Juan BETHENCOUR T ALFONSO (Tenerife) t
DAS ARTIKULIERTE PFEIFEN AUF GOMERA
Aus der ,,Revista de Canarias" Nr. 71 vom 8.11.1881 übersetzt von Dipl.-Dolm. Helmfried
Knoll, Wien.
Die Insel Gomera ist eine der schonsten des Kanarischen Archipels. Da
diese Insel meist von Personen, die sie personlich gar nicht kannten, vollig
falsch beschrieben oder nur unter dem Aspekt ihrer schlechten Verkehrswege
behandelt wurde, machen sich die meisten Menschen ein total falsches Bild
von dieser Insel: von ihrem Reichtum und nicht zuletzt von der Kultur ihrer
Bewohner, die sich jedem Fremden gegenüber so groBzügig und freundlich
zeigen.
Die Insel wird von zahlreichen und tiefen Barrancos durchfurcht, von
Bergen und hohen Gebirgen aus Basalt, Bimsstein, Phonolith und anderem
Eruptivgestein überragt, manchmal in gewisser Symmetrie, dann aber wieder
in volliger Unordnung und Willkür, so als wollten sie die Intensitat des Vulkanismus
bezeugen, dem diese Insel im Laufe der Zeit immer wieder unterworfen
war. All dies macht die Insel auBerst unwegsam; der besondere landschaftliche
Reiz und die einmalige Schonheit ihrer lieblichen Taler und
malerischen Regionen jedoch lassen dies alles vergessen. Immer werden wir
von den Kontrasten und dem unerwarteten Szenenwechsel der Landschaft
überrascht, die sich uns hier, wie nirgendwo sonst, auf engstem Raum offenbart.
Es ist nahezu unmoglich, die dichtbelaubten Walder mit den meterdicken
Stammen zu beschreiben, die machtigen Buchen, das liebliche Heidekraut,
die Lorbeerbaume und die abwechslungsreiche Vegetation der Küsten, alles
in üppigster, tropischer Fruchtbarkeit. Unbeschreiblich schon ist auch das
Tal von San Sebastián mit den eleganten Palmen und dem historisch interessanten
Turm sowie der herrlichen, mehrere Kilometer langen Cañada, die
dicht mit grünen Baumen bestanden ist; unbeschreiblich schon letztlich auch
das Tal von Hermigua mit den ausgedehnten Kulturen, dem lieblichen Ackerland
und den grünen Hangen; das Tal von Gran Rey, das von einem Bachlein
durchflossen wird und fruchtbare Huertas, Zuckerrohrpflanzungen, Baum-
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wollstraucher und mit Yamswurzeln bedeckte Hügeln aufweist. Aber auch
die Taler von Vallehermoso, Benchijigua, Herques und andere, die sich in den
tiefen Falten der Insel ihren Weg suchen, sind von einmaligem Reiz, voll
Schonheit und mit besonderer Fruchtbarkeit gesegnet. Immer wieder eindrucksvoll
erweist sich der Fels von Agulo mit dem kostlichen Wasserfall in
der Mitte, der dem vertraumten Dorf Leben spendet. Die eindrucksvollen
Abgründe und schroffen Erhebungen, die wildromantische Küste, der Fels
von ,,Los Organos", ein kaprizioses und einmaliges Beispiel der mechanischen
Krafte der Natur, die schrofe Steilküste, die geologisch interessante
Querschnitte bietet, all dies verspricht ein überma.13 an Eindrücken. Es ist
wahrhaft unmoglich, jene groBartige Natur, jene Kontraste und die rasche
Folge des Panoramas, die jeden Naturfreund entzücken müssen, auch nur
einigerma.Ben zu beschreiben.
Die Insel Gomera aber ist nicht nur wegen ihrer landschaftlichen Schonheit,
ihrer Vegetation, der Gebirge und malerischen Taler sehenswert, sondern
ist darüber hinaus noch ein auBerst interessantes und ergiebiges Gebiet
fur die prahistorischen Studien der Ethnologen und Anthropologen.
