Almogaren XXIV-XXV/ 1993-1994 Hallein 1994 117 - 220
Werner Pichler
Die Ostinsel-Inschriften Fuerteventuras,
Transkription und Lesung
Inhaltsangabe:
1. Vorbemerkung
2. Grundsätzliche Begrifsbestimmungen
2.1. Sprachen und Schriften
2.2. Ostinsel-Schrift
2.3. Inschrift
2.4. Inschrift - Grafito
2.5. Zeilen
2.6. Abkürzungen
2.7. Transkription
3. Die Schrift
3 .1. Bisherige Transkriptionsansätze
3.2. Die Zeichen
3.3. Die Schreibrichtung
3.4. Das Alphabet
Exkurs: Entwicklung der lateinischen Schrift
3.5. Die Buchstaben
3.6. Die Ligaturen
3. 7. Sonstige Zeichen
3.8. Argumente für und gegen lateinische Kursivschrift
3. 9. Datierung
3.10. Ofene Probleme
3 .11. Tabelle: Transkription
3.12. Die Ostinsel-Inschriften Lanzarotes
4. Die Sprache
4.1. Grundsätzliche Überlegungen
4.2. Sprachstatistik
4.2.1. Die Buchstabenhäufigkeit
4.2.2. Statistischer Vergleich von Sprachen
4.3. Das Altkanarische
4.3.1. Problematik der Überlieferung
4.3 .2. Herkunft und Beziehungen
4.4. Phonologie
4.4.1. Vokale
4.4.2. Konsonanten
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4.5. Morphologie
4.5.l. Segmentierung
4.5.2. Personennamen
4.5.3. Verwandtschaftsbezeichnungen
4.5.4. Herkunftsbezeichnung
4.5.5. Nichtlibysches Wortgut?
4.5.6. Zum inhaltlichen Aspekt des Wortgutes
5. Zusammenhang mit libysch-berberischen Inschriften
6. Historisches Umfeld
7. Schlußbemerkung
Literaturhinweise
Transkriptionstabellen
1. Vorbemerkung
Auf Fuerteventura (und auch auf Lanzarote) wurde in den letzten Jahren
eine große Anzahl von Felsbildstationen entdeckt und dokumentiert, die neben
linearen, geometrischen und figurativen Ritzungen und Punzierungen auch Inschriften
und schriftähnliche Zeichenfolgen unterschiedlichster Art aufweisen.
Auf den Kanarischen Inseln werden seit den grundlegenden Forschungen Dominik
Josef Wölfels vier Typen von Inschriften unterschieden:
1) Sinnschrift der megalithischen Petroglyphen (Belmaco/La Palma)
2) Westschrift mit altkretischer Verwandtschaft ( Candia/Hierro)
3) Transitionsschrift: Übergang von der zeichenreichen Westschrift zur reinen
Alphabetschrift des Altnumidischen (Balos/Gran Canaria)
4) Altnumidische Schrift (La Caleta/Hierro)
Während Inschriften der ersten drei Arten bis heute auf den beiden östlichsten
Inseln des Archipels nicht nachgewiesen werden konnten, häufen sich in
letzter Zeit Funde von Inschriften, die große Afinitäten zu nordafrikanischen,
libysch-berberischen Alphabeten aufweisen und solche eines fünften, bislang
völlig neuen Typus. Im folgenden werden nur jene Zeichenfolgen behandelt,
die sich mit Sicherheit oder großer Wahrscheinlichkeit diesem neuen Typus
zuordnen lassen. So lange Transkription und Lesung dieser Inschriften noch
nicht unumstritten sind, soll als möglichst neutrale Bezeichnung der Terminus
"Schrift der Ostinseln" verwendet werden. Das Corpus dieser Inschriften wurde
bereits in Almogaren XIII veröfentlicht.1 Mit diesen Neufunden der letz-
'Zu dieser Publikation sind zwei Korrekturen notwendig: Zeile 125 - 127: anstatt C II 9
richtig: C III 9. Zeile 131/132: aufgrund des Vergleiches mit Zeile 41 ergibt sich als
richtige Trennung: 131: SfM Vl'I, 132: MSII.
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ten Jahre ist das Untersuchungsmaterial quantitativ so weit gediehen, daß nun
Versuche zur Transkription und Lesung sinnvoll erscheinen. Die folgenden
Ausführungen sind nicht als endgültige und alles umfassende Darstellung der
Thematik zu verstehen, sondern als erster Ansatz zu einer Lösung. Viele
Detailprobleme bedürfen der fachlichen Kompetenz von Experten. Es sollen
aber bereits jetzt einige grundlegende Thesen formuliert werden, die sich durch
sprachstatistische Analysen und linguistische Untersuchungen erhärten lassen.
Ihre Verifikation bzw. Falsifikation wird sich einerseits aus der folgenden sachlichen
Diskussion, andererseits vielleicht auch aus weiteren Inschriftenfunden
ergeben.
2. Grundsätzliche Begrifsbestimmungen
2.1. Sprachen und Schriften
Altkanarisch: Sammelbezeichnung für die vor der Conquista auf den Kafi3:rischen
Inseln gesprochenen Sprachen (Dialekte?), von manchen Autoren auch
als Guanche bezeichnet. Im Gegensatz dazu "Kanarisch": das heutige Inselspanisch.
Libysch: Sammelbezeichnung für die in der Antike im westlichen Nordafrika
gesprochenen Eingeborenensprachen (Masaesylisch, Massylisch, Gaetulisch).
Bei Prasse: protoberbere.
Berberisch: Sammelbezeichnung für die in der Gegenwart im westlichen
Nordafrika gesprochenen Eingeborenensprachen, die sich dem afroasiatischen
(früher hamitosemitischen) Sprachstamm zuordnen lassen. Im Gegensatz dazu
wird der Ausdruck "libysch-berberisch" ausschließlich für jene Gruppe von
Schriftsystemen verwendet, die sich in diesem geografischen Raum in den letzten
2000 Jahren entwickelt haben.
Dort, wo einzelne Autoren davon abweichende Termini verwenden, werden
diese in Anführungszeichen zitiert.
2.2. Ostinsel-Schrift
Dieser Terminus wurde deshalb gewählt, weil Inschriften dieses Typs bisher
ausschließlich auf den beiden östlichsten Inseln des Archipels nachgewiesen
werden konnten. Ulbrich (Vortrag IC-Tagung 1993) meint, daß sich dieser
Schrifttypus mit fortschreitender Feldforschung schließlich auf allen Inseln einfinden
werde. Das ist durchaus möglich, bis jetzt gibt es dafür allerdings keine
Beweise. Im übrigen hat der Terminus Ostinsel-Schrift nur die Funktion eines
Provisoriums, solange die Zuordnung zu einer bekannten Schriftgruppe noch
nicht allgemein anerkannt ist.
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2.3. Inschrift
Als Inschriften werden in diesem Zusammenhang nur Zeichenfolgen gewertet,
die einen "Text" ergeben: also Abfolgen von mindestens zwei
Schriftzeichen. Da hier nur Inschriften des Typus der Ostinsel-Schrift behandelt
werden sollen, muß mindestens eines dieser Zeichen als Bestandteil des Alphabets
der Ostinselschrift erklärbar sein. In einigen Fällen treten kurze
Zeichengruppen auf, von denen nicht mit Sicherheit gesagt werden kann, ob sie
als Schrift anzusprechen sind oder nicht. Besonders betrofen von dieser Frage
sind einfach Zeichen wie 1, 11, r , V etc., die in eindeutig schriftlichem Kontext
mühelos als Buchstaben erkannt werden können, in kleinen isolierten Gruppen
aber auch zufallige Linienkombinationen sein können. Auch der fragmentarische
Charakter vieler Zeilen trägt zu dieser Unsicherheit bei.
2.4. Inschrift - Graffito
Der Begriff "Inschrift" wird in der Literatur für unterschiedlichste Texte
auf Felswänden, Metalltafeln, Keramik, Hauswänden, Gedenksteinen und anderen
Objekten verwendet. Der Begrif"Graffito" ist in den letzten Jahrzehnten
populär geworden als Bezeichnung für eine breite Palette spontaner
Gelegenheitskunst, die uns - gekratzt, gezeichnet oder gesprayt - in jeder Großstadt
als Ausdruck einer urbanen Subkultur begegnet. Ursprünglich wurde mit
dem Begrif Grafito (vom italien. "grafitere" = kratzen) jene künstlerische
Technik bezeichnet, bei der zwei Schichten Putz in verschiedenen Farben übereinander
auf getragen werden. Danach wird die untere, meist dunklere Schicht
durch Einkratzen von Linien wieder hervorgeholt, wodurch eine reliefartige
Wirkung erzielt wird.
Auch bei den überlieferten Texten alter Kulturen erscheint es sinnvoll, diese
beiden Begrife in unterschiedlicher Bedeutung anzuwenden. Als Inschriften
sind sorgfältig geplante und ausgeführte Texte an Gebäuden, Denkmälern oder
ähnlichen Objekten zu verstehen. Ihre aufwendige und exakte Anbringungstechnik
(meist eingemeißelt) korrespondiert mit ihrem offiziellen, repräsentativen
Charakter. Im Gegensatz dazu vermitteln Grafiti einen flüchtigen, spontanen
Eindruck. Ihre unexakte, oft fehlerhafte Ausführung dokumentiert ihren
privaten Charakter.
Wenn man diese Aspekte berücksichtigt, so wäre für die Texte der OstinselSchrift
der Begriff Graffiti angebracht. Ihre Schreibtechnik stimmt auch insofern
mit der Technik der ornamentalen Wandverzierung überein, als durch das
Durchkratzen der Patinaschicht die eigentliche Farbe des Gesteins (in diesem
Fall allerdings meist ein hellere) freigelegt wird. Wenn trotzdem im folgenden
der Terminus Inschriften bevorzugt wird, so hat das zwei Gründe: Einerseits
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beinhaltet der Begriff Grafiti normalerweise auch nichtschriftliche, grafische
Elemente (auch in Pompeji und Herculaneum), während es sich bei den zu
interpretierenden Liniengebilden auf Fuerteventura ausschließlich um Schriften
handelt. Andererseits trift die flüchtige Ritztechnik nicht auf alle Texte vom
Typus der Ostinsel-Schrift zu. Einige wenige wurden auch in der wesentlich
aufwendigeren Technik der Punzierung ausgeführt.
2.5. Zeilen
Da bisher nicht zweifelsfrei feststeht, wo die Wortgrenzen zu suchen sind
( es sind nur Ansätze einer Worttrennung zu vermuten), wird das Inschriftenmaterial
nach den Texteinheiten strukturiert, die sich vom Schriftbild her anbieten.
Unter "Zeile" wird also nicht eine Reihe von Wörtern verstanden, die auf einer
Textseite nebeneinanderstehen, sondern eine aufgrund des optischen Erscheinungsbildes
zusammengehörige Zeichenfolge, die ofensichtlich einen "Text"
im engeren Sinn des Wortes repräsentiert. Zeilen sind also fortlaufende
Zeichenreihen, die sich von anderen durch ihre Lage bzw. Orientierung auf
dem Paneel absetzen. Die Reihenfolge von Zeilen innerhalb eines Paneels wird
im folgenden von oben nach unten (bei senkrechten Zeilen: von rechts nach
links) durchnumeriert. Damit ist noch keinesfalls gesagt, daß diese Reihenfolge
mit der Intention des Schreibers übereinstimmt.
2.6. Abkürzungen (vollständige Titel siehe Literaturverzeichnis)
CIL Corpus inscriptionum Latinarum
1AM Galand: Inscriptions antiques du Marne
IRT Reynolds/Ward Perkins: The inscriptions of Roman Tripolitania
MLC W ölfel: Monumenta Linguae Canariae
RIL = Chabot: Receuil des inscriptions Libyques
2.7. Transkription
Zur Transkription von Zeichen, die eindeutig dem Alphabet der OstinselSchrift
angehören, werden lateinische Kleinbuchstaben verwendet:
abcd isolierte Zeichen bzw. Zeichenfolgen
<abcd> Zeichen bzw. Zeichenfolgen innerhalb eines fortlaufenden Textes
<-bc-> aus scriptio continua herausgetrennte Zeichenfolgen
abcd interpretierte Zeichenfolgen (Morpheme etc.)
a,, a3 Allographe eines Graphems
"Exotische" Zeichen, die diesem Alphabet (vorläufig oder endgültig) nicht
zuzuordnen sind, werden in ihrer Originalform dargestellt. Im grafischen Korn-
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mentar wird erläutert, ob und inwieweit sich diese Zeichen durch andere
Schriftsysteme erklären lassen.
Für die Darstellung von Zeichenfolgen bzw. Wörtern aus anderen Sprachen
werden Großbuchstaben verwendet.
Für die Darstellung unsicherer Stellen werden folgende Symbole verwendet:
a
*
Vorschlag für beschädigt bzw. nicht eindeutig identifizierbar
erkennbar, aber nicht identifizierbar
Bruchkante
Sonstige Symbole:
a_b Ligatur
/ vermutliche Worttrennung
1 abrupte Änderung der Schriftgröße
.1- auf dem Kopf stehende Zeile
potentielle morphologische Grenze
3. Die Schrift
3 .1. Bisherige Transkriptionsansätze
Seit Bekanntwerden der ersten Inschriften dieses Typus Anfang der achtziger
Jahre ist es zu sehr unterschiedlichen Interpretationen dieses Schriftsystems
gekommen.
3.1.1.
Die ersten Funde wurden von kanarischen Forschem (Le6n Hemandez
1988, u.a.) spontan und ohne nähere Begründung dem Typus der pompejanischen
Kursivschrift zugeordnet. Cabrera Perez (1989: 151) nennt die Inschriften
"pseudo-latinas" und schreibt an anderer Stelle (1989: 41): "En la isla de
Lanzarote se han hallado otras inscripciones alfabetiformes de dificil interpretaci6n
y de aparencia latina, sin paralelismos en el resto del Archipielago"
(Auf der Insel Lanzarote wurden andere alphabetiforme Inschriften von schwieriger
Interpretation und lateinischem Aussehen gefunden, ohne Parallelen im
übrigen Archipel). Zu diesem Zeitpunkt waren erst so wenige Grapheme dokumentiert,
daß man die Inschriften auch zahlreichen anderen Schriftsystemen
des Mittelmeerraumes zurechnen hätte können.
3.1.2.
Nach einigen Neufunden auf Lanzarote interpretierte H.J. Ulbrich (1990)
die Zeichenfolgen als südiberisch bzw. prä-südiberisch, wobei er kanarische
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Sonderformen als unbekannte Varianten oder Übergangsformen des Iberischen
erklärte.
Die Übereinstimmungen im grafischen Erscheinungsbild sind tatsächlich
erstaunlich, beziehen sich aber hauptsächlich auf relativ neutrale Zeichenformen,
die auch in vielen anderen Alphabeten des Mittelrneerraumes vorkommen.
Genauere statistische Analysen bezüglich der Häufigkeit von Buchstaben bzw.
Buchstabenkombinationen konnten allerdings eine Identität der beiden
Schriftsysteme widerlegen. Es seien hier in Kürze nur einige der Argumente
angeführt.
Bei den Vokalen gäbe es mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten. Sie
kämen insgesamt viel zu selten vor; I, 0 und U wären aufFuerteventura überhaupt
nicht repräsentiert. Auch bei den Konsonanten würden einige (R, S, L)
völlig fehlen, bei anderen wäre die Häufigkeit völlig unwahrscheinlich. Von
den im Südiberischen gebräuchlichen 11 Silbenzeichen wären höchstens 4 repräsentiert.
Zusammenfassend kann gesagt werden, daß die Transkription der
Ostinsel-Inschriften gemäß der südiberischen Schrift sowohl ein völlig lückenhaftes
Alphabet als auch eine auf der Zeichenhäufigkeit basierende Sprachstruktur
ergibt, die mit keiner bekannten Sprache des in Frage kommenden
geografischen Raumes verwandt ist.
3.1.3.
Hans J. Andersen (l 992) glaubt, in den "runenartigen Felsbildern" ein uraltes
Zahlensystem erkennen zu können. Er sieht als Basis ein "sehr altes iberisches
bzw. westeuropäisches System neolithischer Zeichen", das später einer "lateinischen
Reform" unterzogen wurde.
Einige Beispiele seiner mathematischen Gleichungen:
v s 11 r 1).1 s x 7 = 13 + 22
JAkDIIA' 7+1+3+6=17
Dieser Deutungsansatz ist so spekulativ, daß in diesem Zusammenhang nicht
näher darauf eingegangen werden soll.
3.1.4.
Gerhard Böhm (Afrikanistisches Institut der Universität Wien) transkribiert die
Inschriften nach einem "Runenalphabet" aus 14 Buchstaben, das er von den
urnordischen Runen ableitet, wobei er davon ausgeht, daß es über den
germanischen Raum hinaus so etwas wie eine "alteuropäische Runenschrift"
gegeben habe (1992, unveröfentlichtes Manuskript).
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Kanarische Runen lt. Böhm:
"A" = altkan. * A X "GH" = altkan. *GH
1A "-" = altkan. * A, *E, *O V "Q" =altkan *QU, *GU
II "I" = altkan. *I y '< "P" = altkan. *P
/\ "V" = altkan. *U V "F' = altkan. *F
1 "T'' = altkan. *T, *D N v1 "L" = altkan. *L
D "DH" = altkan. *DH R "R" = altkan. *R
< > "K" = altkan. *K, *G s "S" = altkan. *S, *H
Böhms Behauptung, die "kanarischen Runen" stimmten im weitaus größten
Teil des Zeichenbestandes mit den urnordischen Runen überein, kann nicht
unwidersprochen bleiben. Tatsächlich stimmen nur etwa 9 Zeichen überein, mit
fast jeder Schrift des Mittelmeerraumes verfügt die Ostinsel-Schrift über mehr
Übereinstimmungen.
als T anstatt als L, 1 als A anstatt als I, II als I, N als L und r als P zu
transkribieren, kann nur als willkürliche Annahme bezeichnet, nicht aber sachlich
belegt werden. Nasallaute wären in diesem System überhaupt nicht repräsentiert.
Erst bei späteren Funden aufgetauchte Grapheme werden von Böhm
gewaltsam uminterpretiert, damit sie in das System passen: H wird als l l , und
C werden als K, 1-. wird als T gelesen.
