Almogaren XXVIII / 1997 Vöcklabruck 1997 239 - 242
Werner Pichler
Neue Aspekte zum Thema "latino-kanarische
Inschriften"
Drei Jahre sind vergangen, seit durch ein einjähriges Feldforschungsprojekt
die quantitativen Grundlagen geliefert wurden, die eine Entzifferung der
latino-kanarischen Inschriften ermöglichten. Inzwischen wurden auch auf
Lanzarote neue Fundstellen dokumentiert, so daß zur Zeit über 300 "Zeilen"
dieses Inschriftentyps zur Verfügung stehen.
Es ist also Zeit für eine erste Zwischenbilanz:
• Es kann heute nicht mehr ernsthaft geleugnet werden, daß es sich bei der
"Schrift der Ostinseln" um eine Variante der lateinischen Schrift handelt.
• Über 90 % des Bestandes an Einzelzeichen und Ligaturen können als gesichert
gelten.
• Auch der enge Zusammenhang mit libysch-berberischen Inschriften (die
angenommene Personalunion der Schreiber) wurde durch Neufunde abgesichert.
• Alle Ansätze zur Identifizierung der verwendeten Sprache verweisen in
die Richtung der antiken libyschen Sprache.
Weitere Fortschritte in der Erkenntnislage sind zur Zeit durch Vergleiche
und Detailanalysen möglich.
1. Je mehr Inschriften auf Lanzarote entdeckt werden, um so deutlicher
werden die Übereinstimmungen der beiden Ostinseln:
Eine neue Zeile der Fundstelle Tenezar ist völlig identisch mit FUE-LK-
121: 1 S II D 1 - 1 S II D 1
Die Zeile I M f>... * t,./ der Fundstelle Fernes scheint in die Serie MASE (FUELK-
131 ), IMASE (FUE-LK-164), MASEN (FUE-LK-122) und MASUN (FUELK-
234) zu gehören.
Auch zu dem auf Fuerteventura so häufigen AVATI (FUE-LK-211 etc.)
scheint es nun auf Lanzarote Entsprechungen zu geben:
Las Pefiitas: /1. '0. r 1
Fernes:
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Die abweichende Wortendung -A bestätigt die These, daß das auslautende
libysche III im Lateinischen durch unterschiedliche Vokale wiedergegeben
werden kann. Libysch-berberisch II X III (FUE-LB-23,24) kann also wahlweise
(A)W(A)TI oder (A)W(A)TA vokalisiert werden.
Die Transkription des Zeichens W war von Anfang an unsicher. Ursprünglich
habe ich dafür eine Erklärung als Ligatur für VN vorgeschlagen (Pichler
1994: 138). 1995 habe ich als Alternative in Betracht gezogen, daß es sich um
ein auf den Kopf gestelltes Mhandeln könnte. Diese Annahme scheint durch
eine Zeile der Fundstelle Las Piletas / Lanzarote bestätigt zu werden:
AWAUrl
Ich nehme an, daß es sich bei U um eine Verschreibung von N handelt und
schlage als Lesung AMANTI vor. Diese Annahme wirft auch ein neues Licht
auf den zweiten Teil der Zeilen FUE-LK-13 und 14: -W Nrl
Wenn Wals M zu lesen ist, dann kann Wohne weiteres eine Ligatur für AM
sein. In diesem Fall ergeben auch die beiden Zeichenfolgen aufFuerteventura
die Lesung AMANTI. Es bedarf keiner großen Phantasie, darin den in Nordafrika
belegten Namen AMANTIUS (CIL VIII, 1953) zu erkennen.
2. Die von Ulbrich 1996 veröffentlichte Inschrift II~/\ >ANA (Tenezar/
Lanzarote) eröffnet ebenfalls interessante Erkenntnisse im Zusammenhang
mit einer Zeile auf Fuerteventura. Interpretiert man > als unvollständiges D,
so ergibt sich die Lautfolge IRA-D-ANA. Das erinnert nun allerdings sehr
stark an die Zeichenfolge l~A D I v1 A (FUE-LK-17), die man ja durchaus auch
als IRA-D-INA lesen kann. Nicht genug damit: An der Fundstelle Buenavista/
Fuerteventura findet sich die Zeichenfolge IM 1 1 RA (FUE-LK-166/167), die
ich ursprünglich getrennt betrachtet und mit IMA/IRA transkribiert habe .. M
kann selbstverständlich auch eine Ligatur aus N und A sein (dafür gibt es
auch unter den lateinischen Inschriften Nordafrikas Belege) und der kleine
Strich in der Mitte könnte der Rest eines ursprünglichen D sein.
Folgerung: Es handelt sich in allen drei Fällen um die beiden - in der ,
Reihenfolge austauschbaren - Lautfolgen IRA und INA (ANA), die durch -
D- verbunden sind.
Eine ähnliche Entdeckung hat Rössler (1941: 300f) bei der Analyse einer
libysch-berberischen Inschrift von Dougga (RIL 3) gemacht, nämlich daß in
zwei Fällen Substantiva durch -D- verbunden sind. Rössler erkannte darin
das libysche Wort für "und", dieser Deutung stimmten auch spätere Interpreten
wie z.B. Fevrier (1956: 270) zu. Auch in heutigen Berbersprachen ist "D"
noch in der Bedeutung von "mit, und" erhalten (Stumme 1898: 174, Willms
1972: 229).
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Akzeptiert man diese Lesung, so ist ein weiterer kleiner Schritt in Richtung
des Verständnisses der latino-kanarischen Inschriften getan, der über
die Identifizierung von Personennamen hinausreicht. Sie ist ein weiteres Glied
in der Indizienkette, daß es sich bei der Sprache der Inschriften um das antike
Libysch handelt und ein weiterer Beleg für die frühe Vermutung Rösslers,
daß diese Sprache sich erstaunlich wenig von heutigen Berbersprachen unterscheidet.