Im Inneren der Hohlen in den Barrancos, auf den Berggipfeln und im
Basalt an den Küsten sowie in den Concheros (Muschelhaufen) der Strande
stieB man auf Funde, die über die Bestattungsbrauche der alten Gomerer,
über ihren Glauben, ihr Handwerk und ihre Lebensart AufschluB geben. Aber
auch an Hand der Sitten, Sprache und der diversen organischen Merkmale
und besonderen Eigenschaften der heutigen Bewohner kann man auf das
Leben der vergangenen Generationen, sowie auf die Sprache und die physisch-
moralischen Eigenschaften der primitiven Gomerer schlieBen.
Der Sinn dieses und weiterer Artikel soll es sein, einige der Besonderheiten
aufzuzeigen, die mit dem Ursprung des Gomerer-Volkes in Zusammenhang
stehen, und die, unseres Wissens nach, bis heute noch von keinem
Historiker dieser Insel erwahnt wurden. Und wir sagen aufzeigen, da wir
nicht mehr beabsichtigen, als nur unsere Beobachtungen wiederzugeben,
damit diese von Experten und Fachleuten bei der Erforschung und der
Losung dieses Problems, das uns interessiert, entsprechend ausgewertet
würden.
Eine der Eigenschaften, welche die Gomerer bis heute aus der Zeit ihrer
Urbewohner, der primitiven Gomerer, bewahrt haben, ist der ,,silbo" (Pfiff),
der sich hier zu einer richtigen artikulierten, ausdrucksvollen Sprache entwickelt
hat. Der Fremde, der zum ersten Mal diese Insel besucht und das
genannte Phanomen nicht kennt, wird sich immer wieder über diese Pfiffe
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van allen Seiten her wundern, die entweder weich und rhythmisch Vogelstimmen
nachzuahmen scheinen, oder betaubend laut und schrill wie Pfiffe
van Lokomotiven sind; manchmal wieder leicht, schnell und gebieterisch
oder lockend und angstlich, so als bate jemand oder gabe lange Erklarungen
ab. Aber kein Reisender würde wohl annehmen, daB er selbst Ursache dieses
zahlreichen Pfeifens um ihn herum ist.
Der Führer selbst, der ihn begleitet, beginnt plotzlich ebenfalls zu pfeifen,
um die Fragen, die ihm van den Hohen der Berge, aus der Tiefe der Taler
oder dem Dickicht der Walder entgegenklingen, zu beantworten und teilt so,
ohne daB es einem auffiele, Unzahligen mit, wie die Person heillt, die er
führt, woher sie kommt, wohin sie geht, welchen Beruf sie hat, weshalb sie
die Dorfer der Insel aufsucht; kurz, er berichtet, wenn er will, ausführlich
und genau über das ofentliche und private Leben des Reisenden.
Dieses einzigartige Ausdrucksmittel hat nichts mit dem gebrauchlichen,
auBerst begrenzten Pfeifen zu tun, wie es manche Menschen, um sich z.B. vor
Gefahr zu warnen, mit vorher festgelegten und verabredeten Pfiffen praktizieren,
sondern ist vielmehr eine bei diesem Volk sehr verbreitete, artikulierte
Sprache, die es gestattet, Nachrichten binnen kürzester Zeit, gleichsam
telegraphisch, zu übermitteln.
Unserer Meinung nach existiert auf der Welt kein anderes Volk, bei dem
ein ahnliches Phanomen zu verzeichnen ware; und selbst der Physiologe
Dodart wuBte, wie aus seiner ,,Glotis labial" zu schlieBen ist, nichts van der
grgBen Bedeutung dieses Phanomens, das van unzahligen Gomerern angewendet
wird.