Böhm glaubt mit dieser Transkription nachweisen zu können, daß die Inschriften
in altkanarischer Sprache verfaßt sind. Seine Lesungen der kurzen
Inschriften führen fast durchwegs zu Anrufungen von Schlachtengötterpaaren.
Schwert- und Rachedämonen, Kriegsfurien und Freundgöttem, die allerdings
allesamt den Nachteil haben, daß sie weder im überlieferten Sprachgut noch
sonst wo belegt sind. Zur Technik der Transkription bzw. Lesung noch eine
kurze kritische Bemerkung:
M wird von Böhm als Ligatur TT gesehen, aus unerfindlichen Gründen als
FTTF transkribiert, als TITIFOF A gelesen und als "Schlachtengöttin mit den
glänzenden Brüsten" in den kanarischen Götterhimmel erhoben. Nicht genug
damit: Auch die erheblich vom Zeichen M abweichenden Zeichenfolgen /W ,
V MV und IA 11 M werden als TITIFOFA gelesen. Solche und zahlreiche vergleichbare
Freiheiten in der Transkription und Lesung der Ostinsel-Schrift sind
kaum dazu angetan, die These der "kanarischen Runen" überzeugend erscheinen
zu lassen.
3. 1.5.
Für Adam Reifenberger (1992: 88), der die Ostinsel-Inschriften offensicht-
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lieh nur in Form der unvollständigen und fehlerhaften Abzeichnungen kanarischer
Forscher kennt, sind die Übereinstimmungen mit der iberischen Schrift überzeugender
als die mit der pompejanischen Kursivschrift. Beides hält er jedoch
für "gegenstandslos angesichts der Tatsache, daß gerade diese abweichenden
Zeichen schon in einer Felsbildstation in Südmauretanien aufgenommen wurden
und ein großer Teil dieses überwiegend auf spitzwinklig zusammenlaufenden
Strichen auf gebauten Zeichenrepertoires an anderen nordafrikanischen
Fundstellen durchaus vermischt mit jenen mehr auf Kreis und Quadrat aufbauenden
Zeichentypen vorkommen, die hier als libysch-berberisch erfaßt und
kategorisiert wurden. Sie dürften also eine durchaus bodenständig nordafrikanische
Sonderentwicklung aus dem allen mediterranen Schriften zugrundeliegenden
phönizischen Alphabet darstellen". Dazu einige Anmerkungen:
Das Zeichenrepertoire der Ostinsel-Schrift ist absolut nicht zum überwiegenden
Teil aus spitzwinklig zusammenlaufenden Strichen aufgebaut (allenfalls
1A, M , N , r und V wären als solche zu bezeichnen).
Die für die Ostinsel-Schrift typischen Zeichen tauchen auch nicht auf
nordafrikanischen Fundstellen vermischt mit libysch-berberischen Zeichen
auf. Auf Fuerteventura treten beide Schriftsysteme in mehreren Fällen unmittelbar
benachbart auf ein und demselben Paneel auf. In zwei bis drei
Fällen scheint es so, als wäre ein libysch-berberisches Zeichen unter die der
Ostinsel-Schrift gerutscht. Solche Ausnahmefälle (zwei bis drei von nahezu
tausend Zeichen) berechtigen keineswegs dazu, eine Vermischung beider
Zeichensysteme zu konstatieren. Es ist darin höchstens ein Hinweis
darauf zu sehen, daß der Schreiber beide Systeme (mehr oder minder)
beherrschte.
Die Folgerung, die Ostinsel-Schrift sei eine "Sonderentwicklung aus dem
phönizischen Alphabet" beruht daher auf grundsätzlich falschen Annahmen.
Die punzierte Inschrift 134/C III 5 aus dem Barranco del Cavadero (bei
Reifenberger horizontal statt vertikal wiedergegeben) stuft auch er, so wie
die kanarischen Entdecker, als libysch-berberisch ein.
3 .2. Die Zeichen
Bei genauer Betrachtungsweise können in den bisher auf Fuerteventura
dokumentierten Zeilen der Ostinsel-Schrift über 70 grafisch unterschiedliche
Zeichen isoliert werden. Diese Feststellung würde für das Vorliegen einer reinen
Silbenschrift (typischerweise 50 bis 80 Zeichen) sprechen. Bei noch genauerem
Augenschein sind jedoch zahlreiche Zeichen mühelos als Ligaturen
(z.B.: = Vl), andere sehr leicht als Varianten anderer Zeichen erkennbar
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(z.B.: I" = k ). Um wie viele unterschiedliche Grapheme es sich tatsächlich
handelt, ist allerdings nicht so leicht festzustellen.
3 .3. Die Schreibrichtung
Da in den benachbarten Kulturräumen (Iberische Halbinsel, Nordafrika)
durchaus unterschiedliche Schreibrichtungen üblich waren (auch das Griechische
und das Lateinische wurden ursprünglich linksläufig geschrieben), ist
Rechtsläufigkeit nicht von vomeherein anzunehmen. Abgesehen von den in
dieser Hinsicht neutralen, weil symmetrischen Zeichen ( 1 , 11, 0 , M , V, X , /\ ),
verweisen jedoch die, die eine linksläufige Schreibrichtung deutlich markieren
könnten, fast ausnahmslos nach rechts: C, l 1, , k, fl., r, B etc. Nur einige
wenige, sehr seltene Zeichen (z.B.:,) bieten Argumente für Linksläufigkeit
an. Insgesamt gibt es keine einzige Zeile, die aufgrund ihres Aussehens
Linksläufigkeit plausibel machen würde.
3.4. Das Alphabet
Alle folgenden Betrachtungen gehen von der These aus, daß es sich bei der
Ostinsel-Schrift um eineV ariante der lateinischenK ursivschrift handelt. Das ist
keine willkürliche Annahme, sondern Ergebnis einer umfangreichen Studie, in
die alle bekanntenS chriftsysteme des inF rage kommenden geografischen Raumes
- im wesentlichen des westlichen Mittelmeerraumes - einbezogen wurden.
Von diesen zahlreichen Schriften erfüllt die lateinische Kapitalkursi ve am ehesten
die allerersteF orderung anj edeT rankrsiption: nach sinnvoller Repräsentanz
eines phonernischen Systems.
Exkurs: Die Entwicklung der lateinischen Schrift
Nach der communis opinio der heutigen Forschung haben die Römer ihre
Schrift im 7. Jahrhundert v.Chr. von den Etruskern übernommen. Ab diesem
Zeitpunkt ist eine eigenständige Entwicklung des lateinischen Alphabets zu
beobachten, die von großer Einheitlichkeit und Konstanz gekennzeichnet ist,
was auf den ursprünglich geringen Umfang des Verbreitungsgebietes zurückzuführen
ist. Das Alphabet bestand ursprünglich aus 21 Buchstaben:
ABCDEFZH IKLMNOPQRSTVX
Die erste Änderung bestand darin, daß man die Schreibung des F vereinfachte.
Hatte man dem stimmhaften griechischen F ursprünglich ein H hinzugesetzt (F
B ), um seine Stimmlosigkeit zu bezeichnen ( den stimmhaften Reibelaut schrieb
man mit V), so ließ man in Hinkunft das H weg. Die Eigenentwicklung setzte
sich damit fort, daß man das Z (zur Bezeichnung des stimmhaften S) wegließ.
An seine Stelle trat als neuer Buchstabe das G, das aus dem C durch Hinzufü-
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Abb. 1 Das Alphabet der lat. Kursivschrift (nach Zangemeister)
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X y l
)( y z
X r
X y-
b< y
IY
y
'(
'f
r
Lf
gen eines kurzen Striches abgeleitet wurde. Nach der Überlieferung ist diese
Neuschöpfung durch den Schreiblehrer Spurius Carvilius im Zeitraum von 250
- 230 v. Chr. geschehen; nach H. Eichner findet sich der älteste Beleg in einer
um die Mitte des 3. Jhs. zu datierenden Inschrift der Marrukiner, eines nordoskischen
Volkes. Für die gesamte republikanische Zeit galt nun das Alphabet:
ABCDEFGHIKLMNOPQRSTVX
Nachdem 146 v. Chr. das griechische Mutterland dem Römischen Reich
eingegliedert worden war, machte sich ein verstärkter griechischer Kultureinfluß
bemerkbar. Mit zahlreichen Lehnwörtern wurden auch die griechischen Buchstaben
Y und Z übernommen. Ihren festen Platz am Ende des Alphabets erhiel-
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8050 Infra ad sin. e&rbone scriptus. Longitudine rm. 3
\ ('J\ C.\ \;\!
lbidem n. 8. - [ Pr ]i,rigenius r.
8053 Infra in tectorio coroso
J t\1 ij, ,1«
lbidem n.11. - Asius Sec[un]di[o].
Abb. 2 Beispiele für Dipinti aus Pompeji
ten sie jedoch erst in der Kaiserzeit (nach 27 v. Chr.). Bis dahin war an Stelle
des griechischen Y einV , an Stelle des Z am Wortanfang ein S, im Wortinneren
ein SS geschrieben worden. Somit bestand das lateinische Alphabet der Kaiserzeit
aus 23 Buchstaben:
ABCDEFGHI KLMNOPQR STVXYZ
Die Trennung von I und J bzw. von U, V und W geschah erst in nachantiker Zeit.
Die Fonn der Schriftzeichen tritt uns ursprünglich in der sogenannten Capitaloder
Monumentalschrift (scriptura monumentalis, scriptura lapidaria) entgegen.
Sie wurde im besonderen für wichtige statliche und private Inschriften
auf Denkmälern oder Grabsteinen verwendet und erreichte zur Zeit des Augustus
ihre höchste Vollendung.
Aus dieser gewissennaßen ofiziellen Denkmälerschrift entwickelte sich
schon in früher Zeit eine Schrift für den täglichen Gebrauch. Im Alltag wurde
mit einer Rohrfeder, einem Pinsel oder einem bronzenen Schreibgrifel auf
Papyrus, einer Wachstafel oder auf einer geweißelten Holztafel geschrieben.
Diese Kursivschrift (Kapitalkursive oder Majuskelkursive) baut zwar auf den
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Lateinisches Ostinselschrift Häufigkeit
Al phabet Einzelzeichen Varianten
A A 01:/\(02:/\ ?) 23 %
B B b1: B 0,3 %
C
D D (d1:I > ?) 2%
E II 4%
F 1 t 3%
G 91:{ ,2:C 0,8 %
H N? ? (0,2 %)
1 1 18 %
K C k1: ( 3%
L k 11: 1 J\ ,12: "1,13: k 2%
M M m1:M 3%
N N n1 : v1 8%
0 0 (/\ ?) 0,2 %
p
Q
R R r1: tt ,r2: 1 c ,r3: IZ 2%
s s 51:S ,S2: ,53:5 7%
T r t1 :Y , t2:l' 6%
t3:T ,t4:Y ,t5: ,(t6:( ,t1X)
V V 14 %
X (X?) (0,3 %)
Abb. 3 Das Alphabet der Ostinselschrift
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Buchstaben der Capitalis auf, verändert aber zum Teil ihre Fonn und venittelt
insgesamt einen flüchtigen und abgeschliffenen Charakter. Bei schnellem Schreiben
auf Papyri oder Wachstafeln wurden die Buchstaben häufig miteinander
verbunden und so stark abgewandelt, daß die Schrift für Ungeübte nicht mehr
lesbar ist. Weit über Expertenkreise hinaus bekannt geworden ist diese
Kursivschrift durch die vielen tausend Wandinschriften in Pompeji und
Herculaneum. Aber auch in Carnuntum bei Wien und am Magdalensberg bei
Klagenfurt konnten zahlreiche Grafiti dieser Art gefunden werden.
Die Entwickung der Kapitalkursive dürfte bis ins 5. Jahrhundert v. Chr.
zurückreichen, gegen Ende des 3. Jahrhunderts war sie jedenfalls schon ziemlich
gebräuchlich. Obwohl die kursiven Buchstaben - von Plautus als "Krähenfüße"
bezeichnet - in unzähligen Variationen vorliegen, ist es dennoch fast
unmöglich, konkrete Buchstabenfonnen bestimmten Zeiten oder Regionen
zuzuordnen. Die Tabelle Abb. l (nach Zangemeister 1871) gibt nur einen Bruchteil
der Möglichkeiten wieder.
Ein typisches Merkmal des Kursiven ist die stark ausgeprägte Tendenz zur
Vertikalisierung, also das Venneiden waagrechter Striche. Im speziellen waren
vor allem fünf Buchstaben von diesen Veränderungen betrofen (nach Petrucci
1989:42t):
1) Beim A veränderte sich der horizontale Querstrich zu einem schrägen oder
senkrechten Strich: />,. oder f'r.
2) Beim E wurden die drei schrägen Striche zuerst abgetrennt und verschmolzen
schließlich zu einem senkrechten Strich: E > 1 > II
3) Ähnliches geschah beim F: J: > i:: > I'
4) Das O öffnete sich an der Unterseite, die geschwungenen Linien wurden
gerader: 0 > () > f\
5) Das R öffnete sich: h. > 1
Eine zweite Tendenz, die besonders bei Felsinschriften ausgeprägt ist, ist
die Bevorzugung eckiger Fonnen gegenüber runden:
s > s
C > <
() > A
l > h.
Diese Erscheinung ist sehr gut durch die Tatsache erklärbar, daß sich gerade
Linien wesentlich leichter einritzen lassen als runde.
Alle Details dieser für kursive Felsinschriften typischen Tendenzen, sowohl
die der Vertikalisierung als auch die zu gerader Linienführung sind in der Ostinsel-
Schrift hundertprozentig repräsentiert. Ganz anders bei den punzierten
Zeilen (siehe besonders 1342). Hier überwiegen runde Fonen, die durchaus
130
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mit den aus Pompeji und Herculaneum bekannten "dipinti" vergleichbar sind
(Abb. 2).
3.5. Die einzelnen Buchstaben des Ostinsel-Alphabets (Abb. 3):
>A < Fast ausschließlich durch 1A wiedergegeben. Das ist im Lateinischen die
häufigste der vielen Varianten des kursiven A. Aufällig ist das häufige
Vorkommen von A in Ligaturen.
Die selten vorkommende Variante l:o.. ist auch in lateinischen Inschriften
(Zangemeister 1871) belegt.
Auch/\ ist als unvollständiges A denkbar, in unzähligen lateinischen
Graffiti (Pompeji, Herculaneum) ist es in dieser Form belegt.
Ob es sich bei!(, I> und /1. um flüchtige Varianten des A oder um
Ligaturen ( denkbar wären AT und AX) handelt, kann höchstens aus
dem sprachlichen Kontext ermittelt werden.
>B< Bisher erst dreimal belegt, davon zweimal fragmentarisch. Die Öfnung
bei Variante b1 ist ein typisches Merkmal kursiver Schreibweise.
>C< sieheK
>D< Die wenigen Vorkommen des D weisen so klare Formen auf, daß es kein
Problem der Zuordnung gibt.
Variante di: Dieses nur einmal vorkommende Zeichen wäre durch das
Merkmal der Öfnung und die Tendenz zu geraden Linien als typisch
kursiv erklärbar. Ofene D gibt es in lateinischen Inschriften tatsächlich
häufig,jedoch nicht in dieser eckigen Form.
>E< Nur in Form des für das Kursive typischen II vertreten. Laut Meyer
(I 991 : 3 7) trat es in der Kaiserzeit besonders häufig in Gallien auf und
wird in der modernen Literatur deshalb häufig "gallisches E" genannt.
Zur Abgrenzung dieses E von einem doppelten I bzw. eines aufeinanderfolgenden
EI oder IE wurde im Lateinischen das "1-longum", ein über
die normale Zeilenhöhe verlängertes !-Zeichen, eingeführt.
>F< Tritt ausschließlich in der Form des I' auf. Das ist eine von vielen möglichen
Varianten des kursiven F, die wie das II durch die Tendenz zur
Vertikalisierung zu erklären sind.
>G< Normalform:. Zu den Varianten g1 und g2
: Auch im Lateinischen sind
zahlreiche Möglichkeiten zu beobachten, wie der kurze zweite Strich
dem C hinzugefügt wurde.
>H< Das Zeichen H ist erst zweimal belegt, zusammen mit der ofensichtlichen
Variante i:I immer in der gleichen Zeichenfolge. Ein H mit schräg
2 Zeilenumern beziehen sich generell auf die Tabellen am Schluß des Aufsatzes.
131
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G)
@
®
Abb. 4 Beispiele für lat. Buchstabenformen
132
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G) cs,A&
@ CQF'AR)
® CiVCVVO)
0 ("f rvü
® Q(.1 EAE 1)
@ (Qf„VIY@
0 (0 ftA/ RN C)
Abb. 5 Beispiele für Buchstabenformen auf Keramikstempeln
133
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nach rechts abfallende Querstrich ist in der lateinischen Kursivschrift
sehr selten, das Abfällen nach links ist häufiger belegt. Die Variante mit
doppeltem Querstrich ist im Lateinischen überhaupt nicht belegt, es gibt
sie allerdings im archaischen Griechisch und im Phönizischen. Denk.bar
wäre auch, daß es sich bei diesen Zeichen um Varianten des
N handelt, es ist in dieser Form auch in lateinischen Inschriften belegt,
z.B. in einer aus Badajoz/Spanien (Mallon 1952, Tafel XXIX, Nr. l )
Abb.4/1.Schließlich ist das N ( ebenso wie das H ) auch als Ligatur fü r IN
( oder INI) lesbar. Beispiele dafür gibt es unter den nordafrikanischen
Töpfermarken des 1. Jhs. n.Chr. (Abb. 5/1 und 5/2: Guery Nr. 178 und
Laubenheimer Nr. 2)
>I< Über die Zuweisung einzelner senkrechter Striche gibt es im Prinzip
wenig Zweifel. In einigen konkreten Fällen ist allerdings nicht mit Sicherheit
zu sagen, ob es sich um ein "i" oder das Fragment eines anderen
Buchstaben handelt. Das extrem häufige Vorkommen senkrechter Striche
ist sicher auch mit dem schlechten Erhaltungszustand vieler Zeilen
zu erklären.
>K < Normalform: C . Die eckigere Form< beruht sicher nur auf der Bevorzugung
geradliniger Formen gegenüber runden. Auffällig ist, daß das K
extrem häufig vor I und nie vor E auftritt.
