Hans Biederman
WÖLFELS GLIEDERUNG DES EPIGRAPHISCHEN
MATERIALS DER KANARISCHEN INSELN.
ALTE UND NEUE PROBLEME.
Im Laufe der Jahre hat sich unsere Kenntnis der auf
den Kanarischen Inseln vorhandenen Petroglyphen im allgemeinen
wie auch der Felsinschriften im besonderen bedeutend
erwei tert. Zum Teil wurden neue Fundstä t ten entdeckt,
zum Teil der Materialbe stand von bereits teilweise bekannte n
Fundplä tzen durch systematische Geländearbei t in der näheren
und weiteren Umgebung wesent lich vergr össert; überdies
wurden mehrere Arbeiten analytischer Natur veröffentlicht,
e twa auch im Jahrbu ch Almogaren XI-XII, 1981-1982 und in
den I.C.-Nachrichten des lnstitu tum Canarium (R. Hernandez
Bautista und Renate Springer; Lionel Galand; Mark Milburn;
Herbert Nowak).
Dominik Josef Wölfet, der 1963 verstorbene Pionier
der Altkanarierforschung, hat te sich schon vor mehreren
Jahrzehnten mit einem noch wesent lich beschränkteren Basismaterial
auseinandergesetz t; er war bestrebt gewesen, es
systematisch zu gliedern und daraus Schlüsse ethnohistorischer
Natur zu ziehen. Seine Arbei ten wurden oft zitiert,
aber dennoch nicht immer richtig verstanden.
Meine Arbei t "Altkreta. und die Kanarischen Inseln"
(Biedermann 1970) sollte zunächst Wölfels Auffassung verdeutlichen
und darüber hinaus auch neue Gesichtspunkte zur
Diskussion stellen. Ihr Titel gab jedoch zu einigen Missdeutungen
Anlass, die offentsichtlich der Korrektur bedürfen.
Überdies haben sich aufgrund der einlei tend geschilderten
Umstände mehrere neue Gesichtspunkte ergeben, die berücksichtig
t werden sol lten.
Während in der äl teren Literatur die al tkanarische
Epigraphik und Pet roglyphik nur sporadisch erwähnt wird,
obwohl Sabin Berth elot schon in der Zei t ab 1870 Bildmaterial
darüber publizierte, stellt sich nunmehr ein gesteigertes
Interesse an diesem "Museum der Schriftgeschichte" (Wölfet)
heraus. In H. Jensens S tandardwerk werden die Kanaren noch
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völlig ign oriert (Jensen 1958), während ein neues
Einführungsb uch über die Felsbilder Afrikas (A.
1984) ihnen immerhin eine überblicksmässige
widmet.
allgemeines
R. W illcox,
Darstellung
Allgemein ist festzustellen, d ass sich sukzessive doch
die Erke nntn is durchsetzt, die Kanaren seien für den kulturanthropologisch
Interessierten mehr als ein Ferienparadies
des Massentourismus. Freilich werden sowohl die Felsbilder
wie auch Felsinschriften überall dort, wo sich ihnen die
Aufmerksamkeit brei ter Kreise zuwendet, auch gefährdet.
Das Prob lem, dass "Zeichenfelsen" ihren Auf forderungscharakter
beibe halten und dass daher alte Manifestat ionen verkritzelt
werden, ist weltwei t und im Salzburger Land ebenso
existent wie in Kalifornien oder den Kanarischen Inseln. Das
epigraphische und petroglyphische Fundmaterial der Kanaren
ist, wie noch zu erwähnen sein wird, in dieser Hinsicht besonders
gefährdet.
Ke hren wir jedoch zur G liederung der altkanarischen
Inschriften durch D. J. Wölf el zurück.