Es mag dies wohl nicht der geeignetste Augenblick sein, um eine physiologische
Erklarung über den V organg des artikulierten Pfeifens abzugeben, es
sollte aber doch darauf hingewiesen werden, daB die Gomerer dafür drei
Vorgangsweisen bzw. Arten anwenden:
l. Indem die Lippen zusammengezogen und stark nach vorne geschoben
werden, so daB zwischen ihnen eine kleine nahezu runde óffnung bleibt.
2. Indem die Lippen seitlich gewolbt und so geschlossen werden, daB sie eine
schmale Querspalte bilden, in deren Mitte die Zunge trichterformig eingerollt
liegt.
3. Indeni. eine Fingerspitze oder aber die Spitzen zweier Finger in Form
eines ,,V", mit dem Winkel zum Mundinneren, auf die Zunge gelegt
werden, oder indem einer der vier kleineren Finger mit dem Rücken nach
aben und gebogen, oder der van Daumen und einem anderen Finger
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derselben Hand gebildete Bogen zwischen die Zahnreihen gelegt wird ( die
gebrauchlichste Art).
Bei diesen Vorgangen, die den Gomerer zu Pfifen über nahezu zwei
Oktaven befahigen, wenngleich er im Alltagsgesprach meist nur eine halbe
Oktave benotigt, sind die Lippen (und die Finger, wenn sie verwendet werden),
die den Ton erzeugen, und die Zunge der wichtigste Faktor für die
Artikulation des Pfiffes, bei dem, wie bei der Stimme, Klang, Ton, Intensitat
und Dauer zu unterscheiden sind.
Wer nicht sehr an diese Pfeifsprache gewohnt ist, die die Gomerer so
perfekt beherrschen und an der sie sich sogar, auch wenn sie einander nicht
sehen konnen und mehrere zur selben Zeit pfeifen, am Klang erkennen, wird
nicht nur kein Wort verstehen konnen, sondern es wird ihm die Intensitat der
Pfife, wenn sich ein Gomerer nahe bei ihm mit einem anderen auf sehr weite
Distanz unterhalt, nahezu unertraglich sein.
Wir wollen aber diese Aufzeichnung über die auBergewohnliche Tatsache,
daB es ein Volk gibt, das von den primitiven Gomerern die Fahigkeit geerbt
und übernommen hat, seine Gedanken und Ideen mittels artikulierten Pfeifens
zu vermitteln, nicht schlieBen, ohne, wenngleich mit Einschrankung und
groBer Vorsicht, die Synthese unserer Beobachtungen dieser einmaligen
Sprache wiederzugeben.
Das Studium der physischen Eigenschaften der Gomerer beweist, daB die
Bewohner der Insel zumindest von zwei verschiedenen Rassen (wobei die
europaischen und afrikanischen Elemente aus der Zeit nach der Conquista
nicht berücksichtigt wurden) abstammen, die einerseits durch blondes Haar,
blaue Augen, helle Haut, sowie Züge, die jenen der blonden Guanchen-Nachkommen
auf Tenerife oder Hierro ahneln, charakterisiert sind, sowie andererseits
durch dunkles Haar und dunkle Augen, ausgepragte Backenknochen,
sehr dunkle, leicht olivenfarbene Haut, groBen Mund mit flachen Lippen und
keckes, hartes Auftreten.
Wenn man nun demnach das Vorhandensein dieser beiden Elemente, die
so augenscheinlich sind, zur Kenntnis nimmt und andererseits die Tatsache
nicht zu leugnen ist, daB das artikulierte Pfeifen bereits seit den Zeiten der
primitiven Gomerer auf jener Insel angewendet wird, ware es dann unlogisch,
anzunehmen, daB einer der beiden Rassen, wahrscheinlich der dunkelhautigen,
als einziges Ausdrucksmittel ihrer Gedanken nur jene Sprache zur
Verfügung stand, die wir ,,silbado" nennen?
Wenn der Mensch das Wort, die artikulierte Stimme erfunden hat, konn-
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ten dann nicht irgendwo auf der Welt gewisse Umstande, wie sie z.B. die
Natur für die Vogel entfaltet, dazu führen, statt der artikulierten Stimme den
artikulierten Pfif zu erfinden? Vielleicht ist das Phanomen nicht identisch?