>L< Auch in der lateinischen Kursivschrift gibt es unzählige Möglichkeiten,
wie der in der Monumentalschrift waagrecht angebrachte Strich verändert
wurde. Die auf Fuerteventura dokumentierten Varianten 11
- 13 sind
alle im Lateinischen belegbar.
>M< Sowohl die Normalform als auch die Variante mit überkreuzten inneren
Hasten sind eindeutig zuzuordnen.
>N< Daß auch die seitenverkehrte Form n1 als N anzusprechen ist, ist durch
die Gegenüberstellung von Zeile 100 und Zeile 107 bewiesen. In zahlreichen
europäischen Hafenorten (auch auf den Kanarischen Inseln) ist
dieses seitenverkehrte v1 auch heute noch in den Namen der Fischerboote
zu finden. Auch unter den nordafrikanischen Töpfermarken ist das
seitenverkehrte v1 häufig vertreten (Abb. 5/3: Guery Nr. 63), ebenso die
nach rechts geöfnete Variante 1v (Abb. 5/4: Guery Nr. 223).
>O< Das O in mehr oder minder runder Form konnte erst auf einem Paneel
nachgewiesen werden (B 1). Das für die lateinische Kursivschrift typische,
unten geöfnete O mit leicht gebogenen Hasten ist aufFuerteventura
nicht vertreten. Dafür ist das Zeichen A mit geradlinigen Hasten durchaus
auch als O interpretierbar, kann allerdings auch ein schlampiges A
darstellen. Auch in lateinischen Inschriften ist diese Mehrdeutigkeit erst
134
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aufgrund des schriftlichen Kontextes auflösbar.
>P< Bisher nicht eindeutig belegt.
>Q< Bisher nicht belegt.
>R< Auf Fuerteventura ausschließlich in der typischen Kursivform vertreten,
in der sich die rechte, geschwungene Linie nicht mehr völlig dem linken,
geraden Strich annähert: l . Die Variante h. , in der der obere Teil der
rechten Haste geradlinig verläuft und der daraufolgende Bogen mit
einer Kante ansetzt, ist nur in der Fundstelle Morro Pinacho belegt. Auch
die völlig ofenen Formen in Zeile 17 (r2) und Zeile 79 (r3) sind wahrscheinlich
als R zu transkribieren.
>S< Bietet in seiner Normalform keinerlei Zuordnungsproblem. Auch die
seltene eckige Variante S (s1) ist mühelos als S erkennbar. Für die
seitenverkehrte Form s2 gilt das, was unter >N< bereits über die Beschriftung
von Fischerboten gesagt wurde. In Zeile 118 wäre das allerdings
auch als nicht ganz verbundener Bestandteil der Ligatur erklärb.
Alle übrigen Beispiele (181/195/206) kommen in sehr fragmentarischen
und unsicheren Zeilen vor. Im übrigen tauchen seitenverkehrte S auch in
lateinischen Graffiti des Römischen Reiches auf, z.B. in einem Alphabet
an den Hauswänden von Pompeji (Abb. 4.3), aber auch unter den
nordafrikanischen Töpfermarken (Abb. 5/5: Guery Nr. 199). Das S in
Normalform mit zwei runden Bögen ist - zumal bei rauher Felsoberfläche
- nicht leicht zu ritzen, deshalb liegt es in vielen Variationen vor. Einige
davon sind so verunglückt, daß sie nicht mehr mit Sicherheit als S identifiziert
werden können (z.B. Zeile 56). Der Vergleich von Zeile 41 und
Zeile 131 ergibt, daß es sich bei s3 um eine völlig mißglückte Variante
des S handelt.
>T< Das r gehört zu den sechs häufigsten Zeichen der Ostinsel-Schrift. Exakt
in dieser Form ist es allerdings unter den zahlreichen Varianten des T
im Lateinischen nur extrem selten belegt, z.B. CIL IV, 9170 (Abb. 4.2.).
Es kann dort eher als häufige Form des Y, aber auch als seltene Variante
des S gesehen werden. Daß es hier dennoch mit dem Buchstaben T
gleichgesetzt werden soll, hat mehrere Gründe:
l) Sehr ähnliche Formen des T mit schräg nach rechts ansteigendem
Querstrich sind im Lateinischen vielerorts belegt. Die Schrägstellung
des Querstrichs ist durch die oben genannte Tendenz zur Vertikalisierung
gut erklärbar.
2) Daß das r in den Zeilen der Ostinsel-Schrift fast ausschließlich zwischen
zwei Vokalen und nur ein einziges Mal zwischen zwei Konsonanten
auftritt, spricht gegen das Y und für das T.
135
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3) Wenn r = Y wäre, wo wäre dann das Zeichen für T?
Zu den Varianten Y und : Isoliert gesehen müßte man diese Zeichen mit
Sicherheit als Y transkribieren. Ein Vergleich der Zeilen 191 und 193 mit
den Zeilen 185, 187 und 192 zeigt jedoch, daß es sich um Varianten des
r handelt. Unter den nordafrikanischen Töpfermarken ist die Variante Y
ebenfalls belegt (Abb. 5/6: Guery Nr. 228).
Auch die Varianten r, Y, 1' und t sollen bis zum Beweis des Gegenteils
als T gewertet werden. Die beiden letzteren könnten theoretisch auch
F oder P bezeichnen, das zweite wäre als Y denkbar.
Zu den Varianten t6 und t7
: siehe Kap. 4.4.2.
>V< Das Zeichen V steht, so wie im Lateinischen, zumindest für U, V und W.
>X< Ist innerhalb einer Zeile nirgends deutlich belegt. An zwei Stellen ( 132,
141) taucht es in verkleinerter Form zwischen Zeichengruppen auf. /'A
könnte als Ligatur AX gelesen werden.
> Y < nicht belegt
>Z< nicht belegt
Ein Vergleich dieser Buchstabenformen mit den unzähligen Varianten der im
Römischen Reich üblichen Kursivschriften ergibt naturgemäß wenig Ähnlichkeiten
mit den extremen Kursivformen, wie sie auf weichen Wachstafeln und
Papyri geschrieben wurden. Materialbedingt sind Schriften auf härterem Untergrund
den Felsinschriften Fuerteventuras wesentlich ähnlicher, z.B. den Grafiti
an den Hauswänden Pompejis und vor allem auch Inschriften auf Bleitafeln.
Die Tabelle, die B. von Hoesen (1915: table B) für Bleitafeln aus dem Zeitraum
I. Jh.v. bis I. Jh. n.Chr. zusammengestellt hat, ist nahezu identisch mit dem
Alphabet der Ostinsel-Schrift (Abb. 6)
Um Raum - und damit wohl auch Arbeitszeit - zu sparen, war es (nicht nur
im Lateinischen) üblich, zwei oder mehr Buchstaben so aneinanderzufügen,
daß mindestens eine der senkrechten oder schrägen Hasten eingespart wurde.
In extremen Fällen (bei drei oder mehr Buchstaben) erweckt es manchmal
den Eindruck, als habe man den Text mit Absicht unleserlich gestaltet.
Über den zeitlichen Beginn dieser Technik der Verkürzung gibt es keine
übereinstimmenden Aussagen. Laut Meyer (1991: 42) wird sie bei der Monumentalschrift
erst seit etwa 150 n.Chr. gebräuchlich und bleibt in der republikanischen
Zeit seltene Ausnahme. Jensen (1959: 497) datiert die zunehmende
Anwendung von Ligaturen bis ins 2. Jahrhundert v.Chr. zurück. Petrucci (1989:
44) registriert auch in Hinsicht auf die Kursivschrift ein völliges Fehlen von
Ligaturen bis ins I. Jahrhundert n.Chr.
Tatsache ist, daß in den Wandinschriften von Pompeji und Herculaneum
(spätrepublik. - 79 n.Chr.) zahlreiche Ligaturen belegt sind (Abb. 4.4), Buchsta-
136
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Abb. 6 Alphabet der lat. Kursivschrift auf Bleitafeln
137
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Ligatur Transkription Häufigkeit
1 IN AN,AV 40
2 M MA,NA 13
3 VA VA 12
4 IM Ak 7
5 'k VR 5
6 w VN 4
7 V VY 3
8 ti:I AVY 2
9 Y/ rv 2
10 w VAN 2
11 \J) VD 2
12 A IR 2
13 /'A AX 2
14 f" IN 2
15 M AM 2
16 tr II r 1
17 M. All r 1
18 V vs 1
19 tR AR 1
20 /( /\ r 1
21 l>1 II v1 1
22 lf. Ar 1
23 Y,/1N rVMV 1
24 w VM 1
Abb. 7 Die Ligaturen der Ostinselschrift (1-33)
138
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25 w VlVY ,VVlY 1
26 N /\ VY 1
27 J:<I Arv 1
28 w rvv 1
29 M IAVIAIA, IAMIA 1
30 /§ !AS 1
31 m AS V 1
32 /jJj Arv 1
33 w rvrv 1
ben wurden aber auch aneinandergefügt, ohne Striche einzusparen (Abb. 4.5).
Erwiesen ist auch, daß diese "stenographische" Technik besonders häufig
in den Randgebieten des Römischen Reiches (Gallien, Britannien, Afrika) Anwendung
fand.
Cagnat (1914: 24f) listet 133 Kombinationen von zwei Buchstaben und 45
Kombinationen von drei Buchstaben auf. Eine hundertprozentige Übereinstimmung
der auf Fuerteventura dokumentierten Ligaturen mit dieser Liste ist aus
mehreren Gründen nicht zu erwarten:
Im Alphabet der Ostinsel-Schrift fehlen einige Buchstaben (X, Q)
Cagnats Liste bezieht sich auf das klassische lateinische Alphabet, während
wir es auf Fuerteventura mit den kursiven Buchstabenformen zu tun haben.
Cagnat betont, daß er nur die häufigsten Ligaturen wiedergibt, es waren
also auch noch andere üblich.
Berücksichtigt man diese Einschränkungen, so ergibt der Vergleich eine erstaunlich
gute Übereinstimmung (Abb. 7).
Anmerkungen zu den einzelnen Ligaturen:
N Cagnat unterscheidet für die Monumentalschrift zwischen = AN
und N = A V. Daß diese Unterscheidung in der wesentlich flüchtigeren
Kursivschrift nicht exakt eingehalten wurde, ist an zahlreichen
lateinischen Texten belegbar. Z.B.: f>J = SAN (in Flachziegel
eingeritzte Inschrift von Carnuntum), aber auch bei den nordafrikanischen
Töpfermarken (Abb. 5/7: Guery Nr. 135). N wird wohl in
der überwiegenden Mehrzahl als AN zu transkribieren sein, vor
139
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allem am Zeilenende.
2 M Entspricht dem M bei Cagnat. Im übrigen beweisen die Zeilen 149
und 141/142 diese Deutung. Die beiden Varianten M. (66) und
MA (55) lassen sich eindeutig zuordnen. r. ist als Variante des A
auch in anderen lateinischen Inschriften belegt (z.B. Cagnat 1914:
7), auch die Ligatur M. ist in pompejanischen Inschriften belegt (B.
v. Hoesen 1915: table A-hier allerdings als NA transkribiert). MA
kann durch den Vergleich von Zeile 55 und Zeile 109 als gesichert
gelten.
3 0. Entspricht dem \A bei Cagnat
4 /'M Entspricht dem A. bei Cagnat. Im übrigen beweisen die Zeilen 131
und 41 diese Deutung.
5 Entspricht dem \A bei Cagnat
6 W Entspricht dem \A.J bei Cagnat
7 V Entspricht dem \l bei Cagnat
8 r>1 Entspricht dem .AJ bei Cagnat
9 V/ Entspricht dem V bei Cagnat
1 0 W Kommt bei Cagnat nicht vor. Das ist wahrscheinlich dadurch erklärbar,
daß die Buchstabenkombination V AN im Lateinischen sehr selten
vorkommt.
I I \/J Identisch mit dem \/J bei Cagnat
1 2 ,1 Identisch mit dem ,1 bei Cagnat
13 /'/. Kommt bei Cagnat nicht vor. Wäre als Ligatur AX denkbar, allerdings
ist die Existenz des X noch nicht eindeutig bewiesen.
1 4 I" Wäre denkbar als IN (bei Cagnat ). Der Vergleich der Zeilen 43 und
27 bietet ein Indiz in dieser Richtung.
1 5 M Entspricht dem M bei Cagnat
Damit sind alle Ligaturen, die öfter als einmal vorkommen und somit als einigermaßen
gesicherte grafische Zeichen gelten können, mit dem Zeichenbestand
des lateinischen Alphabets erklärbar, fast alle sind mit solchen aus Cagnats
Auflistung identisch bzw. vergleichbar.
Auch unter den nur einmal vorkommenden Ligaturen gibt es einige, die mit
solchen aus Cagnats Tabelle verglichen werden können:
I 8 V Entspricht dem V bei Cagnat
I 9 A\ Entspricht dem A. bei Cagnat
22 /f. Entspricht dem A bei Cagnat
24 W Entspricht dem W\ bei Cagnat
25 W' Entspricht dem W bei Cagnat
Alle übrigen lassen sich ebenfalls mit dem Zeichenrepertoire der lateini-
140
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sehen Kursivschrift erklären. Im übrigen ist zu ihnen anzumerken, daß sie fast
ausschließlich in stark fragmentarischen Zeilen oder ganz isoliert ohne Kontext
vorkommen, so daß sie auch etwas ganz anderes sein könnten, z.B. Stammeszeichen
oder überhaupt nur mißlungene Schreibversuche. Soviel zu einem Vergleich
mit den Ligaturen der Monumentalschrift.
Die Auflistungen der Ligaturen des CIL, das auch Kursivinschriften umfaßt,
enthalten auch einige kursive Ligaturen, die alle völlig identisch mit den
auf Fuerteventura beobachteten sind:
0. = UA (auch als 'vi und 'A)
M=AM
M=MA
IN = AU, AN (auch alsh-1)
In diesen Listen ist auch ein 'f enthalten, das dem V der Ostinsel-Schrift schon
sehr nahe kommt. Die Zeichen 'v' und Y/ gibt es übrigens auch in Inschriften
des CIL, und zwar für die Abbreviatur UU. Diese Auslegung kommt für die
Texte Fuerteventuras mit Sicherheit nicht in Frage. Auch die Transkription des
Zeichens!<. als AE kann nicht auf Zeile 229 angewendet werden, da es sich auf
die (nichtkursive) Normalform des E bezieht.
Betrachtet man die Häufigkeit der Ligaturen in den Zeilen der Ostinselinschriften,
so fällt auf, daß einige wenige sehr häufig Anwendung fanden, die
überwiegende Mehrzahl aber nur einmal auftaucht. Auch diese Beobachtung
findet ihre Entsprechung in den Inschriften des CIL. Auch dort steht einer
kleinen Gruppe sehr häufiger Ligaturen eine Vielzahl sehr seltener Buchstabenverbindungen
gegenüber. Hier war ofensichtlich der Kreativität einzelner Schreiber
keine Grenze gesetzt. Daß es sich nicht in beiden Fällen zur Gänze um die
gleichen Ligaturen handelt, die besonders häufig vorkommen, ist sehr gut verständlich,
da es sich doch ofensichtlich um zwei unterschiedliche Sprachen
handelt.
Auch eine vergleichende Untersuchung der Ligaturen in nordafrikanischen
Töpfermarken des l. nachchristlichen Jahrhunderts ergibt frappante Parallelen.
In den 562 bei Guery und Laubenheimer dokumentierten "Zeilen" gibt es etwa
50 verschiedene Ligaturen, von denen 75 % nur ein- bis zweimal auftauchen (in
den Ostinsel-Zeilen 78 %!), zwei Ligaturen dominieren ganz deutlich: MA vor
AN (in den Ostinsel-Zeilen AN vor MA!).
Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß 99% aller aufFuerteventura
dokumentierten Zeichen der Ostinsel-Schrift durch das lateinische Kursiv-Alphabet
erklärbar sind.
3. 7. Sonstige Zeichen
141
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L
---::::Abb. 8-::;;; Lateiiniisc lh e Wandinsc h n·t en aus Pompeji
142
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Offensichtlich verkritzelte Zeichen wie in Zeile 6, 60, 81 oder 125 sollen
hier nicht näher behandelt werden. Für sie gibt es mehrere mögliche Ursachen:
mangelnde Kenntnis der Schrift, Überlagerung verschiedener Ritzungen etc.
Solche Erscheinungen gibt es auch im Bereich anderer Inschriftenkomplexe.
Für die folgenden Zeichen sind Erklärungen im Rahmen der lateinischen
Kursivschrift denkbar:
Nr. Zeichen Zeile Kommentar
1 1 18/39/53 Fragment eines Moder N
2 120 rechter Teil eines R ?
3 J 15 3 Ligatur NI?, seitenverkehrtes L?
4 G. 200 mit großer Wahrscheinlichkeit G
Als "exotische" Zeichen im eigentlichen Sinn werden hier nur solche gewertet,
die als deutlich erkennbare Ritzungen in einer Reihe mit Zeichen der
Ostinsel-Schrift stehen und aus dem Zeichenrepertoire dieses Alphabets nicht
erklärt werden können. Unter den mehr als tausend Zeichen sind dies nur zwei,
untereinander sehr ähnliche: { l (139/161). Auf ihre mögliche Deutung wird
im Kapitel Phonologie eingegangen.
3.8. Argumente für und gegen die lateinische Kursivschrift
Argumente für die lateinische Kursivschrift:
- Alle 16 bisher gesicherten Einzelzeichen der Ostinsel-Schrift sind mit denen
des lateinischen Alphabets identisch bzw. sehr ähnlich.
- Alle 5 für die lateinische Kursivschrift besonders typischen Buchstabenformen
sind vertreten.
- Auch die Varianten der Normalformen sind fast ausschließlich durch lateinische
Inschriften anderer Regionen belegbar.
- Fast alle übrigen Zeichen der Ostinsel-Schrift sind als Ligaturen aus den 16
Einzelzeichen erklärbar.
- Auch diese Ligaturen stimmen zum größten Teil mit solchen lateinischer
Inschriften anderer Regionen überein.
- Die aus dieser Transkription resultierenden Lautfolgen sind bis auf ganz
wenige Ausnahmen realistisch und lesbar.
- Die Häufigkeitsverteilung der Laute bzw. Lautgruppen ist durchaus vergleichbar
mit der von Sprachen geografisch benachbarter Räume.
