nämlich abgesplitterte Berber, einschließlich von Tuareg-Gruppen. Dies alles vollzieht sich vom 7. bis zum 11. Jh. Danach strömen 133 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 exilierte Mande-Gruppen ein, die ihrerseits wiederum von starkem Berbereinfluß geprägt sind. Damit gibt es die ersten Versuche zur Staatenbildung. Der Zustrom echter und arabisierter Berber hängt vielleicht auch mit den Eroberungszügen der fatimidischen Kalifen zusammen (909 - 1171), wobei es häufig blutig genug herging; die Chronik von Katsena meldet Kämpfe mit Tuaregs. Die entstehenden Stadtstaaten zeigen deutlichen Mande- bzw. Mandingo-Einfluß, aber die Haussa-Gruppen überwiegen. Es entsteht außerhalb der Haussa-Staaten das Reich Mali, dessen Erbe Songhai wird; beide Staaten erobern Haussa-Stadtstaaten, besonders Kano und Katsena. über diese Stadtstaaten wirkt der islamische Einfluß immer stärker herein, besonders durch Händler und Missionslehrer. Vom 14. Jh. an sind die Haussa islamisiert, ohne gewisse vorislamische Bräuche aufzugeben oder gar ihre inzwischen festgewordene Identität. Die Ureinwohner von Kano, eine ursprünglich nicht Haussa-bestimmte Gruppe, waren das Schmiedevolk der Maguzawa. Hier zeigt sich das ambivalente Verhalten gegenüber den Schmieden - sie werden entweder verachtet und zugleich gefürchtet - oder genießen eine überragende soziale Stellung; dies war bei den Kano-Leuten der Fall. Sie waren so sehr geachtet, daß sich sogar der Stadtkönig als Ehrenmitglied in die Schmiedekaste aufnehmen ließ. Auch zeigte sich gerade in Kano, daß mutterrechtliche Züge stark nachwirken. Bemerkenswert ist, daß die Ful, die z.T. die Stadtstaaten der Haussa politisch beherrschten, teilweise die Sprache der Haussa annahmen; hier zeigt sich, daß eine gewisse Volksstärke, verbunden mit einem starken Gefühl der Identität und wirtschaftlicher Überlegenheit - außerdem sind die Haussa gute Administratoren - dazu führt, daß die politisch Herrschenden die Sprache der Beherrschten annehmen. Um 1400 kann die Ethnogenese der Haussa als abgeschlossen gelten. Man sieht, wie aus einem starken Kern in Verbindung mit zahlreichen Flüchtlingsgruppen, die durch Aufstiegsassimilation sich angleichen, ein Ethnikum entsteht; dabei mag auch eine bestimmte strukturelle Überlegenheit der Haussasprache eine Rolle gespielt haben. (92) c) Die Drusen In den Drusen begegnen wir einem Ethnikum, das aus einer Religionsgemeinschaft entstanden ist. Ihnen eignet ein starkes Gefühl der Identität und Zusammengehörigkeit, obgleich sie es nicht zu einer eigenen Volkssprache gebracht haben; sie sprechen, abgesehen vom drusischen Sonderwortschatz, das Arabisch ihrer Umgebung. 134 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 Sie verliehen sich einen künstlichen Stammbaum, darin durchaus arabisch; sie betrachten Jethro, den Schwiegervater des Moses, als ihre eigentlichen Stammvater. (93) Sie wollen damit einer Seitenlinie der Erzväter entstammen, gleich den Arabern, die über Hagar und deren Sohn lsmael von Abraham abstammen wollen - eine Erzählung, die ursprünglich der Diskreditierung diente, wie die parallelen Erzählungen vom Ursprung der Moabiter und Ammoniter. (94) Indem die Drusen Jethro, den Midianiter, als ihren Stammvater betrachten, sagen sie einerseits, daß sie der Heilsgeschichte zugehörig sind, andererseits aber, daß dies auf einem Umwege, außerhalb des Islams geschieht. Die Drusen sind geistesgeschichtlich gesehen eine selbständig gewordene Abzweigung der ismaelitischen Richtung, In ihren Auffassungen zeigen sich Einflüsse der iranischen Eschatologie, wie sie im iranisierten Islam umgeformt wurde. Sie betrachten Jethro auch als den ersten ihrer sieben Propheten, von denen nur der erste und letzte - der geistesgestörte fatimidische Kalif Nur el-Hakim (996 - 1021) den Uneingeweihten bekannt sind. Nur die Eingeweihten - ukkal - kennen auch den zweiten bis sechsten Propheten. Die sieben Propheten entsprechen den sieben Imamen der Siebener-Schia. In den Propheten manifestierte sich die göttliche Urkraft, besonders im Kalifen el-Hakim, dessen rätselhaftes Verschwinden im Jahre 1021 Anlaß zur Mythisierung und Sagenbildung, zur Hypostasierung gab. Die tatsächliche Stiftung geht auf einen Freund des Kalifen, ad-Darasi zurück, der aus den Kreisen iranisch bestimmter Ismaeliten Syriens kam. Mohammed ibn Ismail