"Megalithische" Z üge im Kulturbesitz der vorspanischen
Besiedler des Archipels wurden oft diskutiert (u.a.
sie he: Biedermann, 1984, 1 11 ff.). Konsequenterweise beschrieb
Wölfet "megalithische Petroglyphen" auf den Kanaren
als die ältesten Repräsentanten der· dort dokument ierbaren
Schriftgeschichte (Wölfet, 1979, 304 ff.). W ir verste hen
darunter vorwiegend einfache Symbolzeichen wie Spiralen,
Doppelsp iralen, Wellenlinien, konzentrische Kreise etc., wie
sie praktisch überall dort zu finden sind, wo auch megali thische
Bauformen auftreten; in erster Linie handelt es sich
als o um die vom Verfasser so bezeichneten Ringwellen- oder
We llenkreis Symbole (Biedermann, 1986). Ob wir derartige
Sinnzeichen als Schrift ansprechen wollen oder nicht, hängt
von der Defini tion dieses Begriffes ab. Nach der Begriffsbest
immung Wölfels ( "eine Mitteilung an räumlich oder zei tlich
Entfernte mittels konventioneller Zeichen") müssten
auch "Sinnschriften" in dieser Kategorie eingereiht werden,
obwohl ihre Aussage nicht an sprachliche Formen gekn üpft
ist (Gegensatz zu "Sprachschriften").
Dem Kenner des kanarischen Petroglyphenmaterials
ist klar, dass sich dieser Abs atz in erster Linie auf die Insel
La Palma bezieht (zum Teil jedoch auch für Fundplätze auf
der Insel Hierro zutrifft), deren Bestand an Spiralen,
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konzentrischen Kreisen und Wellenlinien usw. sich im Laufe
der let zten Jahre durch Neufunde wesent lich erweitert hat.
Auf den Inseln ist hingegen, aus welchen Gründen immer,
kaum Verg leichbares zutage getreten.
Aufgabe dieses Aufsatzes kann es aber nicht sein,
ein Panorama der altkanarischen Pet roglyphik darzubieten.
Dazu sind im Laufe der let zten Jahre einige Einzelarbeiten
veröffent licht worden, und Dokumentat ionsarbeiten sind derzeit
im Gange. Wer erlebt hat, wie sehr jede Analyse von
einer sauberen W iedergabe des Basismaterials abhängt und
wie ungenaue Wiedergabe zu Fehlinterpretat ionen führen
kann, wird der Forderung zust immen, dass nur die fachlich
einwandfreie Darb ietung der Quellen die Basis jeder verg leichenden
und analytischen Studie über das überaus wertvolle
Basismaterial darstellen kann.- Dass dieses durch Andenkenjäger,
Strassenbauarbeiten, Gedankenlosig keit Einheimischer
wie Touristen und böswillige Zerstörung schwer gefährdet
ist, sollte dazu veranlassen, die einzelnen Fundstä t ten nur
dort zu kennzeichnen, wo auch für ihren Schutz garant iert
werden kann. Da nicht neben jeden Fundplatz ein Aufseher
gestellt werden kann, wäre es besser, von Wegweisern zu
den einzelnen Fundplätzen abzusehen.
Der in typologischer Hinsicht nächstjüngere Bestand
von Schriftzeichen wird etwa durch die Felszeichen des
Barranco de Balos (Gran Canaria) repräsent iert. Es handelt
sich um eine Art Linearschrift altmittelmeerischer Prägung;
die Schreibrichtung ist nicht einheitlich, die Zeilen verlaufen
oft bogen- oder spiralförmig. Dabei wechselt die Orientierung
der einzelnen Zeichen mit der Zeilenrichtung. Wölfel
wies auf diese von ihm als "Westschrift" bezeichnete Schriftart
besonders eindringlich hin (Wölfet, 1955b, 194), weil
sich in ihr starke Anklänge an die altkret ische Siegel- und
Hieroglyphenschrift sowie an die aus ihr abgeleiteten Linearschriften
zeigen. Darüber wird noch aus führlich zu sprechen
sein. Wenn diese Analogie stimmt, so ist es wohl nicht unberechtigt,
auch hier von Silbenzeichen zu sprechen. Endgültig
beantwortet kann die Frage nach dem Charakter dieser
Schrift freilich erst dann werden, wenn ein exakt ausgearbeitetes
Inventar der Felsinschriften vorliegt und wir die
Zahl der einzelnen Zeichen genauer kennen.
Wölfel wollte bei den Zeichen dieses Schrift typs
auch Ligaturen und diakritische Symbole erkennen und mein -
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te im Hinblick auf ihr Verhältnis zu den Schriftsystemen
Kretas: "Ich halte diese Schrift für verwandt mit der kretischen,
aber nicht für identisch mit ihr; es dürfte nicht Abstammung,
sondern Seitenverwandtschaft vorliegen" (Wölfel,
1942, 131).