Argumente gegen die lateinische Kursivschrift:
- Vier Buchstaben des lateinischen Alphabets fehlen (C, P, Q, X?).
- Einige Zeichen sind nicht mit dem lateinischen Alphabet erklärbar.
- Einige Ligaturen sind nicht eindeutig erklärbar.
- Einige Zeichenfolgen erscheinen ungewöhnlich.
143
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Drei der vier eben genannten Gegenargumente würden aber auch auf zahlreiche
Graffiti in Pompeji und Herculaneum zutrefen. Auch dort tauchen inmitten
lateinischer Buchstaben "exotische" Zeichen auf (Abb. 8/1), auch dort gibt es
für den Laien schwer entziferbare Ligaturen und Abbreviaturen (Abb. 8/2),
auch dort gibt es ofensichtlich sinnlose oder schwer deutbare Zeichenfolgen
(Abb. 8/3 und 8/4).
Und trotzdem gibt es niemanden, der ernsthaft am lateinischen Charakter
des gesamten Inschriften-Corpus dieser beiden Fundorte zweifelt. Ähnliche
Feststellungen lassen sich auch für Inschriftenfunde anderer Regionen trefen:
etwa für die libysch-berberischen Inschriften Nordafrikas. Auch hier zweifelt
niemand trotz unzähliger lokaler Varianten und "unlesbarer" Zeichenfolgen an
der grundsätzlichen Zugehörigkeit zu ihrer Gruppe. So ergibt Chabots RIL ein
Alphabet von 20 - 22 Zeichen sowie etwa 11 "Sonderzeichen", die meist nur
einmal vorkommen, Galands "Inscriptions Antiques du Marne" ein Alphabet
von 21 Zeichen und 16 "Sonderzeichen", die nur einmal vorkommen.
3.9. Datierung
Die Datierung lateinischer Inschriften aufgrund von Besonderheiten der
Buchstabenformen ist ein Problem für sich.
Ernst Meyer (1991: 98): "Lateinische Inschriften nach ihrer Schrift zu datieren,
ist nicht möglich, jedenfalls nicht genauer als nach den groben Kriterien
archaisch, republikanisch, kaiserzeitlich, spätantik". Diese Aussage gilt allerdings
in erster Linie für Monumentalinschriften, die insgesamt doch wesentlich
normgetreuer sind als Kursivschriften.
Berücksichtigt man den Zeichenbestand des Alphabets der Ostinsel-Schrift,
so ergibt sich durch die Existenz des "g" als terminus post quam der Zeitraum
um 250 v. Chr. Nach Petrucci (1989: 44) erreichte die Kursivschrift zwischen
dem 1. Jahrhundert v.Chr und dem 1. Jahrhundert n.Chr. ihre klarste und typischste
Form. Auch aus dem Vergleich mit dem Zeichenbestand zahlreicher
zeitlich und regional geordneter Alphabete (Zangemeister, Cagnat, Schiaparelli,
Maunde-Thompson u.a.) ergibt sich der Zeitraum um Christi Geburt als der
wahrscheinlichste. Damit ist aber bloß der Zeitpunkt einer Übernahme der Schrift
eingegrenzt, die Inschriften selbst könnten theoretisch beträchtliche Zeit später
angebracht worden sein.
3.10. Ofene Probleme
Abgesehen von einmaligen Varianten, die auf mangelnden Schreibkenntnissen
oder spielerischer Verformung beruhen können, sind noch folgende Fragen
ungelöst:
144
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Ulbrich 1990 Pichler 1993 Transkription
1 >IN(l<AVA sinkikaua
2 \VII /\ \ 1 I '(/ / < iufa**tyis
3 1Alv/\S\D'v\f W/\5\DV m.u a-sidua
4 i1AVV5/\ r!\DV5N tadusan
5 /\\1 />(I/\/ /\ 1 \ M II\ !\ 11 afarnae
6 Av 1/\S'<// !iasui
7 \llJ//!IAI rJ eld*aiti
8 /\ yv LJ/ aunauti
Abb. 9 Einige Ostinsel-Felsinschriften auf Lanzarote
Einzelzeichen:
Die Zeichen für H und X sind noch nicht eindeutig nachgewiesen.
Es ist noch unklar, ob/\ eine Variante des O oder eine des A ist.
Gibt es wirklich so viele Varianten des T oder sind darunter doch Zeichen für Y?
Ligaturen:
Einige sind aufgrund ihres Erscheinungsbildes nur schwer aufzulösen und
einige sind mehrdeutig.
Alle diese ofenen Fragen ließen sich nur durch eine beträchtliche Menge an
Neufunden oder durch Rückschlüsse aufgrund linguistischer Befunde lösen.
Insgesamt ergibt sich das Bild eines defektiven Zeichensystems. Daß bei
weiteren Funden zusätzliche Zeichen auftauchen ist zwar t heoretisch möglich,
statistisch gesehen aber nicht sehr wahrscheinlich. Über die festgestellten Lükken
des Alphabets wird im Kapitel "Sprache" nachzudenken sein.
3 .11. Transkription
Die auf den Seiten 207-220 angebotenen Transkriptionen sind als Arbeitshypothese
zu verstehen. So manche Detailfrage wird erst nach ausführlichen
linguistischen Analysen zu beantworten sein.
145
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3.12. Die Ostinsel-Inschriften Lanzarotes
Gleichzeitig mit den ersten Funden auf Fuerteventura wurden auch einige
Zeilen dieses Schriftsystems auf Lanzarote entdeckt (Brito Martin 1980, Le6n
Hernandez 1985). 1990 konnte H.J. Ulbrich einige neue Paneele ergänzen.
Viele dieser Paneele sind dadurch charakterisiert, daß mehrfach übereinandergeritzt
wurde, so daß nur relativ wenige Zeilen deutlich lesbar, bzw. für eine
linguistische Auswertung heranzuziehen sind. Im folgenden soll kurz auf die
letzteren eingegangen werden und zwar mit einigen Korrekturvorschlägen ( Abb.
9) gegenüber den Darstellungen bei Ulbrich (1990):
Fundstellen: 1/2: Pefia del Letrero (auch: Pefia de Cho Sosa IV)
3 - 7: Montafia Tenezar ( auch: Tenesera)
8: Barranco de las Piletas
Anmerkungen:
ad 1: mit senkrechten Strichen überitzt, die Zeichenformen stehen jedoch
aufgrund der Unterschiede in Ritztiefe und Patina völlig außer Streit.
ad 2: nicht überritzt, Mittelteil durch Herausbrechen eines Felsstückes
fragmentarisch, Beginn der Zeichenfolge identisch mit den Zeilen 13 9, 161 und
215 auf Fuerteventura.
ad 3: die Striche von wesentlich geringerer Ritztiefe am Beginn der
Zeichenfolge gehören wahrscheinlich nicht zu dieser. Das hochgestellte U ist
dadurch bedingt, daß sich darunter eine natürliche Vertiefung im Fels befindet.
ad 4: die Zeichenfolge ist bei günstigem Sonnenstand deutlich erkennbar.
ad 5: siehe 4, keinerlei Überritzung.
ad 6: inmitten eines Liniengewirrs, relativ flacher Felsen, daher sind zwei
Schreibrichtungen möglich, wahrscheinlichere Lesung <iasui>, ist mit Ausnahme
des abschließenden I identisch mit Zeile 111 auf Fuerteventura.
ad 7: Beginn der Zeile sehr fraglich, Endung <-aiti> vergleichbar mit Zeile
122 (bzw. <-iti> mit Zeile 216) auf Fuerteventura.
ad 8: Wiedergabe nach Le6n Hernandez (1988) ohne Gewähr, da die
Fundstelle bisher nicht wiedergefunden werden konnte. Die Zeichenfolge wäre
durchaus vergleichbar mit dem zweiten Teil der Zeilen 13 und 14 auf
Fuerteventura, wenn man IN als AU transkribiert:
<-uanauti> - <aunauti>.
Ein Vergleich dieser acht Zeilen mit denen Fuerteventuras ergibt:
völlige Identität der Buchstabenformen
identische Ligaturen
gleiche bzw. sehr ähnliche Lautfolgen.
Daher soll trotz der geringen Anzahl sicherer Zeilen die These formuliert werden,
daß Schrift und Sprache dieser Zeichenfolgen identisch sind mit Schrift
146
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und Sprache der Ostinsel-Texte Fuerteventuras. Es ist zu erwarten, daß bei
systematischer Feldforschung auch auf Lanzarote weitere Funde möglich sind.
4. Die Sprache
4.1. Grundsätzliche Überlegungen
Die Schrift der Ostinseln ist mit Sicherheit keine Schöpfung der Ureinwohner
der Kanarischen Inseln. Daher kann die grundsätzliche Frage bei der Suche
nach der Sprache der Texte nur lauten: Wer hat die Schrift auf die Inseln gebracht?
Klären wir vorerst die Frage, welche potentiellen Anlässe des Schriftimportes
mit großer Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden können:
Schiffbrüchige: In diesem Falle gäbe es die Inschriften nicht auf beiden
Inseln und vor allem nicht so zahlreich im Landesinneren.
Kurzfristige Besucher: Auch sie würden wahrscheinlich nur wenige Inschriften
in Küstennähe hinterlassen.
Händler: Sie hätten mit Sicherheit kein Interesse daran, zahlreiche Berge
im Landesinneren zu besteigen.
Es spricht also sehr viel dafür, daß es sich entweder um längerfristige Besucher
oder um Einwanderer gehandelt hat:
Längerfristige Besucher: In diesem Falle müßten sich die Besucher mehrere
Monate oder Jahre auf der Insel aufgehalten haben, in dieser Zeit zahlreiche
Berge im Landesinneren bestiegen und dort Inschriften hinterlassen haben, ehe
sie die Insel wieder verließen. Dieser Vorgang wäre am ehesten dadurch zu
erklären, daß die Besucher in den abgelegenen Regionen des Landesinneren
nach Rohstofen suchten. Da nicht anzunehmen ist, daß Fuerteventura im Zeitraum
um Chr. Geb. unbewohnt war, ist es fraglich, ob eine solche Rohstofsuche
von den Ureinwohnern friedlich hingenommen worden wäre.
Einwanderer: Plausibler ist die Anahme, daß es sich um eine größere
Gruppe - zivilisatorisch überlegener? - Einwanderer handelte, die sich auf den
Ostinseln dauerhaft niederließ. Wenn sie bei ihrer Einwanderung vor ca. 2000
Jahren die lateinische Schrift mitbrachten, so schränkt sich die Auswahl der
Völker, unter denen die neuen Siedler zu suchen sind, beträchtlich ein. Es kann
sich nur um die Römer oder ein romanisiertes Volk aus den Grenzen des Römischen
Reiches handeln. Lateinisch ist die Sprache der Ostinsel-Inschriften ganz
ofensichtlich nicht, dazu bedarf es keiner näheren Untersuchung. Daß Römer
auf den Kanarischen Inseln eine fremde Sprache verwendet hätten, ist ebenfalls
nicht anzunehmen. Somit verbleiben im Spektrum potentieller Sprachen vor
allem die der Iberischen Halbinsel und des nordafrikanischen Küstenlandes.
147
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Iberische Halbinsel: Da es unwahrscheinlich ist, daß Tartessier, Lusitanier
oder Keltiberer auf den Kanarischen Inseln ausgerechnet die lateinische Schrift
verwendet hätten, kommt in erster Linie das Iberische in Betracht.
Nordafrika: In dem im 1. vorchristlichen Jahrhundert bereits teilweise
romanisierten Küstenland wurden die Eingeborenensprachen des Libyschen
(Numidischen) sowie Punisch (als Nachfolgesprache des Phönizischen) gesprochen.
Nicht ausschließen sollte man die Variante, daß den Ureinwohnern der
Ostinseln (zumindest einer Gruppe von ihnen) von längerfristigen Besuchern
oder Einwanderern die Kenntnis der lateinischen Schrift vermittelt wurde. Für
diese Anahme spricht die Beobachtung, daß die Inschriften in mehreren Fällen
in große Ensembles von Felsritzungen integriert sind, die den Eindruck
erwecken, als hätten hier viele Generationen ihre "grabados" hinterlassen. Auch
Trockensteinbauten und Keramik, die der altkanarischen Kultur zuzurechnen
sind, sind in einigen Fällen in benachbarter Lage zu finden. Die altkanarische
Sprache sollte also in die folgenden Überlegungen einbezogen werden.
4.2. Sprachstatistik
Wenn wir nicht annehmen wollen, daß in den Ostinsel-Inschriften eine bis
heute völlig unbekannte Sprache dokumentiert ist, so erscheint es also sinnvoll,
unter Bericksichtigung der oben genannten Kriterien die Sprachen geografisch
benachbarter Räume nach ihrem Ähnlichkeitsgrad mit den Ostinsel-Texten zu
untersuchen.
Dazu stehen nach heutigem Stand der Wissenschaft nicht nur linguistische
Methoden (Übereinstimmungen im Wortgut, grammatikalische Strukturen etc.)
zur Verfügung, sondern auch die Möglichkeiten elektronischer Datenverarbeitung.
Im konkreten Fall sind dies statistische Sprachanalysen, die imstande sind,
qualitative Aussagen durch quantitative Fakten zu ergänzen. Sie ermöglichen
prägnantere Formulierungen von Ähnlichkeitsgraden, die objektiv überpriifbar
und untereinander vergleichbar sind. Sie vermögen freilich nicht sprachwissenschaftliche
Überlegungen zu ersetzen, können aber wertvolle Indizien
zur Absicherung einer These beitragen.
4.2.1. Die Buchstabenhäufigkeit
Jede Sprache hat - statistisch gesehen - ihr typisches, ganz individuelles
"Profil": eine ganz bestimmte Häufigkeit der Buchstaben. Eine Tatsache, derer
man sich beim Dekodieren verschlüsselter Texte seit jeher bedient hat, in der
Sprachwissenschaft bisher leider nur selten.
Die Genauigkeit einer derartigen statitischen Analyse hängt natürlich von der
148
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Menge des verarbeiteten Materials ab. Die zwei, drei häufigsten Buchstaben
zeigen sich meist schon deutlich bei 100 bis 200 untersuchten Buchstaben, es
kann aber bei dieser geringen Menge noch beachtliche "Ausreißer" geben. Erst
ab etwa 1000 Buchstaben ist mit halbwegs signifikanten Ergebnissen zu rechnen.
Umso erstaunlicher ist die Tatsache, daß sich die tatsächliche Häufigkeit
der Grapheme der Ostinsel-Schrift schon nach den ersten Phasen der
Feldforschung gezeigt hat und bis heute nur geringfügig korrigiert werdeninußte:
Schrift der Ostinseln - Häufigkeit der Grapheme
Tabelle 1 Tabelle2 Tabelle3
100 Zeichen 220Zeichen 1089 Zeichen
1991 1992 1993
I !;. 20% 1 !;. 24% 1 !;. 22%
2 1 17 % 2 1 16 % 2 1 17 %
3 V 12 % 3 V 13% 3 V 14 %
4 r 8% 4 r 7% 4 N 8%
5 N 6% 5 N 7% 5 s 7%
6 s 6% 6 II 6% 6 r 6%
7 /\ 5% 7 /\ 5% 7 II 4%
8 II 5% 8 s 5% 8 ( 4%
9 ( 5% 9 ( 4% 9 M 3%
10 l. 4% 10 l. 4% 10 l. 3%
Wie der Vergleich der drei Phaesn zeigt, hat sich dieZ usammensetzung der
zehn häufigsten Zeichen kaum geändert, ebenso ihre Häufigkeit und Reihenfolge.
Abgesehen davon, daß die genanntenZ ahlen nur Annäherungswerte sein
können (wegen undeutlicherZ eichen und mehrdeuitger Ligaturen), wird durch
diese Gegenüberstellung dennoch deutlich, daß es sich nicht umZ ufallswerte
handeln kann, sonst müßte die Streuung wesentlich größer sein. Diesen
Häufigkeitswerten kann also eine beträchliche Signifikanz zugesprochen werden.
4.2.2. Statistischer Vergleich von Sprachen
Eine grundsätzlich zu klärende Frage ist, was als Vergleichsmaterial für die
statistischen Analysen herangezogen werden soll: längere, zusammenhängende
Texte oder Wortlisten, Wörterbücher?
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Diese zwei Möglichkeiten der Auswahl des UntersuchW1gsmaterials können
durchaus zu W1terschiedlichen Ergebnissen führen. Im gegenständlichen Fall
stellt sich diese Entscheidllg aber höchstens bei der lateinischen Sprache. Bei
einigen anderen Sprachen verfügen wir kawn oder überhaupt nicht über längere
Texte. Da auch die Ostinsel-Inschriften nicht aus solchen bestehen, wurden
als Vergleichsmaterial ausschließlich Wortlisten herangezogen:
Lateinisch: Der Kleine Stowasser (1962) 3466 Buchstaben
Iberisch: Untermann (1990) 7584 Buchstaben
Altkanarisch: Berthelot (1849/1978) 6613 Buchstaben
Wölfel (1965) 31.145 Buchstaben
Navaro Artiles ( o.J.) 3 9. 7 52 Buchstaben
Libysch: Chabot (1940) 4212 Buchstaben
Berberisch: Tamazight Abdel Masih (1971) 7885 Buchstaben
Beraber Willms (1972) 800 Buchstaben
Schilhisch Stwnme (1899) 5935 Buchstaben
Tuareg Prasse (1972) 5100 Buchstaben
Beim Vergleich dieser Sprachen ergaben sich grundlegende Schwierigkeiten:
Es handelt sich um Sprachen mit sehr unterschiedlichen phonemischen
Systemen.
Die Sprachen sind in sehr unterschiedlichen Schriftarten dokumentiert.
Die Berbersprachen kennen (mit Ausnahme des Tuareg) überhaupt keine
schriftliche Tradition. Für die Transkription ihres umfangreichen phonemischen
Systems eröffnen sich mehrere Möglichkeiten.
Um einen Vergleich überhaupt sinnvoll zu gestalten, wurde das phonemische
Material jeder Sprache so transkribiert, daß es mit dem Zeichenbestand der
Ostinsel-Schrift dargestellt werden kan: S, . Z, Z > S
I,J,Y > I
U,V,W >V.
Diese Vorgangsweise erscheint deshalb berechtigt, weil es ja genau das zu Wltersuchen
gilt: ob die lateinische Schrift für ein fremdes phonemisches System
adaptiert wurde.