ad-Darasi, um ihm den vollen Namen zu geben, stammte aus einer iranischen Familie Bucharas und tauchte 1017 in Kairo auf, wo er Freund des wahnsinnigen Kalifen wurde, der z.B. Christen und Juden verbietet, überhaupt auszugehen, der Kirchen und Synagogen zerstören läßt - darunter auch die Grabeskirche in Jerusalem, was einen der Anlässe der Kreuzzüge bildet. Als ismaelitischer Missionar geschult, verkündet er den Kalifen als eine Inkarnation der Weltvernunft, wie es für Ali verkündet wurde; adDarasi überträgt also schiitisch-imamistische Gedankengänge auf den Kalifen. Dazu fügt er die Lehre von wiederholten Inkarnationen, also von der Seelenwanderung hinzu. Nachdem sich die Gruppe in Syrien, im Haurangebirge konstituiert hatte, wurde jede Mission eingestellt. Seit dem 11. Jh. stellen die Drusen, die sich nur mehr durch natürliche Vermehrung verbreiteten, eine lnzuchtgruppe dar. Die Ausgangsgruppe enthielt sicher auch nichtarabische, vor allen Dingen kurdische, türkische und iranische Elemente, zu denen sich oberflächlich islamisierte Aramäergruppen des Hauran gesellten. Diese lnzuchtgruppe, deren Basis offenbar zahlreich und vital genug war, die negativen Folgen jahrhundertelanger Inzucht zu vermeiden, brachte einen irgendwie "unarabisch" wirkenden Schlag großer, kräftiger Menschen hervor, in denen 135 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 sich vielleicht noch andere vorislamische Gruppen, nur oberflächlich bekehrt, in einer Art vorarabischen Rekombination zusammenfanden. Wir sehen in den Drusen wie aus einer Sekte ein Volkstum wird, obgleich es weder ein geschlossenes Territorium, noch einen Staat, noch eine von anderen Gruppen unterscheidende Volkssprache besitzt. (95) Der Vorgang, daß eine religiöse Gruppe zu einem Volkstum wird, ist keineswegs einmalig - Juden, Parsen sind bekannte Beispiele dafür; besonders prädestiniert hierfür sind verschiedene Wiedertäufergruppen, die sich streng von ihrer Umwelt abschließen - so die Amish-People Pennsylvaniens, die Hutterer Kanadas. (96) d) Die Rumänen Die Rumänen sind zunächst schon dadurch gekennreichnet, daß sie ohne Zusammenhang mit der westlichen und südlichen Romania sind; auch als Dacia eine Provinz des römischen Reiches war, sind die gründlicher romanisierten Daker durch einen breiten Gürtel weniger oder gar nicht romanisierter Illyrier, Thraker, Kelten von den Römern bzw. romanisierten Illyriern der Adria geschieden gewesen; von Anfang an herrschten hier isolierende Bedingungen. Nach dem Untergang der römischen Herrschaft, den Stürmen der Völkerwanderung, welche die slawische, awarische, magyarische und turko-bulgarische Landnahme im Gefolge hatte - in den sogenannten dunklen Jahrhunderten - bleibt das Romanische, das sich zum Rumänischen entwickelt hatte, isoliert, umschlossen von einer breiten Phalanx nichtromanischer, ja z.T. nichtidg. Sprachen: Ungarisch, Turko-Bulgarisch, Serbisch bzw. Kroatisch, Slowakisch, Altbulgarisch, Griechisch. Mit einigen dieser Sprachen umgreift das Rumänische den sogenannten balkanischen Sprachbund, der sich durch ein schwer einzuordnendes, aber unzweifelhaftes Substrat kundgibt, das sich im Wort- . schatz, aber auch in der Struktur deutlich zeigt: Bulgarisch, Albanisch, möglicherweise auch die nordgriechischen Dialekte einschließend, sowie Mazedonisch. (97) Die Rumänen werden unter dem Namen Blachoi (also Wlachoi, Wlachi) erst 976 von dem griech. Schriftsteller Kedrenos erwähnt. Die Form des Namens zeigt, daß die Byzantiner den Namen aus slawischem Munde erfuhren (98) (Metathesis). Noch etwas früher erwähnt die russische Nestorchronik, unter dem Jahre 890, daß die Magyaren durch das Gebiet der Slawen und Wlaken hindurchgezogen seien. (99) Hinsichtlich der frühen Geschichte des rumänischen Ethnos bzw. dessen Ethnogenese stehen sich zwei Ansichten scheinbar schroff gegenüber. Die eine Theorie besagt, die romanisierten Daker seien nach dem Rückzug der Legionen mit nach Süden über die Donau gezogen und hätten sich im heutigen bulgarischen Raum neu konstituiert und während dieser dunklen Jahr- 136 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 hunderte hätte das rumänische Volkstum in unmittelbarer Nachbarschaft der Bulgaren überlebt. Dem widerspricht die Gegentheorie, die für die Kontinuität des rumänischen Volkstums wenigstens in einem Teil der heutigen Sitze eintritt. Noch