Dass Wölf el bei seinen Studien naturgemäss von den
vorliegenden Publikat ionen abhängig war, mahnt freilich in
dieser Hinsicht zur Vorsicht. Sein Grundlagenmaterial bestand
aus Fotos von mit Kreide nachgezogenen Schriftzeichen
( Wölfel 1979, Tafeln XVI und XVII). Wer immer sich mit
Felsbildforschung im weiteren Sinn beschäftigt hat, weiss
gut genug, wie irreführend diese Dokumentat ionsweise sein
kann. Nur zu oft sieht sich der Nachzeichner dazu verführt,
unfrei willig dort zu ergänzen, wo seiner Meinung nach eine
Linie sein sollte. Wieder ergibt sich die dringende Notwendigkeit,
den Pet roglyphenbestand so exakt als möglich festzuhalten,
solange dies noch möglich ist.
Übrigens wurde die Auffassung Wölfels von einer wie
immer gearteten Verwandtschaft al tkret ischer Schriftsymbole
mit dem hier angesprochenen Typus von petroglyphischen
Manifestat ionen oft missverstanden. Spanische Kollegen, die
nicht mehr lasen als die Überschrift "Altkreta und die Kanarischen
Inseln", glaubten wiederholt, darin einen Hinweis
auf einen direkten Zusammenhang der beiden Inselgebiete
postuliert zu sehen - etwa so, als würde jemand an eine
Kolonisation der Kanaren durch altkret ische Seefahrer denken.
Hier soll mit allem Nachdruck darauf hingewiesen
werden, dass n i e m a n d in Österreich jemals eine solche
Auffassung vertreten hat. Wölfel dachte an eine g e -
m e i n s a m e W u r z e l beider Schrifttypen, ohne freilich
den Ursprungsraum näher abgrenzen zu können. Dabei spielten
Gedanken über eine west-öst liche Ausbreitung best immter
Kulturelemente eine Rolle, also eine dem sonst üblichen
"ex oriente lux" entgegengesetzte Tendenz; die kalibrierten
Radiokarbondaten für megalithische Elemente in Westeuropa
haben gezeigt, dass Wölfels Spürsinn damit zweifellos eine
richtige Spur aufgenommen hat te.
Ein weiterer Schrifttypus weist auf Beziehungen der
Kanaren zum weissafrikanischen Fest land hin. Es handelt
sich um Zeichen einer "altlibyschen" oder "altnumidischen
Schrift; auch hier wechselt die Zeilenrichtung und Zeichen-
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orientierung. Man kann derartige Inschriften bruchstückeweise
lesen, a ber meist nicht verstehen. In Nordafrika ist die
S tele von Thugga (eine neupunisch-altnumidische Bilingue)
der Ausgangspunkt für die Entzifferung gewesen {Jensen,
1958, 143; Meinhof, 1931). Auf den· Kanarischen Inseln leitet
zu diesem Schrifttyp von der vorher erwähnten "Westschrift"
eine Übergangs- oder "Transitionsschrift" hin; in ihr beobachten
wir die Symbole der altlibyschen Buchstabenschrift
zusammen mit dem Lautwert unbekannter Glyphen der Linear-
Schrift. Diese treten in den altnumidischen, für den Tifinagh-
Kenner zunächst vertraut wirkenden Zeichenkombinationen
sogar sehr häufig auf, und aus diesem Grund ist
d ie Entzifferung der kanarischen Inschriften dieses Typus so
selten möglich. Der Berberologe Marcy hatte behauptet, alle
derart igen Inschriften lesen zu können, erbrachte aber keinen
Beweis dafür (Wölf el, 1942, 306).
Wölfet berichtet über ein wohl einwandfrei verstandenes
Wort: lrita, d.h. lereita ( " .•. ist hier gewesen"). Dies
sollte bis dato das einzige Beispiel für eine Entzifferung einer
kanarischen Felsinschrift sein (Wölfet, 1979, 310).
Wölfet hat leider das linguistische Vergleichsmaterial
zu "lereita" nur in Form von Notizen festgehalten, die nicht
mehr auf findbar sind. Der französische Berberologe L. Galand
teilte mit, dass von seiner Warte aus die Rekonst rukt
ion dessen, was Wölfet angesprochen haben wollte, nicht
möglich sei; er verstehe daher nicht, "wie das Berberische
Wölfels Übersetzung stützen könne" (L. Galand, 1981-1982,
55). Wir müssen daher leider dieses interessante Problem auf
sieh beruhen lassen.