Der Vergleich mit den von Chabot dokwnentierten libyschen Texten erfordert
eine gesonderte Vorgangsweise. Da die libysch-berberiche Schrift (fast)
nur Konsonanten darstellt, ist hier ein Vergleich nur insofern möglich, wenn
man auch bei den Ostinsel-Texten die Vokale außer Betracht läßt.
Bei den Ostinsel-Texten selbst galt es zu entscheiden, ob jedes als Buchstabe
erkennbare grafische Zeichen in die Untersuchung aufgenommen werden sollte
oder nur solche innerhalb einigermaßen gesicherter Zeilen. Gewählt wurde
die zweite Möglichkeit (194 von 238 Zeilen), da sie einen realistischeren Ver-
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gleich mit Wörtern der Vergleichssprache gewährleistet.
Die oben genannten Sprachen wurden nach folgenden Kriterien mit Hilfe
elektronischer Datenverarbeitung ausgewertet:
1) Häufigkeit der Buchstaben
2) Häufigkeit der Buchstaben am Wortanfang, am Wortende und im Wortinneren
3) Häufigkeit aller Buchstabenkombinationen
Zur Auswertung des daraus gewonnenen Zahlenmaterials mit dem Ziel der
Objektivierung des Ähnlichkeitsgrades der Sprachen wurden folgende statistische
Verfahren angewendet:
1) Häufigkeitsdiskrepanz:
Die Absolutbeträge der Unterschiede in der prozentuellen Häufigkeit werden
addiert. Je kleiner die Summe, desto größer ist die Ähnlichkeit der untersuchten
Sprachen. Im konkreten Fall schwanken die Summen etwa zwischen 40 und 70.
2) Rangkorelation: (nach Spearman)
Dabei wird der Grad der Übereinstimmung zweier Rangreihen gewertet. Entscheidend
ist also die Summe der Diferenzen der Rangplätze jedes Buchstaben.
Die Auswertung erfolgt nach der Formel:
6 L,(R&-Rv)2
Rho= 1 ' 00-1= · 1--
n(n2-1)
: Rang eines bestimmten Buchstaben in der Basissprache (nach Häufigkeit
geordnet)
: Rang dieses Buchstabens in der Vergleichssprache
n: Anzahl der verglichenen Buchstaben
Um zufällige Ergebnisse bei sehr geringen Häufigkeitswerten auszuschalten,
wurden nur die zehn häufigsten Buchstaben der Ostinsel-Texte einbezogen.
Der daraus ermittelte Korrelationskoefizient kann zwischen den Grenzen
+l,00 und -1,00 schwanken, je näher er bei +1,00 liegt, desto größer ist die
Ähnlichkeit der verglichenen Sprachen.
3) Pearson'sche Testfunktion:
Dabei wird die Summe der Abweichungsquadrate der absoluten Häufigkeitswerte
bezogen auf die erwartete Häufigkeit gemessen. Die Berechnung erfolgt nach
der Formel:
151
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n;b = absolute Häufigkeit eines Buchstabens in der Basissprache
n;v = absolute Häufigkeit eines Buchstabens in der Vergleichssprache
n = Anzahl der verschiedenen Buchstaben
l\ = Anzahl der untersuchten Buchstaben in der Basissprache
= Anzahl der untersuchten Buchstaben in der Vergleichssprache
Je niedriger der Sumenwert, desto größer ist die Ähnlichkeit der verglichenen
Sprachen.
l
0
Abb.10
152
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....
\.II
w
!""
.
.
0,9
0,8
5 0,7
0,6
j 0,5
.s
.s 0,4
] 0,3
.. 0,2
0,1
0
Vergleich der Rangkorrelation
Schilhisch Tamazight Beraber Tuareg Ahkanarisch Lateinisch Iberisch
© Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017
-
V,
!='".....
1200
1000
8000
=
- 6000
< 4000
2000
0
Vergleich der Pearson'schen Testfunktion
Kanarisch Beraber SchiThisch Tamazight Tuareg Lateinisch Iberisch
1',.1-----------------------------------------
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..... Vo
Vo
Q
=
...
e.ci
=
=
...
Vergleich der Häufigkeit aller Buchstaben
(Abweichung von der Ostinselschrift)
10
8
6
4-liJ.Jt<j .1\\
2
o r
-2
-4 1
, 1 V l,'I\ , l, l , '\I •t N , ! , 1 1 1 /.
,- l . tl 1 - '\:'t(J/-- v:-,- ... :/;.,::--:· .. •.•. .-:-<{..
:l
1
< -6
f
-8
-10
1 Kanarisch
1 Beraber
Schilhisch
·············"··· Tamazight
........... ,, ........ ,,,,,.,,,.,,,,,.,. Tuareg
© Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017
-
V,
0\
Vergleich der Rangkorrelation (nur Konsonanten)
0,9
= 0,8
0,7 ·s
e 0,6
0,5
fl
=
0,4 c:,
·-
0,3
- 0,2
0,1
0
-0,1
Lateinisch Libysch Tuareg AhkanarischTamazight Schilrisch Beraber Iberisch
?'"
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-
,V-...l
?'"
-
V,
-
=
·-
N
1:
]
=
Q
·-
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.
r.
Q
OT1 0,6
1
0,5 1
0,4
0,3
0,2
0,1
0
-0,1
-0,2
Vergleich der Rangkorrelation (Tamazight)
Nur Berberisch Berberisch + Arabisch Nur Arabisch
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Anmerkung zum Thema Häufigkeit der Buchstabenkombinationen:
Um den Aufwand auf ein vernünftiges Maß zu reduzieren, wurden nur alle
Kombinationen von zwei Buchstaben untersucht. Da es sich selbst dabei um
sehr viele Kombinationsmöglichkeiten (in der Praxis ca. 200 bis 400) mit jeweils
sehr geringen Häufigkeiten (fast ausschließlich unter 1 % ) und daher auch
nur minimalen Häufigkeitsunterschieden handelt - die vielfach nur im Bereich
von hundertstel Prozent liegen und daher keinerlei Aussagekraft haben - ist es
sinnvoll, nur die allerhäufigsten Kombinationen zu vergleichen. Gewertet wurde
die Anzahl der Übereinstimmungen unter den 10 (20) häufigsten Buchstabenkombinationen
der jeweiligen Sprachen.
Die Auswertung der Häufigkeitsdiskrepanz liefert ein recht deutliches Bild
(Abb. 10): Die Berbersprachen und das Altkanarische weisen deutlich geringere
Unterschiede zu den Ostinsel-Texten auf als das Lateinische und das Iberische.
Daß das Altkanarische schlechter abschneidet als der Durchschnittswert
der Berbersprachen, hat zwei Gründe:
Die Veränderung durch europäische Chronisten
Die Mischung verschiedener Sprachen (Dialekte).
Die Auswertung der Rangkorrelation ergibt ein fast identisches Bild (Abb. 11):
Auch hier erreicht das Altkanarische der Ostinseln einen durchaus für
Berbersprachen üblichen Wert (+0,70).
Die Auswertung der Pearson 'sehen Testfunktion scheint auf den ersten Blick
ein von den bisherigen Ergebnissen abweichendes Bild zu bieten (Abb. 12).
Das liegt darin begründet, daß sie einzelne Abweichungen wesentlich stärker
bewertet. Auffällig ist, daß neben dem Iberischen auch Beraber und Tamazight
große Abweichungen aufweisen (Säule 1 ). Filtert man jedoch die Vokale heraus
- in diesem Falle genügen die dem Berberischen ursprünglich fremden Vokale E
und O - so zeigt sich, daß diese Abweichungen fast ausschließlich auf die in den
Berbersprachen stark divergierende und unsichere Vokalschreibung zurückzuführen
sind (Säule 2). Lateinisch und (mit weitem Abstand) Iberisch erweisen
sich auch in dieser Untersuchung als die am wenigsten ähnlichen Sprachen.
Bei einer genaueren Betrachtung der Abweichungen wird noch deutlicher,
daß sich die Frage der Ähnlichkeit auf die Problematik des Vokalismus in den
Berbersprachen reduziert (Abb. 13). Während das E und das O durchaus im
Streuungsbereich der übrigen Sprachen liegen (insgesamt eher zu selten), ist
eine auffällige Überrepräsentanz von I und U (in wesentlich kleinerem Ausmaß
auch von A) festzustellen. Drückt sich darin nicht ein älterer (protoberberischer)
Sprachzustand aus?
Hochinteressant wäre natürlich ein direkter Vergleich der Sprache der Ost-
158
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insel-Texte mit der Sprache der alten libyschen Texte Nordafrikas (z.B. Chabots
RIL). Dieses Unterfangen ist insofern nicht ganz unproblematisch, als uns die
libysche Sprache nur in reiner Konsonantenschrift erhalten ist. Zu diesem Zweck
mußte also simuliert werden, wie alle übrigen Sprachen in reiner Konsonantenschrift
aussehen würden. Das Ergebnis ist aufschlußreich (Abb. 14): Chabots
Inschriften in libyscher Sprache schneiden erwartungsgemäß besser ab als alle
Berbersprachen inkl. des Altkanarischen. Wiederum erweist sich das Iberische
als fremdeste Sprache. Erstaunlich ist nur das Ergebnis der lateinischen Sprache:
ihre Konsonantenhäufigkeit ist fast identisch mit der der Ostinsel-Texte!
Die statistische Auswertung der Buchstabenkombinationen brachte Ergebnisse,
die mit denen der Einzelbuchstaben fast identisch sind, so daß sich eine
nähere Betrachtung erübrigt.
Ein weiterer interessanter Aspekt, der noch zu berücksichtigen wäre, ist
der, daß die heutigen Berbersprachen nach vielen Jahrhunderten arabischen
Einflusses einen beträchtlichen Anteil arabischen Wortgutes beinhalten. Wenn
nun aber angenommen werden kann, daß die Ostinsel-Schrift aus der Zeit um
Christi Geburt stammt, in der Nordafrika noch frei von arabischem Einfluß war,
so müßte die Sprache der Ostinsel-Inschriften eine deutlich größere Ähnlichkeit
mit dem rein berberischen Wortgut als mit dem gemischten oder gar mit
dem rein arabischen haben. Für diese Untersuchung wurde das Tamazight des
Mittleren Atlas ausgewählt, da Abdel Massih hierfür ein sehr klar diferenzierendes"
linguistisches Lexikon" anbietet. Das Ergebnis entspricht in jeder W eise
den Vermutungen (Abb. 15).
Resümee:
Die mit Abstand ähnlichsten Sprachen des in Frage kommenden geografischen
Raumes sind die berberischen Sprachen Nordafrikas sowie das Altkanarische.
Die Ähnlichkeit der nordafrikanischen Sprachen steigt noch beträchtlich,
wenn man den arabischen Anteil dieser Sprachen eliminiert.
Die Abweichungen reduzieren sich noch weiter, wenn man die Problematik
der unsicheren Vokalschreibung berücksichtigt.
Wenn man bedenkt, daß zwischen der Basissprache und den meisten verglichenen
Sprachen ein Zeitraum von 1500 bzw. 2000 Jahren liegt, so ist
die ermittelte Ähnlichkeit erstaunlich groß.
Noch größer ist Jie Ähnlichkeit mit dem in der Antike in Nordafrika gesprochenen
Libysch.
Mit diesen Ergebnissen ist freilich noch nichts über die Art der gegenseitigen
Beziehungen ausgesagt. Sie erleichtern aber die Auswahl der Sprachen, mit
denen ein Vergleich auf linguistischer Ebene lohnend erscheint.
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Folgerung:
Die Sprache der Ostinsel-Inschriften ist mit überaus großer Wahrscheinlichkeit
entweder mit dem um Chr. Geb. auf den östlichen Inseln gesprochenen
Altkanarisch oder mit dem zu diesem Zeitpunkt in Nordafrika gesprochenen
Libysch identisch.
4.3. Das Altkanarische
4 .3. l. Problematik der Überlieferung
Wenn die Transkription gemäß der lateinischen Kursivschrift und die damit
verbundene Datierung in die Zeit um Christi Geburt stimmen, dann repräsentieren
die Inschriften einen Sprachzustand, der etwa 1500 Jahre vor den ersten
Chronisten der altkanarischen Sprache liegt. Es ist daher nicht eine völlige
Identität des Wortlautes der Ostinsel-Inschriften mit dem von den Chronisten
überlieferten Wortgut zu erwarten.
Das Corpus der kanarischen Sprache, wie es von Berthelot, W ölfel u.a.
dokumentiert ist, bietet in der überwiegenden Mehrzahl Personen- und Ortsnamen,
sowie Substantiva des alltäglichen Lebens. Es sind zwar Wörter wie Palmblattstengel,
Ziegenfelltasche oder Fruchthonig überliefert, aber kaum solche,
die in Felsinschriften zu erwarten sind. Nur ganz wenige Acljektive und fast
überhaupt keine Artikel, Pronomen oder Präpositionen sind erhalten. Unsere
Kenntnisse über die Grammatik der kanarischen Sprache sind daher minimal.
Die Sprache des Kanarischen Archipels präsentiert sich nicht als einheitliche
Sprache, sondern als ein Konglomerat unterschiedlicher Inseldialekte. Schon
die ältesten Quellen (Recco etc.) betonen, daß die Sprachen der einzelnen Inseln
unterschiedlich waren, andererseits aber auch eine gewisse Verwandtschaft
aufwiesen. Wölfet: "Eine Verständigungsmöglichkeit der Eingeborenen der einen
Insel mit jenen der anderen Inseln muß es also gegeben haben. Die Unterschiede
müssen aber trotzdem groß genug gewesen sein, wenn man von Insel
zu Insel den Dolmetscher wechseln mußte" (S.134). Insofern wird im Einzelfall
wohl sehr schwer zu klären sein, welche Wörte einem gemeinsamen Wortgut
angehören und welche nur für die Ostinseln bzw. nur für Fuerteventura gelten.
Nicht einmal bei den Dokumenten aus der Entdeckungs- und Eroberungszeit
haben wir es im Regelfall mit den Originalen zu tun, sondern mit Zweit- und
Drittabschriften schlechtbezahlter Schreiber. Hör- und Schreibfehler sind keine
Seltenheit, sogar absichtliche Fälschungen der Texte sind belek'1.
Zusätzlich gilt es zu berücksichtigen, daß die spärlichen Reste des Altkanarischen
von Schreibern unterschiedlichster Herkunft (Inselspanier,
Festlandspanier, Portugiesen, Franzosen etc.) dokumentiert wurden. Wölfel
(1965:10): "Sie hörten in das Kanarische hinein, was sie von ihrer eigenen
160
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Sprache gewohnt waren und gaben es mit den Mitteln der damaligen Schrift so
wieder, wie sie gewohnt waren, die Laute ihrer eigenen Sprache wiederzugeben".
Bislang viel zu wenig beachtet wurde die Tatsache, daß die Europäer, die
ein ihnen fremdes Idiom aufnahmen, über keinerlei linguistische Praxis verfügten.
Es wird nicht selten passiert sein, daß sie anstatt einer erfragten Vokabel
eine syntaktische gebundene Aussage zur Antwort erhielten, einen Ausruf oder
einen kurzen Satz, in den die Vokabel möglicherweise eingebettet war. Bei
einer derartig laienhaften und unsystematischen Sprachaufnahme, die wir im
konkreten Fall annehmen müssen, ist mit einer beträchtliche Fehlerquote zu
rechnen.
Eine weitere Quelle der Unsicherheit beruht im Schriftduktus der meisten
Dokumente. Die Lesung wird durch zahlreiche Buchstabenvarianten, individuelle
Buchstabenverbindungen, willkürliche Zusammenziehungen und Abtrennungen
usw. erschwert. Das e wurde häufig mit dem a verwechselt, o und u
sind oft nicht auseinanderzuhalten, b, v und u wurden beständig ohne erkennbares
Prinzip miteinander vertauscht, um nur einige Beispiele zu nennen.
Alle diese Fakten:
zeitliche Diskrepanz
fragmentarischer Charakter
Dialektunterschiede
Hör- und Schreibfehler
Beeinflussung durch die Sprache des Schreibers
laienhafte Aufnahme
Probleme der Paläographie
lassen es als äußerst unwahrscheinlich erscheinen, in den Zeilen der OstinselInschriften
Wörter oder Wortgruppen zu finden, die Buchstabe für Buchstabe
mit denen identisch sind, die uns in den Dokumenten und Kompilationen überliefert
sind.
4.3.2. Herkunft des Altkanarischen
Bei den frühen Chronisten finden wir zu diesem Thema viel ungenau Beobachtetes
und Unsinniges.
Recco (1341) beschreibt die Sprache der Ureinwohner als "satis politum",
was am ehesten als "wohlklingend, nicht allzu fremdartig" zu interpretieren
sein wird. Die normannischen Chronisten des "Canarien" (1405) empfanden
die Sprache der Ostinseln als der Kastiliens sehr ähnlich. Lucius Marineus
Siculus (1533) nennt sie "barbarisch". Der Portugiese Gaspar Fructuoso (um
1580) dokumentiert eine Äußerung Anton Delgados, eines Eingeborenen, wo-
161
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nach die Sprachen von Gran Canaria, Tenerife und Gomera alle drei "fast
gleich jener der Moros gehen" (e todas uao quasi pareceudio a lingoagem <los
mouros). Dieser Eingeborene kann demnach als der Begründer der "berberistischen
Hypothese" gelten. Torriani (1590) geht neben anderen Meinungen,
wie der Besiedlung der Kanarischen Inseln durch die Enkeln Noahs oder durch
Karthager auch auf der berberische These ein und präzisiert den Zeitraum:
"Einige meinen, diese Inseln seien später einen langen Zeitraum unbewohnt
gewesen und dann von Juba wiedergefunden und mit Numidiern bevölkert
worden (1590/1979: 61 ). Auch Abreu de Galindo (1602) meint, daß die Einwanderung
aus Nordafrika erst nach Chr. Geb. erfolgt sein könne, da Plinius die
Inseln als unbewohnt schildere. Als durchgehende Konstante erweist sich seit
den frühesten Berichten die Feststellung, daß auf den einzelnen Inseln unterschiedliche
Sprachen gesprochen worden seien.
George Glass (1764) kann als der erste echte Sprachvergleicher bezeichnet
werden. Er stellt fest: "But the greatest proof lies in the similitude between
Canarian and Libyan languages" und findet besonders viele Übereinstimmungen
mit dem Schilhischen.