v. Wartburg hält diese Theorie, die inzwischen für erledigt gehalten wird, noch nicht für völlig widerlegt. (100) Diese Theorie schien eine Stütze dadurch zu gewinnen, daß man keine archäologischen Beweise der Kontinuität zu haben glaubte - inzwischen sind eine Reihe romanisierter dakischer Siedlungen ausgegraben worden; in Wirklichkeit gab es aber gerade auch für die Wandertheorie keine archäologischen Zeugnisse. Der alte Streit darf nun als zugunsten der Kontinuitätstheorie entschieden betrachtet werden. Die Masse der romanisierten Daker, aus denen das rumänische Volkstum entstand, blieb nördlich der Donau, auch nachdem Kaiser Aurelian 271 die Provinz Dacia hatte räumen lassen. Das bedeutet ja nicht - so wenig wie in den Ostalpen - daß die gesamte romanische bzw. romanisierte Bevölkerung abzog; wer nichts zu verlieren hatte, keine Verbindungen geschäftlicher oder verwandtschaftlicher Art zum italischen Mutterlande hatte, der blieb, richtete sich in den verlassenen Lagern oder Städten ein und wartete ab. Als Kerngebiet des entstehenden rumänischen Volkstums ist Siebenbürgen anzusehen. Als Hunnen, Awaren, Magyaren, Gepiden, Goten, TurkoBμlgaren den Balkan überrannten, flüchtete die entweder verarmte oder meist immer schon arm gewesene Bevölkerung in die Berge und nahm dort notgedrungen das Leben der Kleinbauern, Hirten, Holzfäller, Fischer und Jäger auf; die Städter und Pächter wurden zu Kleinbauern etc., was sich auch im Wortschatz spiegelt. Ein Teil der Rumänen blieb Hirten - Wanderhirten mit Transhumanz - bis zum heutigen Tage: Aromunen, Kutzowlachen, Zinzaren, Maurowlachen (Morlaken). Vom 6. Jahrhundert an begannen slawische Gruppen vom Nordosten her einzusickern; sie sind ackerbauende Gruppen, die zunächst in den bequemeren und fruchtbareren Ebenen siedeln und erst allmählich mit den wlachischen Gebirglern in Berührung kommen. Der rumänische Wortschatz zeigt, daß der Wortfeldbereich des Kleinbauern romanisch, des intensiveren Ackerbau treibenden Bereichs aber slawisch ist. Die Slawen ihrerseits, die sprachlich den Altbulgaren am nächsten standen, waren ihrerseits teilweise slawisierte Skythen, besonders Alanen, Anten genannt. Dabei könnte es sich um ursprüngliche Tscherkessen handeln, die iranisierl worden waren. Diese slawische Gruppe spielt sowohl für die Ethnogenese der Rumänen als auch für die der Bulgaren eine entscheidende Rolle - aber unter völlig anderen Bedingungen. Die im Raume der alten Dacia siedelnden Slawen werden im Verlaufe des 9. und 10. Jhs. rumänisiert, die Anten Bulgariens aber be- 137 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 stimmen durch Assimilation der ursprünglich türkischen Bulgaren das sprachliche und ethnische Schicksal Bulgariens. Während v. Wartburg den slawischen Anteil an der rumänischen Ethnogenese zu gering einschätzt, wird er von der gegenwärtigen sowjetischen Geschichtsschreibung übertrieben. Sie überbetont die slawischen Siedler, stellt sie als friedfertige und kulturell überlegene Ackerbauer hin, die den Ackerbau erst gebracht hätten und schreibt ihnen außerdem noch die Einführung des Christentums zu, wovon keine Reden sein kann, auch wenn später an der Festigung und Bewahrung des rumänischen Volkstums die christlichen Konfessionen entscheidend beteiligt gewesen sind. (102) Gerade die Sonderstellung des Rumänischen innerhalb der Romania zeigt, daß das Rumänische längere Zeit isoliert gewesen sein muß; der slawische Einfluß betraf vor allen Dingen den Wortschatz, das Morphologische in Bildungssilben. (103) So entsteht im Verlaufe des 7. bis zum 9. Jahrhunderts trotz und mit slawischer Überlagerung das rumänische Volkstum. Gerade die Bedrohung durch die slawische Überlagerung - die nicht immer nur friedfertig vor sich gegangen ist - hat gewiß die Herausbildung eines starken Eigenbewußtseins gestärkt, das auch die osmanische Bedrohung - die sprachlich bemerkenswert wenig hinterließ - nicht mehr zerstören konnte. Wie stark das Eigenbewußtsein gewesen sein muß, kann durch die Tatsache angedeutet werden, daß gerade dieses isolierte romanische Volkstum die Selbstbezeichnung Romanen nie preisgab. Die romanische Kontinuität zeigt sich gerade in gewissen Wortfeldern; so sind die Namen aller von Menschen benutzten Teile des Hauses und des Hofes romanischen Ursprungs; hingegen sind die Namen eines Teils der Tiere, besonders der