3. Ein weiterer wichtiger Aspekt betrifft die Datierung der Inschriften. Sie
ist bisher ausschließlich aufgrund der grafischen Form der Buchstaben und
dem Vergleich mit datierten lateinischen Inschriften Nordafrikas erfolgt. Als
wahrscheinlichster Zeitraum wurde das 1. nachchristliche Jahrhundert angenommen.
Nun gibt es eine interessante archäologische Parallele. Atoche Pefia und
Paz Peralta beschreiben in einem Vorbericht der Ausgrabung von EI Bebedero/
Lanzarote Belege für die Anwesenheit der Römer auf der Insel. Die in drei
Kampagnen zwischen 1985 und 1990 durchgeführten Grabungen ergaben eine
Abfolge von fünf Schichten, für zwei davon geben die Autoren C14-Datierungen
an:
III: 3. - 5. Jh. n.Chr.
IV: 1. - 2. Jh. n.Chr.
Pefia & Peralta unterteilen die Gesamtstratigraphie in zwei Kulturphasen:
• Schicht III (4. - 15. Jh. n.Chr.)
• Schicht IV und V (5. Jh. v. - 4. Jh. n.Chr.)
Letztere werden gleichgesetzt mit der Erstbesiedlung der Insel. Leider
fehlen C14-Daten für die Schicht V, die den Ansatz 5. Jh. v. Chr. belegen
würden. Darüberhinaus erscheint es nicht zulässig, von einer Fundstelle auf
die Besiedlung der gesamten Insel zu schließen.
In Schicht IV, die 67 % des keramischen Materials enthält, sind nach Ansicht
der Autoren Elemente der römischen Kultur nachweisbar. Es sind dies
außer 9 Metallstücken (Kupfer, Bronze, Eisen) zwei Keramikfragmente, die
mit den Formen römischer Amphoren korrespondieren (nach der Klassifikation
Peacock/Williams Nr. 25/26 und 40). Abgesehen von allen offenen Fragen,
die diese Ausgrabung betreffen, ist doch festzustellen, daß die ältesten
Daten von El Bebedero (1980 ± 140 BP, 1950 ± 60 BP) ganz hervorragend zur
vorgeschlagenen Datierung der Felsinschriften passen. Abweichend von Pefia
& Peralta halte ich diese Fakten allerdings für keinen schlüssigen Beweis der
Anwesenheit von Römern auf den Kanarischen Inseln. Aufgrund des Inschriftenbefundes
ist es nach wie vor wesentlich wahrscheinlicher, daß es sich um
romanisierte Berber handelte.
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4. Während der mehrjährigen Phase intensiver Diskussionen über den Charakter
der latino-kanarischen Schrift tauchte immer wieder eine Frage auf:
Wenn es - zumindest temporär - auf den Kanarischen Inseln eine literale Kultur
gab, wieso erscheinen die Schriftzeichen dann nicht auch auf Keramik?
Nun scheint auch in dieser Frage ein erster Anhaltspunkt
zu existieren. 1995 veröffentlichte J.M.
Amezcua im Anhang zu einem Artikel über die naviformen
Gravierungen des Barranco de Tinojay die
Abzeichnung einer Tonscherbe (siehe Abb.) mit der
Fundortbezeichnung "Poblado de Fimapaire" und der
Beschreibung "con cuatro signos alfabeticos". Im
Textteil erwähnt Amezcua, daß das Tal von Fimapaire
eine Vielzahl an Corrales, Mauem und Concheros
mit vielfältig dekorierter Keramik aufweise,
aber weder in der Carta Arqueol6gica noch in einer
anderen archäologischen Arbeit erwähnt werde. Es
ist also nicht damit zu rechnen, daß die näheren Fundumstände dieses hochinteressanten
Keramikfragmentes dokumentiert sind. Anders als Amezcua
glaube ich, daß das Fragment auf den Kopf zu stellen ist, dann erkennt man
links sehr deutlich die für latino-kanarische Schrift so typische Form des A. !
Man kann mit Spannung auf weitere Keramikfunde dieser Art hoffen, vielleicht
schlummern sie aber auch schon in den Depots von Museen.
Literatur:
Amezcua, J.M. (1995): Los grabados naviformes de Tinojay.- IV. Jornadas de
historia de Fuerteventura y Lanzarote t. 2, Puerto del Rosario, 557-616
Atoche Pefia, P.; Paz Peralta, J.A. (1996): Presencia romana en Lanzarote/Islas
Canarias.- Revue Anthropologique, Paris, 221-257
Fevrier, J.G. (1956): Que savon-nous du libyque.- Revue Africaine, 263-273
Pichler, W (1994): Die Ostinsel-Inschriften Fuerteventuras, Transkription und
Lesung.-Almogaren XXIV-XXV/1993-94, Hallein, 117-220
Pichler, W (1995): Neue Ostinsel-Inschriften (latino-kanarische Inschriften) auf
Fuerteventura.-Almogaren XXVI/1995, Hallein, 21-46
Rössler, 0. (1941): Libyca.l. Die Tarha der alten Kanarier.- Wiener Zeitschrift
für die Kunde des Morgenlandes, Bd. XLVIII, 282-311
Stumme, H. (1898): Handbuch des Schilhischen von Tazerwalt, Leipzig
Ulbrich, H.-J. (1996): Neue Felsbildstationen auf der Kanareninsel Lanzarote
(11).-Almogaren XXVIl/1996, Vöcklabruck, 285-357
Willms, A. (1972): Grammatik der südlichen Berberdialekte.-Afrika und Übersee,
Beiheft 31, Berlin
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