Berthelot (1849) faßt in seinem "Catalogo de los diferentes dialectos de los
antiguos habitantes de las Canarias" das überlieferte Wortgut von Fuerteventura
und Lanzarote in einem Abschnitt zusammen. Das hat zwar später zu manchen
falschen Zuweisungen gefiihrt, weist aber erstmals auf die enge Verwandtschaft
dieser beiden Inseln hin. Auch er findet im Kapitel "De las analogias entre los
dialectos canarios y Ja lengua bereber" erstaunlich viele Entsprechungen im
Schilhischen.
Die Theorien Löhers, der einen sprachlichen Einfluß der Vandalen zu er -
kennen glaubte und die daran anschließenden Vorstellungen der nordistisch
orientierten Gruppe um Giese, die einen wesentlichen Anteil des Indogermanischen
am Kanarentum sehen wollten, soll hier nicht näher betrachtet werden.
Erst ab der Mitte unseres Jahrhunderts machte man sich ernsthafte Gedanken
über die Art der gegenseitigen Beziehung bzw. Verwandtschaft der Sprachen.
Rössler (1950: 462) ordnet das "Kanarische" zusammen mit dem "LibyschBerberischen"
der Gruppe der westhamitischen Sprachen zu, äußert sich aber
nicht über deren konkrete Beziehung.
Zyhlarz (1950) bezeichnet das "Insellibysch" als "antiken Ableger des kontinentalen
Libysch". Es sei in der Endphase der Ost-West-Expansion der
nordafrikanischen Libyer auf die Kanarischen Inseln gelangt. Als wahrscheinlichsten
Zeitpunkt nennt er den Anfang der Regierungszeit Jubas II. Interessant
für den Zusammenhang mit der Ostinselschrift ist, daß er Fuerteventura zusam-
162
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men mit Lanzarote, Tenerife und Gran Canaria zu den Inseln zählt, die niemals
libyscher Stammesbesitz waren. Die Vielsprachigkeit der Inselgruppe sieht er
darin begründet, daß sie immer wieder als Fluchtasyl feindbedrohter
Kontinentalstämme sowohl aus dem nordafrikanischen als auch aus dem
iberischen Raum diente.
Am intensivsten hat sich mit Sicherheit D.J. Wölfe) mit dieser Thematik
auseinandergesetzt. Im historischen Ablauf seiner Publikationen zeigt sich die
zunehmende Erkenntnis der Komplexität des Themas. Im Anhang II zu seiner
Ausgabe der Torriani-Handschrift (1940) vertritt er noch die Meinung, das
Altkanarische sei eine "ältere Stufe des Berberischen, vielleicht eine seiner
Vorstufen". In den "Religionen des vorindogermanischen Europa" (1951: 4 3 7)
versucht er eine vorsichtige zeitliche Einordnung: "Der sprachliche Befund der
Kanarier legt eine relativ späte Einwanderung von Sprachelementen nahe, die
dem Berberischen ziemlich genau entsprechen. Das könnte vielleicht das Zeugnis
für die jüngste Kultureinwanderung abgeben. Jedenfalls muß alles vorphönikisch
und vorkarthagisch sein".
In den "Eurafrikanischen Wortschichten (1955: 20f) klassifiziert er das Verhältnis
des "Kanarischen" zum Berberischen als ein "sehr ungleichmäßiges":
Es gibt Worte in enger semantischer Übereinstimmung bei fast völliger
lautlicher Gleichheit.
Andere lassen sich berberisch nicht etymologisieren.
Dazu kommen Texte, die nach berberischer Syntax und Formenlehre nicht
aufgehen.
W ölfel sieht dafür 3 Interpretierungsmöglichkeiten:
1) "Kanarisch" ist wie das Ägyptische neben dem Berberischen eine libysche
Sprache.
2) "Kanarisch" ist eine Altsprache des Mittelmeeres mit starker Einschichtung
des Berberischen.
3) "Kanarisch" ist eine der Schichten des Berberischen.
Die wahrscheinlichste These ist für Wölfe! die erste. Leider ist es nicht mehr
zur Ausarbeitung des geplanten VI. Teiles der "Monumenta" (1965) gekommen,
der den Titel "Das Kanarische, das Atlantolibysche und die Sprache der
Megalithiker" erhalten sollte. Die ausführliche Inhaltsangabe läßt jedoch einige
Schlüsse zu. §74 und §75 des 6. Kapitels erlauben die Folgerung, daß Wölfe)
zwischen den Möglichkeiten einer Lateral-(Entlehnungs-)Verwandtschaft und
einer Urverwandtschaft schwankte.
Vycichl (1952) glaubt, auf den Kanarischen Inseln drei Dialektbereiche
unterscheiden zu können, von denen einer mit dem Schilhischen und dem Dialekt
der Ntifa übereinstimme.
163
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In seiner Publikation "Das Alter der kanarischen Kultur" (1953/55) schließt
er aus dem Vorhandensein des weiblichen Artikels ta- am Beginn vieler
kanarischer Orts- und Personennamen und dem Nichtvorkommen dieses Artikels
im antiken Marokko auf einen relativ späten Zeitpunkt der Sprachübernahme.
"Der berberische Artikel scheint erst gegen Ende der Römerherrschaft
auf Marokko übergegriffen zu haben. Wäre das Kanarische tatsächlich
ein so altes Berberisch, dann dürfte man hier nicht den 'jungen' Artikel
antrefen" (1952: 34). In seiner "Mythologie der Berber" (1973) präzisiert er
noch einmal, daß es sich um ein spätes Berberisch handle, das erst in
nachchristlicher Zeit auf die Inseln gekommen sein könne.
Die heutige opinio communis faßt Stumfohl in mehreren Almogaren-Bciträgen
(1972/1982/1987) zusammen. Demnach ist der Kern der Ansichten
W ölfels bis heute noch nicht überholt:
Von allen Vergleichen hat sich der mit dem Berberischen als am fruchtbarsten
erwiesen.
Das Altkanarische kann aber nicht als direkter Nachkömmling des
Berberischen gesehen werden. Die Beziehungen sind nicht einlinig, sondern
komplex.
Beiden Sprachbereichen dürfte ein gemeinsames Substrat zugrundeliegen:
das eurafrikanisch-mediterrane (bei Wölfet: atlantolibysch).
Eine vorkeltische, indogermanische Berührung mit dem Altkanarischen ist
nicht ganz auszuschließen.
4.4. Phonologie
Da im gegenständlichen Fall der Ostinsel-Inschriften ganz ofensichtlich
das lateinische Alphabet für ein fremdes phonologisches System adaptiert wurde,
ist es sehr schwierig, aus den Schriftdokumenten auf <lie Phonologie <ler
Sprache zu schließen. Dementsprechend geht es im folgenden auch nicht un1
eine Rekonstruktion des phonologischen Systems der libyschen Sprache, sondern
in erster Linie um Fragen der Zuordnung grafischer Zeichen.
4.4.l. Die Vokale
Die große Häufigkeit von A, I und U ist ein deutlicher Hinweis auf ein
(zumindest ursprünglich) defektives Vokalsystem. Die Verteilung entspricht
durchaus der heutiger Berbersprachen:
Osttinseltexte
A I U
22% 17 % 14 %
Beraber 20 % 13 % 10 %
Über den Vokalismus der Sprachen Nordafrikas um Chr. Geb. sagen die -
164
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rein konsonantischen -Inschriften nichts aus. Laut Rössler (1958: 100) liegen
aber genügend Anhaltspunkte vor, daß auch das Massylische (die Sprache des
alten Numidiens) ursprünglich ein dreistufiges Vokalsystem besessen hat. Auch
Prasse (l972:l 19ft) nimmt für das "protoberbere" -wie er die historische Vorstufe
des heutigen Berberischen nennt -die Vokalreihe A -I -U an.
Daß U und I in den Ostinseltexten noch häufiger vorkommen als es in den
Berbersprachen üblich ist, ist leicht erklärt: V steht nicht nur für den Vokal U
und den Halbvokal W, sondern in einigen Fällen auch für B (siehe Kap. Explosive).
Die statistische Analyse zeigt, daß das U in den Ostinseltexten im Vergleich
zu den Berbersprachen überproportional häufig am Wortanfang steht:
Ostinseltexte Altkanarisch Schilhisch
Wortanfang 25 % 5 % 10 %
Wortinneres 67 % 93 % 66 %
Wortende 8 % 2 % 24 %
Die Erklärung dafür ist wahrscheinlich im häufigen Wortbeginn mit U-(Sohn
des) und UA-(derjenige) zu sehen.
Ähnliches gilt für die vergleichsweise zu große Häufigkeit des I. Sie dürfte
durch das textbedingt häufige Vorkommen des Präfixes 1-(für) zu erklären sein:
Wortanfang
W ortinneres
Wortende
Diphthonge:
Ostinseltexte Altkanarisch Schilhisch
28%
49%
23 %
10%
84%
6%
16 %
61 %
23%
Verständlicherweise überwiegen die Kombinationen der Vokale A, I und U
ganz deutlich: Die mit Abstand häufigsten Diphthonge sind IA, UA und IU.
Diese Verteilung ist durchaus vergleichbar mit aktuellen Berbersprachen. Für
die Vokalkombinationen mit O liegt nur ein Beleg vor: UO. Die Diphthonge
finden sich überwiegend am Wortanfang und sehr selten am Wortende.
4.4.2. Die Konsonanten
Liquide und Nasale:
Bei der Repräsentanz dieser Lautgruppe gibt es im Grundsätzlichen keinerlei
Probleme. Zur Häufigkeit:
L
R
M
N
Ostinseltexte Altkanarisch
2%
3%
3%
8%
2%
6%
3%
6%
Beraber
6%
8%
5%
3%
Tamazight Tuareg Schilhisch
7% 4% 6%
7%
6%
6%
5%
4%
4%
7%
5%
4%
165
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L und M liegen durchaus im Streuungsbereich der Werte vergleichbarer Sprachen,
R ist etwas zu selten, N etwas zu häufig repräsentiert. Für letzteres kann
eine recht plausible Erklärung angeboten werden. Da ein beträchlicher Teil der
Zeilen aus Personennamen bestehen dürfte und -N die häufigste Wortendung in
libyschen Namen ist, müßte die Überrepräsentanz des N durch eine überdurchschnittliche
Häufigkeit des N am Wortende erklärbar sein. Ein Vergleich mit
den Berbersprachen bestätigt dies:
Ostinseltexte Altkanarisch Schilhisch
Wortanfang
Wortinneres
Wortende
8%
41 %
51 %
3%
77%
20%
15 %
53 %
32%
Explosive:
Für die libysche Sprache steht folgende Reihe von Explosivlauten zur Diskussion:
B - (P) - D - T - G - K - Q -
ZumP:
Über die Interpretation des in den libysch-berberischen Schriften gewöhnlich
mit dem Zeichen 2{ dargestellten stimmlosen Labiallautes gibt es divergierende
Auffassungen. Rössler (1980: 280) vertritt die Meinung, daß es sich um einen
Explosivlaut gehandelt habe und 2{ daher mit P zu transkribieren sei. Er stützt
diese Meinung durch eine Gegenüberstellung libyscher und lateinischer Namenspaare:
JPTN (RIL 100) JEPTAN (CIL VIII,17200)
ZPR (RIL 538) ZIPER (CIL VIII,9248)
JPSK (RIL 557) JAPASAC (CIL VIII,18827)
Demgegenüher ist die Mehrzahl der Autoren (Chabot, Prasse etc.) der Aufassung,
daß es sich um einen Frikativlaut gehandelt habe und 2{ somit als F zu
transkribieren sei. Einig sind sich alle Autoren nur darin, daß es nur einen
stimmlosen Labiallaut gegeben habe.
Da das kursive F in den Ostinseltexten sehr eindeutig vertreten ist, könnte
es sich bei C und t demnach nicht um Zeichen für P handeln. Denkbar wäre,
daß es weitere Varianten des T sind. Das wäre vom grafischen Erscheinungsbild
her durchaus vertretbar. Sowohl die Kombination <tar-> (15) als auch der
Wortbeginn <tima-> (141 etc.) wären sehr plausibel: tima als Variante von
TIRMA ist im Altkanarischen im Sinne von "ein Heiligtum" belegt (Wölfe!
1965: 452). t in Zeile 187 kann hingegen mit großer Wahrscheinlichkeit kein T
sein, da in dieser Zeile zweimal die Normalform des T ( r) vorkommt.
ZumQ:
Das im allgemeinen dem Phonem Q zugeordnete libysche Zeichen+ ist auch in
den libysch-berberischen Schriften Nordafrikas äußerst selten vertreten. In
166
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Chabots RIL kommt es unter etwa 4200 Zeichen kein einziges Mal vor. Daß
auch in der Ostinselschrift bisher dem Phonem Q kein Zeichen eindeutig zugeordnet
werden konnte, paßt also hervorragend zu der These, daß es sich um
eine libysche Sprache handelt.
Zum T:
Zum Fehlen von Zeichen für emphatische Laute siehe Kap. Frikative.
Durch die genannten Einschränkungen reduziert sich die Reihe der
Explosivlaute auf B -D -T -G -K
Zur Häufigkeit:
Ostinseltexte Altkanarisch Beraber
B 0,3%
D 2%
T 6%
2%
2%
5%
2%
7%
6%
Tarnazigt
3%
6%
8%
Tuareg
2%
3%
10%
Schilhisch
3%
5%
8%
G I % 5 % 5 % 0,5 % 3 % 4 %
K 4% 5% 3% 2% 4% 4%
Im großen und ganzen liegt die Häufigkeit der Explosivlaute durchaus im
Streubereich der Werte vergleichbarer Sprachen. Die zu geringe Häufigkeit des
B ist sehr gut erklärbar durch die bekannte Tatsache, daß im Bereich der
stimmhaften Labiale häufig ein Wechsel zwischen explosiv und frikativ eintrat
(B -V). Da B und V für die Spanier den gleichen Lautwert hatten und dabei in
der Schrift so gut wie formidentisch waren, können wir die beiden Buchstaben
ebensowenig in altkanarischen Worten auseinanderhalten wie es möglich ist die
Laute zu unterscheiden (Wölfet (1965: 35).
Frikative:
Hier gibt es unter den Experten beträchtliche Aufassungsunterschiede. Heutige
Berbersprachen verfügen über ein reichhaltiges Inventar von etwa 12
Reibelauten, von denen sind allerdings nur 9 berberisches Erbgut, die übrigen
kommen nur in arabischen Lehnwörtern vor:
F-S-S-X-H-Z-Z--
Die Aufassungsunterschiede beziehen sich nun darauf, wie viele dieser
Reibelaute es auch schon in den libyschen Sprachen gab und wie viele davon
durch eigene grafische Zeichen dargestellt wurden bzw. durch welche Zeichen
dies geschah. Diese Problematik ist aber im konkreten Fall insofern nicht von
vorrangiger Bedeutung, als die lateinische Schrift für Reibelaute ohnedies nur
ein sehr geringes Repertoire an Zeichen anbietet, nämlich: F -S -H.
Die Fragestellung könnte nur insofern an Relevanz gewinnen, als es möglich
wäre, daß unter den bisher noch nicht eindeutig zuordenbaren Zeichen
solche wären, die dem lateinischen Alphabet zur Darstellung weiterer Reibelaute
hinzugefügt wurden.
167
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Zur Häufigkeit:
Ostinseltexte Altkanarisch Beraber Tamazigt Tuareg Schilhisch
F 3% 1% 3% 3% 2% 3%
S 7% 3 % 8% 12 % 7% 7%
H 0,3 % ? 3 % l % 4 % 3 % 3 %
Faßt man in den Berbersprachen die verschiedenen Frikative zusammen, so
ergeben sie etwa 9 - 15 % des Lautbestandes. In der Ostinselschrift decken F
und S genau dieses Spektrum mit 10% ab.
Zum H:
Es wäre durchaus denkbar, daß das lateinische Zeichen H nicht benutzt wurde.
Im Libyschen wurde das Zeichen = fast nur im Auslaut verwendet und entspricht
wohl eher einem '.} als einem H. Daß es in der Ostinselschrift im Anlaut
nicht geschrieben (und wahrscheinlich auch nicht gesprochen) wurde, ist durch
die Zeilen 3 6, 40 und 156 ( <anibal> bzw. <anbal> für HANIBAL) bewiesen.
Die beiden Zeichen N und i:1 könnten demnach einen anderen Laut repräsentieren.
In diesem Zusammenhang erscheint es sinnvoll, zur Frage zurückzukehren,
ob nicht in seltenen Fällen dem lateinischen Alphabet fremde (im konkreten
Fall wohl am ehesten libysch-berberische) Zeichen hinzugefügt wurden, um die
Klarheit der Aussage zu gewährleisten. Prädestiniert dafür wären die dem Lateinischen
fremden Reibelaute:
Lautwert Libysch-berberische Schriftzeichen
Z stimmhaftes S
emphatisches S T
S stimmloses SCH 3 E
Z stimmhaftes SCH H (Prasse)
Z emphatisches SCH H (Chabot) m (Prasse)
N und i:1 wären also denkbar als Zeichen für ein stimmhaftes ( oder emphatisches)
SCH. Laut Rössler (1958: 98) wurde es auch in libysch-berberischen
Schriften zuweilen mit zwei Querbalken geschrieben. In C'habots RIL findet
sich dazu allerdings nur ein einziges Beispiel (RJL 64). Nom1alerweise wurde
dieses Zeichen im Libyschen mit waagrechtem Querbalken geschrieben. In
Galands "Inscriptions antiques du Marne" taucht es aber ausschließlich mit
schrägem Querbalken auf, zweimal nach rechts geneigt, einmal nach links.
Auffallend ist also auch die Seltenheit dieses Zeichens in marokkanischen Inschriften
(0,9 % gegenüber 8 % des H in Chabots RIL), die sehr gut mit der
Häufigkeit in der Ostinselschrift (0,3 %) korreliert.
:E : { l
Die beiden Zeichen am Schluß der Zeilen 139 und 161 sind genaugenommen
die einzigen Zeichen innerhalb sicherer Zeilen, die absolut nicht mit dem latci-
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nischen Alphabet erklärbar sind. Sie unterscheiden sich von der Normalform
des libysch-berberischen Zeichens für S nur dadurch, daß der Zickzacklinie ein
weiterer Strich bzw. zwei weitere Striche hinzugefügt wurden. Daß aus dem
Repertoire der libysch-berberischen Zeichen für Frikative ausgerechnet jene
zwei ausgewählt worden wären, die das im Lateinischen fehlende SCH bezeichnen,
wäre sehr plausibel.