Arbeitstiere slawisch. (104) Umstritten bleibt der germanische Anteil an der rumänischen Ethnogenese; er ist, was schon aus der relativ geringen Zahl germanischer Lehnwörter im Rumänischen zu schließen ist, nicht sehr hoch anzusetzen. (105) Die größte Bedrohung der rumänischen oder noch romanischen Kontinuität stellte im 5. Jahrhundert Attilas Herrschaft dar; seine Kriegszüge zwischen 442 und 447 zerstören auf dem Balkan die Reste städtischen Lebens und zwingen die Überlebenden endgültig zu anderen Wohnorten und zu anderer Lebensweise. Sie wichen ins Gebirge aus, das für Reiternomaden uninteressant und unbrauchbar war. In diesen dunklen Jahrhunderten konsolidiert sich das entstehende rumänische Volkstum in engen Gebirgstälern und auf weiten Hochweiden. Das starke Verbundenheitsgefühl, das gerade die pastorale Lebensweise kennzeichnet, trägt zur Festigung bei. Unter den balkanischen Wanderhirtenstämmen, die z.T. noch heute ihre Lebensweise fortsetzen - mit Mißfallen von den kommunistischen Behörden 138 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 betrachtet - finden wir offensichtlich analoge Verhaltensweisen, seien sie nun slawischer oder rumänischer Zunge. (106) Trotz der slawischen Wanderhirtenstämme muß das rumänische Wanderhirtentum beispielgebend gewirkt haben, da im Slowakischen, Tschechischen und Polnischen der Wanderhirte ohne Rücksicht auf seine tatsächliche ethnische Zuordnung "Wlache" genannt wird. (107) Werfen wir noch einen Blick auf das eigentliche Substrat des rumänischen Ethnos, die Daker und die ihnen nächstverwandten Goten. Sie stellen einen ziemlich geschlossenen Block dar, der im Westen der Dacia mit keltischen Stämmen - seit dem 4. Jh. v. Chr. - starke Berührungen hatte und von ihm wohl Elemente der Latene-Kultur empfing; im Osten gab es starke Berührungen mit Sarmaten und Y azygen, also iranischen Stämmen; im Südosten gab es Beziehungen zu den nahe verwandten Thrakern, im Süden Berührungen mit den etwas entfernter verwandten Makedonen, im Westen und Südwesten endlich mit Illyriern. Während die Thraker im großen und ganzen mediterran gewesen sind - was im rumänischen Volkstum bis heute durchschlägt - sind die Thraker offenbar stärker nordisch bestimmt gewesen, sonst hätte der antike Topos vom "blonden Thraker" kaum entstehen können. So kann man Peter Boev nicht recht geben, der die Thraker als mediterrandinarisch bestimmt - das gilt gerade für die Daker. (108) e) Die Ungarn Lernten wir in den Rumänen ein Volkstum kennen, das aus einem starken autochthonen Kern und einer mächtigen Assimilationsgruppe entstand, den Slawen, die romanisiert wurden, so lernen wir in den Ungarn oder Magyaren einen ethnogenetischen Prozeß sehr verschiedener Art kennen. Vollzog sich die Volkswerdung der Rumänen eher friedlich, auf heimischem Boden, so daß sie wirklich als Autochthone zu betrachten sind, so vollzog sich die Volkswerdung der Ungarn auf einem Kolonisationsboden, weit entfernt von der ursprünglichen Heimat und größtenteils aufgrund kriegerischer Auseinandersetzungen. Hatte sich das rumänische Volkstum aus dem Zusammentreffen mit einer einzigen Assimilationsgruppe entwickelt, so das magyarische aus einem Kriegerbund, dem sich viele Hilfsvölker und Volkssplitter assimilierten. Die beiden Völker, die das Schicksal in nahe Berührung brachten ohne daß es je zu wesentlichen Mischungen kam, hatten jeweils zwei Namen, die für die Geschichte ihrer Ethnogenese bedeutsam sind: die Rumänen den Ehrennamen der Romanen, aber auch den der Wlachen, einen weniger angesehenen, von ihren Nachbarn verliehenen. Auch die Ungarn tragen zwei Namen - den türkischen der Ungarn und den eigenen der Magyaren, worin sich zwei ethnische Komponenten spiegeln, die für die ungarische Ethnogenese entscheidend waren. 