Dabei erhebt sich auch die Frage, ob die Urheber
d ieser epigraphischen Denkmäler überhaupt mit der vorspanischen,
auf den Kanaren ansässigen Bevölkerung identisch sein
müssen. Es ist ebensogut denkbar, dass es sich um schriftliche
Manifestat ionen von Besuchern vom nordwestafrikanischen
Festland her handelt, die mit den Insulanern Handel
treiben wollten. Diese Ansicht, so L. Galand (op. cit., 55),
"wird durch die Tatsache unterstützt, dass fast alle Inschriften
dieser Art in der Nähe der Küste gefunden wurden; H.
Nowaks neueste Untersuchungen bestätigen dies. Wenn wir
die Inschriften (dieses Typs) Afrikanern zuschreiben, dann
würden sie ganz natürlich den echten libysch-berberischen
Gruppen zugehören und wir müssten uns mit den allgemeinen
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Fragen der Libyco-Berber-Epigraphik auseinandersetze n".
Denkbar ist immerhin, dass Nordafrikaner nach Überwindung
der schwierigen nautischen Verhältnisse in diesem Meeresteil
das Bedürfnis hatten, ihre glückliche Ankunft auf den Inseln
in ä.hnlicher Weise festzuhalten, wie dies ein Bergsteiger im
Gipfelbuch zu tun pflegt.
Wenn dies zutrifft, so ist freilich nicht ganz verständlich,
weshalb die Inschriften oft nur ent fernt an echtes
epigraphisches Material vom Fest land erinnern und weshalb -
vor allem in einiger Distanz von den lnschriftenfelsen - Ansamm
lungen von (scheinbar oder anscheinend) bedeutungslosen
Kringeln in die Steinflächen eingeklopft wurden. In der
Tat sehen diese Zeichen oft so aus, als hätten Kinder im
Vorschulalter "schreiben gespielt", ohne es zu können.
Wenn wir von der Hypothese ausgehen, dass in Küstennähe
fremde, schreibkundige Seefahrer echte Schriftzeichen
in geeignete Felsen hämmerten, so wäre es immerhin
denkbar, dass autochthone Insulaner dieses Tun auf ihre
Weise nachahmen wollten. Es würde sich dann um naive Kopien
von fremden Inschriften handeln, entstanden vielleicht
aus dem Wunsch, sich als ebenso tüchtig zu erweisen wie
die fremden Seefahrer aus einem Bereich der "Aussenwelt".
Ein ähnlicher Gesichtspunkt könnte auch, wie später angedeutet
werden soll, für Linearschrift- oder "Westschrift"Zeichen
gelten.
Zusammenfassend können wir auf den Kanarischen
Inseln folgende Schrifttypen erwähnen:
1 - "Megalithische Pet roglyphen"; Beispiel: Fuente de la
Zarza, Belmaco, Roque de Tenegu1a (alle La Palma); Sinnschrift
im Gegensatz zu den folgenden Punkten 2 - 4.
2 - Linearschrift ( W ölfel: "Westschrift") mit Zeichen, die
zum Teil an kret ische erinnern; wohl Silbenschrift. Beispiel:
Barranco de Candia (Hierro).
3 - Transitionsschrift. Zeichen des Typus 2 und 4 vermischt.
Beispiel: Barranco de Balos (Gran Canaria).
4 - "A lt libysche" Schriftzeichen. Eine Buchstabenschrift,
ähnlich dem heutigen Tifinagh. Beispiel: Barranco de Balos
( Gran Canaria) und Roque de la Caleta (Hierro).
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Nunmehr soll auf den Typus 2 - Linearschrift (Wölfel:
"Westschrift) - näher eingegangen werden, vor allem in Anbetracht
der Tatsache, dass Kreta durch die wohl heute
nicht mehr zu leugnende Entzifferung der Linear-B-Schrift
durch Ventris und Chadwick sowie durch die verschiedenartigen
Bemühungen zur Entschlüsselung von Linear-A heute
besonderes Interesse verdient (Ventris/Chadwick, 1956).
Dabei müssen wir uns zunächst mit der Tatsache abfinden,
dass wir auf den Kanaren keine "schön ausgefeilten"
Schriftzeichen finden. Was bisher publiziert wurde,
macht auch eher den Eindruck des Vergröberten, Barbarisierten.