Es muß allerdings gesagt werden, daß die senkrechten Zickzacklinien
genausogut Varianten des libysch-berberischen Zeichens für I (Y) sein könnten.
Im übrigen wurde die Vielzahl der Frikative in der Schrift ohne Rücksicht
auf die Unterscheidungen emphatisch/nicht emphatisch, stimhaft/stimmlos,
normale Dauer/lange Dauer auf das Minimum von F und S reduziert. Durch
diese extreme Verknappung hat der schriftliche Ausdruck mit Sicherheit an
Eindeutigkeit der Aussage eingebüßt. Wenn es jedoch Schreiber waren, die
auch die libysch-berberische Schrift beherrschten, so waren sie daran gewöhnt,
beim Lesen sehr stark auf den Kontext zu achten. Ähnliche Einschränkungen
durch ein geringes Zeichenrepertoire sind auch aus anderen Bereichen bekannt.
So wurden auch bei einer punischen Weiheinschrift in griechischer Schrift (EI
Hofra/Constantine) sowohl S als auch S mit einem griechischen I. geschrieben
(Roschinski 1980: 107).
Gemination:
Beim gegenwärtigen Stand der Inschriftenfunde kann gesagt werden, daß mit
großer Wahrscheinlichkeit keine Konsonanten-Gemination üblich war.
Das Alphabet der Ostinsel-Schrift weist gegenüber dem klassischen lateinischen
Alphabet und vor allem auch gegenüber dem von den spanischen
Chronisten verwendeten Alphabet einen stark reduzierten Zeichenbestand auf.
Es fehlen die .Buchstaben J, K, Q, Y, Z und wahrscheinlich auch P und X.
Zu einem ganz ähnlichen Ergebnis kommt interessanterweise schon Bory
de St. Vincent im Jahre 1803. Er kann mit Recht als erster (und einziger) Statistiker
der altkanarischen Sprache bezeichnet werden. In seiner "Geschichte
und Beschreibung der Kanarien-Inseln" stellt er die ihm bekannten "GuanchenWörter"
in der Hofnung, daß das "dem Leser nicht unangenehm sey",
tabellenartig - nach Inseln geordnet - zusammen. Er macht sich die Mühe, die
Buchstaben seiner etwa 120 Wörter (ohne Mehrfachnennungen) zu zählen,
wobei allerdings die Ergebnisse, auch wenn man so wie er die Ortsbenennungen
eliminiert, z.T. überhaupt nicht mit der Realität übereinstimmen.
Zwei seiner Ergebnisse sind allerdings interessant. Auch er stellt schon das
starke Dominieren des Buchstabens A fest (bei ihm 24 % ), das die altkanarische
Sprache von allen Sprachen des Mittelmeerraumes (mit Ausnahme der
berberischen) abhebt.
169
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Noch interessanter ist die Tatsache, daß auch er das aus seiner Statistik
resultierende Alphabet reduziert, da er schwerwiegende Bedenken an der Seriosität
der Chronisten hat: Er meint, daß sich die Europäer "um die Schreibart der
Guanchen ganz und gar nicht bekümmerten" und daß sie die Guanchen "sehr
schlecht verstanden und weit schlechter gedollmetscht haben" (183 0/ 1970: 58
t).
Er vermutet:
daß C, Q und K mit einem Buchstaben bezeichnet wurden
daß es kein X gab
daß es kein J gab
daß das Y durch ein Doppel-1 zu ersetzen ist
daß es wahrscheinlich auch kein P gab.
Somit kommt er zu einem Alphabet aus 18 Buchstaben, das völlig identisch ist
mit dem vorliegenden Alphabet der Ostinsel-Schrift mit der einen Ausnahme,
daß er das Z für existent hält.
Dieser Reduzierung des lateinischen Alphabets steht möglicherweise eine
Erweiterung durch einige libysch-berberische Buchstaben gegenüber.
4.5. Morphologie
Was Otto Rössl er 195 8 Grundsätzliches über die Grammatik der "Sprache
Numidiens" erarbeitet hat, kann im wesentlichen auch heute noch als verbindlich
genommen werden. "Zur Ermittlung der grammatikalischen Elemente bedarf
es einer ziemlichen Fülle homogenen Materials" schreibt er (Rössler 1958 :
l 01) und findet dieses Material in den zahlreichen Personennamen, die fast
ausschließlich kurze Satznamen darstellen. Was Rössler Ende der 50er Jahre
"analytische Tabellen" genannt hat, würde man heute Segmentierung nennen,
nämlich die Suche nach morphologisch relevanten Segmenten. Dazu bieten
sich prinzipiell mehrere Ansatzpunkte an:
l) Die Worttrennung: Da bisher keine Worttrennung durch eigene Zeichen
gesichert ist, bleiben bei den sehr kurzen Texten nur die Textgrenzen selbst.
2) Die Annahme, daß mehrsilbige Segmente, die mehrmals wiederkehren,
lexikalische Einheiten darstellen.
3) Die Identifikation von Personennamen aus anderen historischen Quellen.
Leider ist die Zahl der zu untersuchenden Zeichenfolgen noch immer viel
zu gering, um auch nur Ansätze einer verbindlichen Morphologie der Sprache
der Ostinseltexte zusammenstellen zu können. Durch die Technik der
Gegenüberstellung können daher nur sehr wenige Segmente gewonnen werden.
Im übrigen wird man sich vorerst damit begnügen müssen, nach Parallelen
der von Rössler (1958) isolierten Morpheme der numidischen Sprache zu su-
170
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eben. Dieses Inventar, das vor allem aus Prä- und Sufixen besteht, wurde
durch Jongeling (1984) ausgeweitet bzw. durch weitere Beispiele abgesichert.
Darüber hinaus wird es sehr nützlich sein, das Namensmaterial lateinischer und
punischer Inschriften Nordafrikas einzubeziehen, da es wertvolle Hinweise auf
die Vokalisierung bieten kann.
4.5.l. Segmentierung
Gegenüberstellung im Sinne der analytischen Tabellen Rösslers:
aldea(n) (229) i-aldean (230)
mase (54/132/190) - i-mase (164)
1- (Y -) wird von Rössler als Präfixkonjugation 3 .P .m.sg. gedeutet. 1- ist auch
heute noch im Berberischen in der Bedeutung von "für" gebräuchlich.
mas-e (54/132/190)
i-mas-e (164)
mas-en (112)
nug-mas-a ( 104)
tima-mas-ir (141/142)
Hier scheint (zumindest in einigen Fällen) das Nomen MS (= Herr, Gott), das
sehr häufig als Bestandteil libyscher Namen auftaucht, isolierbar zu sein.
Mehrmals vorkommende Zeichenfolgen:
Sechsmal: auati
Viermal:
Dreimal:
zweimal:
usretan
auHt
timamasir
ikidaua
ia
auotin (auutin)
uaisil
uifuin
kusma
nudau
(i)aldean
nufel
autati
uaw:iuuananti
ima
aun
Ob es sich bei diesen mehrfach vorkommenden Zeichenfolgen tatsächlich in
allen Fällen um lexikalische Einheiten handelt, ist zum gegenwärtigen Zeit-
171
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punkt noch nicht zu beurteilen. Ein Teil dieser Zeichenfolgen wird in den nächsten
Kapiteln genauer behandelt.
4.5.2. Personennamen
Die Einwohnerzahl Fuerteventuras in der Zeit um Chr. Geb. kann natürlich
nicht einmal grob geschätzt werden. Vor Beginn der Sklavenrazzien des 14.
Jahrhunderts waren es mit ziemlicher Sicherheit einige Tausend. Aber selbst
aus dieser Zeit sind kaum Personennamen überliefert. Berthelot (1849/1978:
131) nennt elf Namen für beide Ostinseln, davon sind die Mehrzahl Namen von
Fürsten und nur einer stammt von Fuerteventura. Wölfel () 965: 650ft) zählt für
die Ostinseln etwa 18 Personennamen auf, die exakte Zahl ist wegen der ot
sehr stark abweichenden Variationen der überlieferten Schreibweise schwer
feststellbar. Auch bei ihm stammen fast alle von Lanzarote.
Das Unterfangen, unter diesen wenigen Namen einen zu finden, der schon
eineinhalb Jahrtausende zuvor bestand und durch Zufall auf einem Felsen dokumentiert
wurde, erscheint wenig aussichtsreich. Und denoch gibt es einen,
der auch in den Ostinseltexten auftaucht:
au(a)afran (182)
Laut Wölfe! (1965: 651) gab es in der Capilla Mayor del Convento de Miraflores
auf Lanzarote einen Grabstein für "Dofia Catalina Dafra, hija de Guillen Dafra,
nieta de Don Luis de Guadafra, ultimo Rey de Lanzarote". Navarro Artiles
(1981: 60/125) zähltfiir diesen Namen die Varianten AFRA,AFRAN, D' AFRA,
D'AFRAN auf. Auch bei dem schon von Berthelot (1849/1978: 131) überlieferten
Namen GUADARFIA handelt es sich um eine Variante (GUA = UA).
Ulbrich (1989a: 128) macht darauf aufinerksam, daß die richtige Schreibweise
des Königsnamens "Guadarfra" war; möglicherweise handelt es sich bei
<-afran> um einen Schreibfehler. Wahrscheinlich gehört auch der auf Fuerteventura
überlieferte Ortsname DABRA in diesen Sinnzusammenhang. Chabot
bietet die vergleichbaren Namen UFRN (RlL 790) und MSFRN (RIL 250).
Wesentlich erfolgversprechender ist die Suche nach vergleichbaren Namen
natürlich unter den unzähligen Personennamen, die in libyschen, punischen
oder lateinischen Inschriften Nordafrikas überliefert sind:
aumakuran (143)
Für <-makuran> finden sich in allen vergleichbaren Sprachen Entsprechungen.
Navarro Artiles (1981: 80) dokumentiert das altkanarische Wort MACURA,
wobei er seine Bedeutung damit umschreibt, daß es sich um eine Sache des
Himmels handle (mas parece cosa del cielo). Im Berberischen heißt MQQR
soviel wie "er ist groß", das zugehörige Adjektiv heißt AMQQRN. In der Kabylei
ist ein Geistwesen namens MQQR überliefert (Galand 1964) und in lateini-
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© Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017
sehen Inschriften aus Tunis sind die lokalen Götter MACURTAM und
MACCURGUM belegt (Benabou 1976: 275). Jongeling (1984: 241) nennt weitere
vergleichbare Namen wie MAKKUR, MACURASENIS und (M)ACCURASAN
(CIL VIII, 22660). Auch im Punischen gibt es den Namen MQR
(Benz 1972: 353) und im Libyschen ist er als MKRN belegt (RIL 650).
timamasir (141/142/145/149)
Für die zweite Hälfte dieser Zeile ( <-masir>) lassen sich unschwer Entsprechungen
in nordafrikanischen Personennamen finden. Dem punischen MSYRN
(Jongeling 1984: 68/183) entspricht das libysche MSIRN (RIL 20/86/344 ... ).
Die Vokalisierung ist durch die lateinische Entsprechung MAS(S)IRAN belegt
(Jongeling 1984: 70/242). Laut Rössler (1958: I03) bedeutet MS (MAS) im
Libyschen so viel wie "Her, Gott" und ist Bestandteil zahlreicher Personennamen,
aber auch Stammesbezeichnungen wie MASAESYLI, MASSYLI,
MASTIENI etc.
Die Wurzel MS(N) ist in den Ostinsel-Inschriften in verschiedensten
Vokalisierungen vertreten. Für alle Varianten gibt es Entsprechungen in libyschen
Inschriften Nordafrikas:
nug-masa (104), mase (131, 190), i-mase (164): MSH (RIL 69,613 etc.)
masen (122), masun (234), mase* (54), nu-*asan (49): MSN (RIL 452, 990)
Im Libyschen gibt es auch ein MSIN (RIL 667) und ein MSNH (RIL 621,
634 etc.), das dem lateinischen MASUNA (CIL VIII, 9835) entspricht.
Im Bereich des Altkanarischen wären em ehesten die Ortsbezeichnungen
IMOSE (Bethencourt Alfonso 1991: 431), TOMASEN (Bethencourt Alfonso
1991: 389), TAMASIN (Wölfe! 1965: 661) zu vergleichen. Typisch sind das
Präfix T- und die unterschiedliche Vokalisierung.
Anmerkung zur ersten Worthälfte von <timamasir>: TIMA wird von Wölfe!
(1965: 452) als Variante von TIRMA ="ein Heiligtum" angeführt.
usretan (3 5/3 7 /222/223/224)
-TN (-T AN) ist eine der häufigsten Namensendungen im Libyschen. Während
Zyhlarz (1950: 420) noch meint, TAN als Gottesnamen identifizieren zu können,
schreibt Jongeling (1984: 60), daß dem Suffix -TAN keine bestimmte
Bedeutung zugewiesen werden kann. Rössler (1958: I09) deutet -TAN als
Pronomen suffixum 3.P., das mit akkusativischer Bedeutung ausschließlich an
verbale Bindungen angefügt wurde. Tatsächlich ist auch im Libyschen der Name
SRTN belegt (RIL 386).
Besonders typisch für libysche Namen ist die Afixklarnmer 1- -TAN: Dafür
gibt es unter den Ostinseltexten zwei Beispiele:
istritan (79)
Bei Jongeling (1984:69) ist der Name MSTRTN belegt. Sowohl Jongeling als
173
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auch Rössler dokumentieren das wechselweise Vorkommen der Präfixe Y- ( 1-)
und M- vor den gleichen Namen: YKR (RIL 564) - MKR (RIL 651)
YRK (RIL 556) - MRK (RIL 1058).
Rössler deutet diese Erscheinung als Verbalformen und Partizipien derselben
Wurzeln.
imantan (233)
Dieser Zeile entspricht der libysche Name MNTN (RIL 1047), sehr ähnlich ist
auch der Name IMASTAN (Jongeling 1984: 78). Möglicherweise ist auch der
von Navarra Artiles (1981: 177) dokumentierte Ortsname IMANTE (Tenerife)
damit verwandt.
nufel (100/107)
Diese beiden Zeilen sind in mehrfacher Hinsicht wichtig: Die eine Zeile ist
geritzt, die andere punziert. Damit kann nachgewiesen werden, daß die punzierten
Inschriften Fuerteventuras, die von kanarischen Forschem ohne Begründung
der libysch-berberischen Schrift zugeordnet wurden (Hemandez Diaz; Perera
Betancort o.J.: 10), ebenfalls der Ostinsel-Schrift zuzurechnen sind.
Die beiden Zeilen unterscheiden sich auch dadurch, daß das N in der geritzten
Zeile seitenrichtig, in der punzierten seitenverkehrt dargestellt ist. Damit kann
als bewiesen gelten, daß das seitenverkehrte v1 kein eigenes Graphem ist, sondern
nur eine Variante des N.
Unter den lateinischen Inschriften Nordafrikas taucht dieser Name in zwei
Versionen auf: als NUBEL (Jongeling 1984: 246) und als NUVEL (CIL Vill,
9255). Der häufige Wechsel von B und F (V) im Libyschen und auch im Altkanarischen
ist eine bislang schon häufig konstatierte Erscheinung.
anibal (36/156)
Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß darin die Entsprechung des in
Nordafrika üblichen Namens HANNIBAL zu sehen ist. Er ist auch in lateinischen
Inschriften als ANNIBAL belegt (CIL VIII, 508). Damit scheint auch
erklärt, daß in den Ostinseltexten das anlautende H nicht geschrieben wurde.
Auch eine Konsonantenverdopplung gibt es in der Ostinselschrift ofensichtlich
nicht. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang die Zeile 40:
anbal (40)
Auch diese seltene Variante des Namens HANIBAL ist in lateinischen Texten
Nordafrikas belegt: ANNBAL (CIL VIII, 17952). Hannibal ist einer der für das
Semitische typischen Satznamen und kann übersetzt werden als "Gunst des
Baal" oder "meine/seine Gunst ist Baal".
iufa{ (161), iufal (139), iufa (215), iufa (Lanzarote)
Es ist wirklich sehr verlockend, hier an den mauretanischen König Juba II. zu
denken: F und B wurden im Libyschen (und ofensichtlich auch im Alt-
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kanarischen) oft vertauscht. Auf S. l 68f ist bereits ausgeführt worden, daß die
beiden zick-zack-förmigen Zeichen in Zeile 139 und 161 sehr gut aus dem
Libysch-berberischen stammen könnten, da sie den Zeichen für I(Y) und sehr
ähnlich sind. Beide Varianten wären im konkreten Fall erklärbar.
I: Laut Rössler (1980: 275) lautet die Originalschreibweise des Königsnamens
JUBAI.
S: In einer lat. Inschrift Nordafrikas (CIL VIII, 7068) ist auch der Name IUV AS
belegt.
Sollte es sich tatsächlich um den Königsnamen handeln, so könnte es durchaus
sein, daß er in diesen Inschriften als Gottheit angerufen wurde. Nicht nur er,
sondern alle mauretanischen Könige besaßen in den Augen ihrer Untertanen
göttliche Eigenschaften und wurden auch als Götter verehrt. Belegt ist dieser
sicherlich viel ältere Brauch mehrfach in der römischen Zeit, z.B. bei Minucius
Felix, Octavius (cap. XXIII): " ... et Juba, Mauris volentibus, deus est" ( ... und
Juba ist, wie die Mauren es wollen, ein Gott).
selan/silan (56)
Neben -T AN und -SAN gehört -LAN zu den Wortendungen, die für libysche
Namen als besonders typisch erachtet werden. Der Name SLN ist in libyschen
Inschriften Nordafrikas zweimal dokumentiert (RIL 41/217). Im Lateinischen
existiert sowohl der Name SELAN (CIL VIII, 5189) als auch SILANUS (CIL
VIII, 5230), auf nordafrikanischen Keramikstempeln SILAN (Guery Nr. 202).