139 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 Der Name der Ungarn, türkisch "On Ogur", wahr wohl der Name einer wolgatürkischen Konföderation, die sich den Magyaren anschloß. Die Bedeutung ist an sich klar: "on ogur" heißt "zehn Pfeile", aber was war damit gemeint? Gewiß eine Gruppe von zehn Stämmen - aber waren dies nur die türkischen Stämme oder alle Stämme der Konföderation? Mit der mitteleuropäischen Romantik läuft eine speziell ungarische SprachRomantik parallel - sie ist mit dem romantischen Uranliegen beschäftigt, die "Urheimat" aufzufinden: nostalgische Sehnsucht nach den Ursprüngen also. Hierfür wurde viel Phantasie, viel Energie eingesetzt. So Sändor Körösi Csoma de Törös (1784 - 1842), der die Urheimat in Tibet sucht - passenderweise stirbt er in Darjeeling, einem tibetisch benannten Ort, Dordje Ling, "Ort des Donnerkeils" - und zwar den durchaus apokryphen urmagyarischen Stamm der "Y ougar", der nach Sändor Körösi noch in Tibet existieren mußte und mit dem man noch Ungarisch sprechen können müßte. Für Arminis Vämbery, eigentlich Hermann Bamberger aus einer jüdischen Familie der Großen Schüttinsel, der die Magyaren türkisch überschichtete Finno-Ugrier sein läßt, war der Ort der ethnischen Mischung der Raum zwischen dem Kaspischen Meer, der Wolga und den Südhängen des Urals. (109). Wenn wir Vämbery in der Bestimmung der Ethnogenese nicht ganz folgen können, so doch in der Bestimmung der Urheimat. Darüber hinaus bleibt sein Buch eine Sammlung sonst schwer zugänglicher Nachrichten, wenn auch seine türkisch-magyarischen Wortgleichungen größtenteils überholt sind. Wilhelm v. Hevesy hingegen will die Ungarn aus Indien kommen lassen, wo er die Drawida-Sprachen als dem Ungarischen zunächst verwandt "entdeckt". (110) Körösi und Hevesy gehören einer Gruppe ungarischer Sprachromantiker an, die besonders die finnisch-ugrische Verwandtschaft betonen, wobei sie immer in Gefahr geraten, dafür einfach das Suomi-Finnische einzusetzen. Bernhard Munkacsi (111) bestimmt die Urheimat als ein Gebiet zwischen Wolga, Terek und Kuban, also Nordkaukasien und die anschließenden Steppengebiete, in deren nördlicher Mitte das Gebiet der Baschkiren liegt, die er für besonders nahe Verwandte hält. Bei ihnen handelt es sich seiner Meinung nach um türkisierte Ugrier, was Vämbery für die Magyaren selbst behauptet; vielleicht stand das finnisch-ugrische Substrat den Wogulen nahe. Munkacsi bringt die etwas apokryph klingende Nachricht, daß sich der ungarische Dominikaner Julian um 1236 im Lande der Baschkiren noch auf Magyarisch verständigen konnte - möglicherweise waren den Baschkiren noch Magyaren- Verwandte beigemischt. Hat Vämbery das Verdienst auf die tatsächliche türkische Komponente hingewiesen zu haben, so Munkäcsi das Verdienst, die iranische Komponente zu betonen. Deshalb setzt ja Munkäcsi südlichere Gebiete als sein Vor- 140 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 gänger ein, weil er sonst die kaukasischen, damischen (?) und iranischen Elemente nicht erklären könnte. Er stützt sich hier auf das ungarische "rez" "Messing" und erblickt im awaro-lesghischen Wort "rez", das Kupfer oder Messing bedeutet, dasselbe. Aber gerade Wörter für Metalle und technologische Fertigkeiten sind oft verdächtig, alte Lehn- und Wanderwörter zu sein, die deshalb noch nicht auf tiefere Berührungen schließen lassen. Überdies ist längst klar, daß die iranische Einflußzone einst weiter nach Norden reichte. An anderer Stelle drückt sich Munkäcsi etwas vorsichtiger aus, wonach nämlich die Gebiete nördlich des Kaukasus das Urgebiet des Bildungsprozesses gewesen sei, der zur Bildung der Magyaren führte. (112) Sie seien aus ihren Sitzen zu beiden Seiten des südlichen Urals, wo sie den verwandten Wogulen benachbart waren, in den Nordkaukasus gezogen und zwar im 5. Jh .. Dort trafen sich die Proto-Ungarn mit einer türkischen Gruppe, die ebenfalls aus nördlicheren Gebieten - zwischen Itil (Wolga) und Ural verdrängt worden war. In diesen nordkaukasischen Sitzen kam es zur Verschmelzung, bei der gleichzeitig starker iranischer Einfluß herrschte. Er will in diesen magyarischen Urgruppen Ackerbauern sehen, wobei die magyarische Ackerbauterminologie türkisch sei; andererseits seien sie auch Fischer und Reiternomaden gewesen. Die Herkunft des Ungarischen - und damit des ungarischen Volkes - läßt sich durch einen etwas abstrakten und vereinfachten Stammbaum veranschaulichen - mit allen Vorbehalten sämtlichen Stammbaumtheorien gegenüber, die ja rekonstruierte Ursprachen hypothetischen Charakters mit einschliessen. (113) Agnes S6s entwickelt, noch im Banne der heute stark angezweifelten uralischen Spracheinheit, folgendes Schema: Sie setzt ein Proto-FinnischUgrisch voraus, aus dem ~eh das Finnisch-Ugrische entwickelt hätte; dieses verzweigt sich weiterhin in das Finnische - und dieses in die zahlreichen finnischen Sprachen, die m.E. nie eine Ureinheit gebildet haben, so wenig