1st es jedoch unter dem physiologischen Gesichtspunkt nicht dasselbe?
Die Rasse der Ureinwohner Gomeras, die spater mit anderen vermischt
wurde, konnte die artikulierte Sprache erlernen, konnte aber ebenfalls das
artikulierte Pfeifen weitergeben und vermitteln, wodurch beide Volker (van
denen wir Zeugnis haben) beide Sprachen bewahren konnten, um sie je nach
Notwendigkeit anzuwenden.
Die Fundamente, auf die sich diese Hypothese stützt, sind folgende:
l. Die Tatsache, daB hier auf Gomera diese artikulierte Pfeifsprache seit der
Zeit vor der Conquista existiert.
2. Die überlieferung. Die Historiker, die sich mit dem Ursprung und der
Sprache der Gomerer befassen, sind sich darüber einig, daB diese ,,für
gewisse Artikulationen kaum ihre Zunge benützten". Bontier und Le
Verrier meinen: ,,Ihre Sprache ist sehr eigenartig, denn sie sprechen mit
den Lippen, so als hatten sie keine Zunge." Zweifellos ist darauf auch jene
Mar gegründet, daB den Gomerern einst wegen irgendeines Vergehens van
einem Prinzen die Zunge abgeschnitten worden sei. Konnte diese Sage
nicht darauf zurückzuführen sein, daB sich die Gomerer sehr oft der Pfeifsprache
bedienten, dies jedoch van den Auslandern, denen diese Art zu
sprechen unbekannt war, nicht beachtet wurde?
3. DaB die Gomerer auch heute noch, wenn sie sich der Pfeifsprache bedienen,
eigenartige Worter verwenden, die nicht jenen ihrer primitiven
Sprache oder einer anderen entsprechen. So ist das Wort ,,cabra" (Ziege)
in ihrer primitiven Sprache ,,minaja" und beim Pfeifen verwenden sie
einen besonderen Ton; ,,oveja" (Schaf) heiBt ,,tufa", ,,ojis", und beim
Pfeifen wird ein Ton verwendet, der wie ,,ao" klingt, etc.
Zum SchluB wollen wir noch hinzufügen, daB wir zwar noch keine endgültigen
Beweise dafür haben, daB die Urbewohner Gomeras vor der artikulierten
Stimme die Pfeifsprache erfunden haben konnten, eine Tatsache, die
wir ohne weiteres für moglich halten, und die wir sogar annehmen. AuBer
Zweifel steht aber auf jeden Fall, daB die primitiven Gomerer ihre Gedanken
mittels Pfeifens ausdrücken und vermitteln konnten, ein Phanomen, welches
wahrhaft wert ist, die Aufmerksamkeit der Experten zu erwecken.
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SUMMARY
To facilitate comparison, the article written by the scientist Juan Bethencourt
Alfonso (see Almogaren 1/1970, pages 135 ff.) ninety years ago is
published together with the article on present day "Silbo" by H. F. Nowak.
When Bethencourt Alfonso wrote his report, "Silbo" was used more widely
than it is used today as a means of communication. The style and mode of
expression of Bethencourt's article have not been altered in arder to preserve
its historical significance.
RESUMEN
Este artículo des investigador canario Juan Bethencourt Alfonso sobre el
lenguaje silbado de Gomera, aparecido hace mas de 90 años (veáse Almogaren
1/1970, p. 135 ss.) ha sido colocado, por razones científico-históricas,
junto al de H. F. Nowak. En el tiempo en que este artículo fue escrito, el
"silbo", en cuanto medio de comunicación, tenía una importancia
muchísimo mayor que hoy en día. El estilo y la forma de expresión del
artículo no han sido modernizados, al objeto de conservar su carácter
histórico.
lnhaber : Siegfried Hollaus
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