Anmerkung zu <sei->: SEL (CEL, CELA) ist für das Altkanarische - auch
auf den beiden Ostinseln - im Sinne von "Mond, Monat" belegt (Wölfe! 1965:
482), vgl. griech. SELENE. Unter den Ostinsel-Zeilen vgl. 12: <uasel> und 29/
32: <uaisel>.
sal-ufi (41/131/vielleicht auch 42 und 203)
SL ist als Name in nordafrikanischen Inschriften zweimal belegt (RIL 443/529)
und entspricht dem lat. SALO (CIL VIII, 8773).
uasu-stif ( 45)
In den libyschen Inschriften Nordafrikas ist der Name STF (RIL 762) belegt.
Möglicherweise besteht aber auch ein Zusammenhang mit der nordafrikanischen
Stadt SITIFIS (SETIF) und dem dazugehörigen lateinischen Personennamen
SITIFENSIS (CIL VIII, 8498).
uasu-sesal ( 42)
Dem zweiten Teil dieser Zeile entspricht der libysche Name SSL (RIL 383).
Unter den lateinischen Namen Nordafrikas ist SESOLA (CIL VIII, 5103) am
verwandtesten.
tase*at (187)
Diese Zeile ist vielleicht mit dem libyschen Namen TSTT (RIL 1055) identisch,
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es gibt aber auch ein TSLT (RIL 800) und TSDT (RIL 240), laut Jongeling
(1984: 83) auch ein TST.
iusufi (91), iusefi (3), iusfa (52)
Dieser Name ist bei den Berbern Nordafrikas auch heute noch in den verschiedensten
Vokalisierungen üblich (Yussuf, Youssef etc.). Nach mündlicher Auskunft
von Berbern des Hohen Atlas gehört er zu den "uralten" berberischen
Namen, Berberologen sind sich in dieser Frage ofensichtlich nicht so sicher.
Stimmen die vorliegende Lesung und die vorgeschlagene Datierung, so wären
die drei Zeilen wahrscheinlich der älteste schriftliche Beleg für diesen Namen
und damit auch ein Beweis, daß er nicht von den Arabern oder über die Araber
zu den Berbern gekommen sein kann.
Einige weitere Zeilen sind möglicherweise ebenfalls als libysche Namen
erklärbar, sie sind allerdings aufgrund ihres schlechten Erhaltungszustandes
bzw. ungewöhnlicher Zeichenformen nicht mit absoluter Sicherheit lesbar. Z.B.:
-SAN: -utinsan (1)
-KAN: aueakan (8/24)
Auch die auf Lanzarote dokumentierte Zeile <tadusan> (Mfia. Tenezar)
gehört in diesen Zusammenhang: -DSN ist ein häufiger Bestandteil libyscher
Namen: NBDSN (RIL 531), NBDDSN (RIL 14), MDSN (RIL 444) etc.
In einigen Zeilen der Ostinsel-Inschriften Fuerteventuras sind auffällige
Ähnlichkeiten zu lateinischen Namen ( die in Nordafrika belegt sind) festzustellen:
<iukuntis> (134) erinnert an den "beliebten" Namen IUCUNDUS (z.B. CIL
VIII, 8798),
<uananti> (14/15) an VENANTIUS (CIL VIII, 9278),
<kurfa> (21) an CURVIA (CIL VIII, 9128),
<urmaus> (151) an URMA (CIL VIII, 2339),
<lusia> (68) an LUCIA (z.B. CIL VIII, 8273),
<asini> (27) an ASINUS (IRT 237),
<ial-dida> (221) an DIDA (IRT 291).
Wenn man die Ligatur M in den Zeilen 55 und 109 als NA transkribiert (was
auch in einigen Inschriften des CIL der Fall ist), so erinnert das daraus
resultierende <kusna> sehr stark an den lateinischen Namen CUSINA (CIL
VIII, 8075).
Es ergeben sich sogar Parallelen mit in lateinischen Inschriften zitierten
Götternamen:
<iani> (38), <ian> (218): !ANUS - Gott des Sonnen- und Jahresablaufes.
Damit könnte aber natürlich auch ein Personenname gemeint sein. So taucht
auf zwei Tongefäßen von Cotta und Volubilis der Name des Töpfers als IAN
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(Laubenheimer Nr. 77) und IANI (Laubenheimer Nr. 78) auf.
<au-ati> (211 etc.): AITIS DEUS (IRT 267). Ob das ATIS TIRMA des
Altkanarischen (W ölfel 1965: 358f) damit in Zusammenhang steht, ist fraglich.
<isedi> oder <isiidi> (121): ISIDI (IRT 8) - Widmung für Isis.
Denkt man an die Möglichkeit des Vorkommens lateinischer Abbreviaturen
(nach Meyer 1991: 111ft), so ergeben sich weitere verlockende Möglichkeiten
der Deutung:
<au-> - A V= AVE V ALE
denkbar bei: <au-ati> (211 etc.)
<au-macuran> (143)
<cu-> - CV = CLARISSIMUS VIR
denkbar bei: <cu-rufi> (97) - RUFI (von RUFUS) ist vielfach belegt
(Guery 1979: 74)
<cu-r(u)fa> (21) - RUFA (CIL VIII, 2841)
<cu-s(i)ma> (55) - SIMA (Navarro Artiles 1981: 226)
<ua->-VA=VALE
denkbar bei: <ua-sima> (66)
<us-> - VS= VOTUM SOLVIT
denkbar bei: <us-retan> (35 etc.)
Damit sei nur anhand einiger weniger Beispiele (vier der insgesamt 514 "häufigeren"
Abkürzungen, die Meyer auflistet) angedeutet, daß die Annahme von
lateinischen Abkürzungen in mehreren Fällen zu sehr sinnvollen Auslegungen
führt.
Daß es während der Epoche römischer Herrschaft in Nordafrika bei der
numidischen Bevölkerung durchaus Mode war, römische Namen anzunehmen,
ist vielfach bezeugt:
SEVERUS - SWR'
DRUSUS - DRSW
TITUS - TIS (Rössler 1980: 282).
Daß es dabei zu kleineren oder beträchtlichen Änderungen in der Orthographie
kam, ist nicht nur für die Übernahme lateinischer, sondern auch punischer Namen
belegt:
TITUS
DRUSUS
JULIUS
- TYT'
- DR'SS
- YWL Y (Jongeling 1984: 93f)
4.5 .3. Verwandtschaftsbezeichnungen
In unzähligen Inschriften, sei es auf Grabstelen, in Weiheinschriften etc. ist
die Nennung von Personennamen verknüpft mit Verwandtschaftsbezeichnungen,
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am häufigsten mit der Abstammungsbezeichnung "Sohn des ... " (im Punischen
"BN", im Arabischen "BEN"). Im Libyschen (und auch im Berberischen) findet
sich am häufigsten U-. Für diese Deutung bieten sich unter den OstinselInschriften
folgende Zeilen an:
usretan (35/37/222/223/224): u-sretan = Sohn des Sretan
SRTN ist als libyscher Name belegt (RIL 386).
utafan (70): u-tafan = Sohn des Tafan
TFN ist als libyscher Name belegt (RIL 368/742), auch auf Gomera gab es den
Familiennamen TAFANA (Navarro Artiles 1981:231). Wahrscheinlich gehört
auch Zeile 155: <*afana> in diesen Zusammenhang.
uifnin (62/50/51): u-ifnin = Sohn des Ifuin
Im Libyschen gibt es die Personennamen FNN (RIL 800) und IFIN (RIL 1113).
unetan (191): u-netan = Sohn des Netan
NTN ist als libyscher Name belegt (RIL 827).
Möglicherweise sind auch in den zwei langen, nicht leicht zu transkribierenden
Zeilen l und 15 Verwandtschaftsbezeichnungen enthalten: Das U in der Mitte
der Zeilen könnte zwei Personennamen verbinden.
Die Sohnschaftsbezeichnung ist im Libyschen auch als AU- möglich:
aumakuran (143): au-makuran = Sohn des Makuran
(zu MAKURAN siehe Seite 172t)
auutin/auotin (168-170): au-utin/au-otin = Sohn des Utin
Dies liegt im Altkanarischen in zahlreichen Verschreibungen vor: oautin, oantin,
dutin, rutin etc. A UTIN ist als Bestandteil von Personennamen mehrfach belegt:
AUTINMARA, AUTINBARA, AUTINDARA, AUTINDANA etc. (Wölfel
1965: 341, Navarro Artiles 1981: 92). Die Varianten <auutin> und <auotin>
sind entweder als Schreibfehler zu erklären oder als absichtliche Setzung von
0, um zwei U hintereinander zu vermeiden. Im Libyschen kommt ihm IUTN
(RIL 36) - lat. IUTINUS - am nähesten.
Weitere Möglichkeiten: au-ati (236/237/238/21 l/213)
au-tati ( 63/64)
au-dumne (208)
au-eakan (8/24)
Weitere hypothetische Möglichkeiten anderer Verwandtschaftsbezeichnungen:
ima (166) = Mutter
-ati (211 etc.) = Vater
-tati (63/64) = Vater
-uma (165) = Bruder
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4.5.4. Herkunftsbezeichnungen
UA-N-:
Für die Ureinwohner der Insel Tenerife ist die Bezeichnung "GUANCHINET"
überliefert, von der sich das heutige Wort GUANCHEN ableitet. Daß die Übersetzung
der ersten Worthälfte "GUAN" als "Mensch, Mann" falsch ist, darauf
hat schon Abercromby (1917) hingewiesen. In Wirklichkeit handelt es sich um
das libysche Demonstrativum UA = "dieser, derjenige", gefolgt von der relativgenetivischen
Partikel -N-, so daß die richtige Übersetzung "derjenige von
Tenerife" lautet (Wölfel 1965: 405).
Man kann also als gesichert annehmen, daß die Chronisten anstatt des häufigen
Wortbeginns UA- generell ein GUA- hörten und auch niederschrieben.
Damit ist auch eine auf'allige (scheinbare) Diskrepanz bei der statistischen
Untersuchung der häufigsten Buchstabenkombinationen zufriedenstellend erklärt.
GU bzw. GUA zählt in allen Untersuchungen zu den drei häufigsten
Kombinationen in der altkanarischen Sprache, während in den Ostinseltexten
nur ein einziges GU vorkommt. UA aber stellt in den Ostinsel-Zeilen die
dritthäufigste Buchstabenkombination dar.
Es ist denkbar, daß in den Zeilen <ua-n-urfean> (16) und
<ua-n-isaen> (188)
derartige Herkunftsbezeichnungen stecken. Orte dieses Namens konnten bis
jetzt allerdings nicht nachgewiesen werden. Besonders plausibel wäre diese
Deutung bei Paneel P I 8 (Zeile 16 und 17). Da anzunehmen ist, daß es sich bei
<radina> (17) um einen - allerdings nirgends belegten - Personennamen handelt,
ergäbe der Zusammenhang mit Zeile 16 sehr schlüssig die Sequenz: Radina,
derjenige aus Urfean.
Noch hypothetischer ist die Lesung der Zeile <ua-uga-n> (219) als "derjenige
aus U ga". Auch hier ist eine zweite, leider kaum lesbare Zeile benachbart,
die einen Personennamen enthalten könnte. Besonders verlockend ist diese
Deutung dadurch, daß der Ortsname UGA sowohl im antiken Numidien existierte
(siehe Ptolemäus: Cosmographia) als auch auf Lanzarote erhalten blieb.
Allerdings wäre in diesem Fall die Genetivpartikel N als Sufix an die
Ortsbezeichnung angefügt. Vielleicht ein grammatikalischer Fehler des Schreibers
oder eine damals mögliche Variante? Die Zeile 219 wäre aber auch als
<ua-ugan> lesbar: UGAN ist ein auf Fuerteventura mehrfach belegter Ortsname
(Valle de Ugan, Casas de Ugan etc.)
AUA-:
Viele Tuareg-Inschriften beginnen mit der Formel "AUA NÄK ... "=das (bin)
ich ... (der sagt...). Demnach könnte Zeile 182: <au(a)-afran> möglicherweise
in diesem Sinne als "das (ist) Afran" gelesen werden.
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4.5.5. Nichtlibysches Wortgut?
Anläßlich von Vorträgen und Diskussionen über die Transkription der Ostinsel-
Schrift wurde schon mehrfach die Frage gestellt, ob sich denn alle dokumentierten
Zeilen mittels der altkanarischen bzw. libyschen Sprache lesen ließen.
Ich halte das für eine sehr wichtige Frage, wenn auch nicht im Sinne der
meisten Fragenden, die in einer negativen Antwort ein Argument gegen die
lateinische Transkription sehen wollten.
Vorerst gilt es zu klären, auf welche Zeilen wir uns bei dieser Fragestellung
beziehen. Von den 238 bisher dokumentierten Zeilen ist etwa die Hälfte wegen
des fragmentarischen Erhaltungszustandes oder wegen Überritzungen nur bedingt
oder überhaupt nicht für linguistische Analysen heranzuziehen. Betrachten
wir das Argument, ein beträchtlicher Teil der übrigen Zeilen klinge nicht
altkanarisch bzw. libysch (mit Klang sind wohl die damals tatsächlich gesprochenen
Lautfolgen gemeint). Eingangs sei noch einmal betont, daß in dieser
Frage äußerste Vorsicht am Platze ist:
Wie die altkanarische Sprache wirklich klang, ist nur eingeschränkt
erschließbar, da wir mit beträchlichen Entstellungen durch die Chronisten zu
rechnen haben (siehe Kap. 4.3.l.). Wie die libysche Sprache wirklich klang,
wissen wir aufgrund der fehlenden Vokalisierung nur sehr eingeschränkt und
indirekt, etwa aus Entsprechungen in lateinischen Inschriften.
Der Vergleich mit Lautfolgen der rezenten Berbersprachen ist wegen der
zeitlichen Distanz von etwa 2000 Jahren nur bedingt möglich. Letzterer Vergleich
ist allerdings legitim, wenn auch heute nicht mehr alle der Meinung
Rösslers sind, daß der Unterschied zwischen einem zweitausend Jahre alten
altlibyschen und einem rezenten neulibyschen Dialekt "erschütternd gering" ist
(Rössler 1958: 120).
Im folgenden werden nur Beispiele genannt, die über die im Kapitel
Morphologie genannten hinausgehen:
1 2 uasel vasela altkan.
66 uas1ma s1ma 11
11 guasimo 11
8 aueakan
100 nufel
55 cusma
71 isin
II
219ugan
167ira
177 aral
18 0
acano
nufel
usman
sm
1sm
ugan
ira
arra
II
schilh.
II
II
berab.
schilh.
II
II
Berg auf La Palma
Personenname auf La Pal.ma
Pflanze auf Hierro
das (Mond- )Jahr
verrückt werden
Blitz
zwei
wissen
sie machten krank
wollen
Schrift
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186 -midan middn II Leute
84 aun aun II hinaufsteigen
91 iusufi IUS
II sein/ihr Sohn
II ufi II ich habe gefunden
97 kurufi urufin II Form von äf= finden
104nugmasa nug herab. töten
11 Oiaurui urui II ich habe gezeugt/geboren
32 uaisil isil II noch existieren
I 61 iufa iufa II er fand
221 ialdida adida tamaz. Geräusch, Schrei
Auffällig an dieser Tabelle ist das Überwiegen von möglichen Parallelen mit
dem Schilhischen. Das ist vor mir auch schon anderen Autoren aufgefallen.
Schon George Glas (1764) fand solche Wortpaare (zitiert bei Wölfe} 1965:
123 ), Bory de St. Vincent (1830/1970: 434) spricht von der "Übereinstimmung
vieler Wörter ... mit der Schilhasprache". Vycichl (1952: 204) glaubt auf den
Kanaren drei Dialekte isolieren zu können, von denen einer mit dem Schilhischen
verwandt sei.
In aller Deutlichkeit sei betont, daß die Nennung gleicher bzw. sehr ähnlicher
Lautfolgen nicht impliziert, daß die Zeilen der Ostinsel-Schrift auch tatsächlich
in dieser Bedeutung verwendet wurden. Wenn man aber die oben genannten
Schwierigkeiten berücksichtigt, so ergibt der Vergleich schon erstaunliche
Übereinstimmungen in der Lautfolge der Wörter. Vielleicht trift die eine
oder andere Bedeutung auch tatsächlich zu.
Somit konnten bisher für etwa die Hälfte der knapp 1 50 einigermaßen
sicher lesbaren Zeilen zumindest theoretisch denkbare Entsprechungen in den
altkanarischen bzw. libyschen Sprachen gefunden werden. Sollten sich für alle
übrigen keine Entsprechungen finden - was zum jetzigen Zeitpunkt noch gar
nicht feststeht - so ist auch das kein Argument gegen die Richtigkeit der bisher
formulierten Thesen. Ganz im Gegenteil: Die untersuchten Schriftzeugnisse
stammen ja nicht aus dem libyschen Kernraum in Nordafrika, sondern von den
Kanarischen Inseln. Und auch für das von den Chronisten überlieferte Wortgut
gilt doch die Feststellung, daß sich nicht alle Wörter aus dem Libyschen bzw.
Berberischen etymologisieren lassen.
Sollte sich die Vermutung, daß einige Zeilen anderen Sprachschichten
entstammen, als richtig erweisen, so wäre das eine starke Bekräftigung der
These, daß es sich bei der Sprache der Ostinsel-Texte nicht um ein reines Libysch,
sondern eben um das Altkanarische handelt. Das hieße, daß wir schon
für die Zeit um Chr. Geb. die Existenz einer älteren Sprachschicht und somit
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einer "Urbevölkerung" annehmen müßten.
Über die Thematik der Besiedlungsgeschichte gibt es eine umfangreiche
Literatur. H.J. Ulbrich hat die äußerst kontroversielle und nicht immer
emotionsfrei geführte Diskussion in einem Almogaren-Beitrag (:X/2/1989:
33-99) hervorragend zusammengefaßt. Trotz des noch immer sehr unzureichenden
Untersuchungsmaterials und spärlicher Datierungen und der Einschränkung,
daß höchstwahrscheinlich jede Insel ihr eigenes Besiedlungsmuster aufweise,
formuliert Ulbrich als Versuch einer inselübergreifenden Darstellung
einen dreistufigen Besiedlungsablauf:
1) 3500 - 2000 V. Chr.:
Immigration einer südwesteuropäischen, cromagnoiden Menschengruppe,
neolithisch geprägt mit megalithischer Tendenz
2) 2200 - 500 V. Chr.:
Immigration eines mediterraniden, spätneolithischen bis bronzezeitlichen Typs
3) 250 v. - 400 n. Chr.:
Immigration eines berberischen Typs