wie dies die Berbersprachen jemals taten " das Finnische hat als gleichgeordnete Verwandte Samojedisch und Ostjakisch neben sich. Aus dem einheitlichen Finnisch- Ugrischen entstand ebenso, wiederum gleichgeordnet, das Ugrische und aus diesem das Obugrische und das Wogulische. Aus dem Obugrischen entstand endlich das Magyarische. Schon daraus erhellt, ohne daß wir uns auf Konvergenztheorien und Theorien über Sprachpopulationen einlassen, daß das Magyarische weder mit dem Finnischen noch mit dem Türkischen "verwandt" ist, sondern einzig und allein mit dem Obugrischen und Wogulischen. Im Raume des späteren Baschkiristan - das, unbekannt wann, auch den Namen Magna Hungaria führte (was sich nicht unbedingt auf Magyaren beziehen muß, sondern nur auf die On Ogur) - fand die erste Berührung der "Ur-Magyaren" mit einer türkischen Gruppe statt, die sehr nachhaltig gewe- 141 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 sen sein muß, ohne daß man deshalb von einer Überschichtung reden müßte. Eine zweite türkische Gruppe, aber nun in feindlicher Absicht, setzt das so entstehende Volkstum in Bewegung, es sind die Petschenegen, die etwa um 800 die Urmagyaren nach Westen drängen; in der ersten Hälfte des 9. Jhs. sind sie zwischen Don und Dnjestr anzutreffen, im Raume Lebediens. Hier schließen die Urmagyaren mit sieben anderen Gruppen einen Militärbund, der die Sprache der magyarischen Gruppe als Befehlssprache übernimmt. Diese Gruppe ist den Byzantinern als Megeres bekannt. Unter den affilierten und später assimilierten Gruppen war mindestens eine weitere türkische Gruppe, die ihrerseits schon ein Stammesbündnis dargestellt zu haben scheint: die Abspaltung der türkischen W olgabulgaren, die sich, wie schon erwähnt, On Ogur nannten, "Zehn Pfeile", aber auch mannigfaltige weitere Volkssplitter sind als Bundesgenossen aufzunehmen, sicher iranische, nämlich Alanen. Die "Acht Horden" konsolidieren sich offenbar sehr rasch. Die erste Horde besteht aus den sogenannten Kavarsstämmen, nämlich Resten der Chasaren, eines Turkvolkes, dessen Oberschicht judaistisch gewesen ist; damit haben wir bereits die vierte türkische Berührung. Als dritte Horde werden die Megweres genannt. Die vierte Horde verrät durch ihren aus byzantinischem Munde überlieferten Namen "Kourtogermatos" ebenfalls türkische Herkunft; darin steckt ziemlich sicher türkisch "kurt", der Wolf. (114) Konstantinos Porphyrogennetos nennt die Magyaren konsequent "Türken" (tourki), ein damals weit verbreiteter Irrtum, falls es sich nicht um bewußte Feindpropaganda handelt. Die acht Horden - der Anonymus von 1200 (115) hat nur sieben Horden - werden von den Petschenegen weiter bedrängt; aber gerade diese beständige Gegnerschaft scheint zur Konsolidierung und zur Entfaltung eines starken Identitätsbewußtseins beigetragen zu haben. 894 verdrängen sie die inzwischen in Bessarabien seßhaften Magyaren und Assozierte endgültig in den balkanischen Raum. 971 werden die Petschenegen endgültig von dem byzantinischen Kaiser Johannes I Tzimiskes geschlagen. Ihre Reste erbitten von eben jenen Magyaren Asyl und Schutz, die sie so lange bekriegt hatten. Sie werden aufgenommen und später als Grenzersoldaten im Westen verwendet - ungarische Ortsnamen wie Besseny6 und Bessenyö, sowie der burgenländische Ort Pötschendorf scheinen das Petschenegen-Ethnikum im Namen fortzusetzen; daraus folgt auch, daß das Burgenland einst petschenegischer Siedlungsraum gewesen ist. Die Petschenegen sind bereits die fünfte türkische Gruppe, die magyarisiert wurde. Als die Hauptmasse der Magyaren die Theißebene endlich erreichte, fanden sie schon Magyaren vor, die als Vorhut eingetroffen waren: die späteren Szekler. Diese ziehen vor der Masse ihrer Verwandten wieder nach Osten ab und lassen sich im Raum des heutigen Siebenbürgen nieder, wo sie heute noch wohnen. Auf ihrem Rückzug nach Osten entsandten sie ihrerseits eine 142 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 Vorhut nach Osten, die ebenfalls noch existieren, die isolierte magyarische Gruppe der Czangos in der einstigen Bukovina. Nach der Landnahme in der Theißebene, die sicher von allerlei Volkssplittern sporadisch bewohnt wurde - Goten, Langobarden, romanisierte und nicht-romanisierte Pannonier, Kelten, Gepiden, Hunnen, Awaren, Slawen - ist das magyarische Ethnos im wesentlichen konsolidiert und so gefestigt, daß der Prozeß nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Die slawischen Elemente Nord-, West- und Mittelungarns, die besonders um den Plattensee konzentriert waren ( der selbst slawisch benannt ist, "Sumpfsee"), sind teils slowakischer, teils slowenischer Provenienz. In fernerer Hinsicht ist mit einer gewissen Einwirkung slawisierter Bulgaren und serbokroatischer Gruppen zu rechnen. (116) Die slawische Einwirkung hinterließ ein beträchtliches Sprachgut an Lehnwörtern, die hauptsächlich die Wortfelder des Ackerbaus, des Staats- und Rechtswesens, der Kirche und des Christentums betreffen. Der ersten iranischen Berührung, die noch in den Sitzen südlich des Urals erfolgte, schließt sich eine zweite an, nämlich durch Assimilierung eines alanischen Reststammes, der im 12. Jahrhundert auf genommen wird. Diese Alanen, ungar. Jasz, lat. Jazones genannt, sind Verwandte der heutigen Osseten im Kaukasus. (117) Der fünften türkischen Berührung gesellt sich eine weitere durch die Kumanen zu, Resten eines einst mächtigen Turkvolkes, das ebenfalls ins magyarische Siedlungsgebiet aufgenommen wurde. Die Kumanen, ungar. Kun, Kunok, besaßen oder beherrschten einst das gesamte Gebiet zwischen der unteren Wolga und den Karpaten und waren teilweise nestorianisch-christlich. 1239 ging ihr Reich durch den Ansturm der Mongolen zugrunde. Es scheinen besonders ihre heidnischen Reste gewesen zu sein, die um 1250 um Aufnahme baten und im mittleren Nordungarn angesiedelt wurden, wo ihre inzwischen völlig magyarisierten Nachkommen immer noch Pal6czi heißen - nach dem russischen Namen der Kumanen, Polovci ("Tieflandsbewohner"). Im 17. Jh. verlieren sich die Spuren des Kumanischen im Magyarischen, doch bleiben reiche Sprachreste erhalten, besonders im Codex Comanicus in Venedig. (118) Endlich ist noch des starken osmanischen Einflusses zu gedenken, der also die siebente türkische Berührung darstellt; ihm entstammen nicht nur zahlreiche Lehnwörter des Türkischen im Magyarischen, sondern es ist auch mit einer gewissen anthropologischen Berührung zu rechnen, wobei die Osmanen selbst größtenteils europäide Elemente enthielten; nie repatriierte türkische Kriegsgefangene und Exilierte, die den Zorn des Großherrn zu fürchten hatten, heirateten ein. Man kann unseren relativ häufigen Familiennamen Türk, Türck vergleichen, der nicht nur ein Übername war, der an die Teilnah- 143 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 me an den Türkenkriegen oder überstandene türkische Gefangenschaft erinnerte, sondern oft genug auch auf christianisierte türkische Kriegsgefangene zurückging. Zu guter Letzt ist noch der zahlreichen Siedler bairischer Herkunft zu gedenken, die seit karolingischen Tagen zwischen Neusiedlersee und Plattensee lebten und größtenteils magyarisiert wurden, ein Prozeß, der ja bis ins 20. Jh. hinein weitergeht. Ein besonderes Element stellen schließlich die Zigeuner dar, jene Mischung wandernder indischer Paria-Stämme, hauptsächlich aus Schmiede- und Musikerkasten bestehend. Auch sie trugen sicher zum anthropologischen Bilde der Magyaren bei. Ein Familienname, wie Csondala, könnte indischen Ursprungs ein (Tschandala, die Niedriggeborene), wie der Familienname Käzar auf chasarische Abkunft deuten könnte. (119) V_ Schlußbemerkungen Völker, Volkstümer, Ethnien sind also keine festen, ein für allemal vorgegebenen Größen, kein reines, ungemischtes, organisches, nur sich selbst gleiches Seiendes; sie sind weder mit Nationen, noch mit Rassen, noch Sprachen einf achhin gleichzusetzen. Völker sind, unbeschadet des biologischen Substrats, des anthropologischen Befunds, soziale und politische Größen, die sich nicht aufgrund reiner Gesetzmäßigkeiten konstruieren lassen: Die Rolle des Zufalls und des bewußten Tuns ist evident. Völker sind daher labile, veränderliche, dynamische Größen. Nationen können aus verschiedenen Völkern bestehen - für bestimmte herrschende Schichten stets ein Ärgernis, das so weit geht, daß sie die Existenz von "Minderheiten", also anderen Volkstümern innerhalb ihrer Territorien entweder gar nicht oder nur gezwungen anerkennen. Frankreich, Italien, Griechenland, um nur einige Beispiele zu nennen, zählen offiziell ihre Minderheiten nicht. Es gibt Völker, die weder biologisch, noch geographisch, noch kulturell, noch sprachlich einheitlich sind; ebenso wenig gelangen wir an wirkliche Urheimaten, so weit wir auch zurückgehen und rekonstruieren - wir erreichen immer nur sekundäre, tertiäre, abgeleitete Urheimaten und Phänomene. Die oft fast manische Suche nach der wahren und eigentlichen Urheimat hat ihr Analogon in der Suche nach dem Paradies. Dennoch können sich, in diesem abgeleiteten Sinne, manche Völker als autochthon betrachten - die Rumänen, die Albaner von heute tun dies, die Etrusker taten dies. Das Beispiel der Juden ist lehrreich: Sie sind ein Volk, das weder territoriale noch kulturelle noch sprachliche Einheit besaß; sie sind nach fast zweitausend Jahren zu etwa einem Fünf tel ihrer Zahl wieder Bewohner eines jüdischen Staates und dabei eine Nation zu werden - aber eben nur ein Bruch- 144 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 teil, nämlich nur die Bewohner Israels, sofern sie Staatsbürger sind - aber per definitionem ist jeder Jude der Erde eine Art latenter Staatsbürger; aber als Nation haben sie schon ihr höchst ärgerliches Minderheitenproblem. Das Beispiel der Schweiz ist lehrreich: eine Nation, wesentlich getragen von einer deutschen Volksgruppe, die um 1499 aus dem Verband des Heiligen Römischen Reiches de facto ausschied, die aus vier verschiedenen Volkstümem bestehen - immer ein Ärgernis für stramme Nationalisten. "Reine Rassen", "reine Völker" (120) sind späte Ergebnisse von lnzuchtgruppen, keine ursprünglichen Phänomene. Es gab weder eine menschliche Urrasse - trotz der vorauszusetzenden Monogenese - noch eine menschliche Ursprache. Das Problem der Völkerverwandtschaft ist damit schärfer gefaßt. Die oben erwähnten und geschilderten Faktoren sind ja der Grund, warum es z.B. unmöglich ist, die überlieferten germanischen Stämme, das Durcheinander, wie es uns die antiken Quellen bieten, in eine wenn auch noch so bescheidene systematische, genetische Ordnung zu bringen; die Gruppierung nach Istävonen, Ingävonen, Herminonen, die immer wieder versucht wird, reicht nicht im entferntesten aus. Stammbaumfolgen, reine Völkergenealogien reichen nicht aus, um die verwickelten Abstammungs- und Entstehungsverhältnisse zu klären; sie sind n~r schematisierende Arbeitsmodelle. Auch rein biologisch-anthropologische Fragestellungen sind betroffen: Wie weit sind, um boshaft zu sein, wir Österreicher nun "echte" Germanen? Die Juden echte Semiten? Die Ungarn oder Türken Asiaten? Zum Schluß kehren wir in die Welt der Kanarier zurück - im doppelten Sinne des Wortes. Auch für die alten Guanchen und andere Vorbewohner des kanarischen Archipels gilt die gleiche Problematik. Die ausgewählten Beispiele ethnogenetischen Werdens zeigen uns, daß einfache, geradlinige Entwicklungen im Werden der Völker in Wirklichkeit nicht gegeben sind; wir haben stets mit Ursachen-Komplexen zu rechnen, mit verwickelten Prozessen und Mischungen; diese werden vielfach, besonders wenn es zu vereinheitlichten Staatsgebilden kommt, die sich womöglich mit einer einheitlichen Staatssprache decken, durch nationalistische, politische und wirtschaftliche Faktoren überdeckt, d.h. simplifiziert. Gerade die Vielfalt der Völkercharaktere geht auf die Vielfalt jeweils verschiedener Mischungen und Formungen zurück; "reine" Völker sind, genauso wie "reine" Rassen oder "reine" Sprachen eine Illusion oder etwas Sekundäres, Nachträgliches. VI. Anmerkungen (1) Jakob Grimm: Über die deutsche Sprache, Teilsammlung Inselbücherei 145 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca Universitaria, 2017 Nr. 120; Vorreden zur "Deutschen Grammatik"; vgl. Franz Bopp in der "Vergleichenden Grammatik des Sanskrit, Send, Armenischen, Griechischen, Lateinischen, Altslawischen, Gothischen und Deutschen, vol. 2. Aufl. Berlin 1857, Vorwort pp. VI - VII: "unsere Muttersprache in ihrer ältesten, vollkommensten Gestalt wird durch Vergleichung, speziell mit Sanskrit enthüllt". Dazu ferner, speziell über Jakob Grimm und die romantischen Sprach- und Volkstheorien: Arno Borst: Der Turmbau zu Babel. Geschichte der Meinungen über Ursprung und Vielfalt der Sprachen und Völker, Stuttgart 1957 - 1963, 4 Teile in 7 Bänden, Bd. 3, pp. 1.521 - 1.629 bzw. bis 1.757. (2) Carl Christian Bry: Verkappte Religionen. Kritik des kollektiven Wahns. Ed. Martin Gregor-Dellin, München 1979, Neuausgabe der Ausgabe von 1924, bes. pp. 107 - 116 |
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