Schon aus diesem Grund wird man ein ganz exakte
Entsprechung von kanarischen und kretischen Zeichenformen
nicht erwarten können.
Die Inschriften, wie man sie im Barranco de Balos
(Gran Canaria) findet , erinnern fast an die Pseudo-Schriftzeichen
auf Brakteaten - es sieht so aus, als hätte eine ungeübte
Hand sich bemüht, komplizierte Formen nachzubilden.
Figurale Darstellungen, vielleicht als Umsetzung von
Hieroglyphen zu verstehen, wechseln mit generalisierten
Formen. Auch unter den figürlich wirkenden Glyphen erinnert
maches an Kreta: etwa krugartige Gefässe (Wölfel,
1955b, 191) neben Ideogramme (Evans, 1921-1936, Fig. 451)
gestellt; oder die rohe Wiedergabe einer Barke mit stark
gekrümmten Kiel, Stevenverzierungen und einem kajütenartigen
Aufbau mit tschiffs (vgl. Hutchinson, 1962, Fig. 15, 16).
Aus dem Vergleichsmaterial Wölfels gaben wir einige
Gegenüberstellungen von kret ischen und kanarischen Material
wieder (A lmogaren I, S. 117), wobei im Hinblick auf
Kreta z.T. neue Pendants aus der in den letzten Jahren erschienenen
Literatur geboten werden könnten. Bei Betrachtung
der Vergleichstafeln wird man zunächst einwenden, dass
einfache Typen (etwa das Silbenzeichen "ka", Linear-B) an
sich noch keinen echten Zusammenhang erweisen könnten.
Wenn jedoch derartige Formen in beiden Räumen gehäuft
auftreten, wird die Wahrscheinlichkeit zweifellos schon grösser.
Bei den nebeneinander gestellten Formen handelt es
sich aber gewiss nicht nur um einfache und daher "naheliegenden"
Zeichenformen. Die Silbenzeichen "mi" und "o" (Linear-
B), die möglicherweise das Vorbild für die Zeichenligatur
von der Insel Hierro bildeten, müssten auf jeden Fall als
bereits spezialisierte Formen angesprochen werden, die nicht
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mehr ohne wei teres aufgrund blosser Konvergenz hier wie
dort auftreten können.
Wölfel berichtete seinerzeit, dass ähnliche Verg
leichsproben durch den mit ihm befreundeten Anthropologen
Eugen Fischer den Archäologen Bossert, Matz und
Sundwall vorgelegt wurden, und zwar mit dem Ergebnis: "Parallelen
zu den kret ischen Schriftarten wurden zugegeben,
eine Identität mit einer der kretischen Schriftarten wurde
bestrit ten" (Wölfe!, 1955b, 194).
Die Tats ache, dass {lt. Wölfel) sowohl auf Hierro
wie auch auf Gran Canaria (Barranco de Balos) Spiralzeilen
auf Felswänden gefunden wurden, lässt - falls die exakte
Dok umentation diese Beobachtung bestätig t - vielleicht einen
Schluss auf ihre Vorbilder zu. Eine glat te Fels fläche macht
es in keiner Weise erforderlich, eine Inschrift auf diese Art
anzubringen. Man muss, wenn man die Inschrift "lesen" will,
von Zeichen zu Zeichen den Standort wechseln. Anders ist
es, wenn die spiralig beschriebene Fläche klein und frei beweglich
ist, sodass man sie beim Lesen weiterdrehen kann.
Eine Spiralschrift dieser Art ist keineswegs materialwidrig,
sondern erfordert bloss eine von der unsrigen abweichende
Art des Ab lesens. Tatsächlich gibt es im Mittelmeerraum
derartige Urkunden: etwa bei den Etruskern das mit einer
Spiralzeile beschriebene B lei täfelchen von Magliano (Doblh ofer,
1957, Fig. 91).
Das berühmteste Beispiel für eine derartige Inschrift
s tammt jedoch aus Kreta: der Disk us von Phaistos. Bei einer
keramischen Schreibgrundlage ist eine kreisförmige
(oder, wenn die Inschrift zu lang ist: spiralig verlaufende)
Zeile materialgerecht. Dies zeigt etwa auch die mit "Tinte"
an die Innenseite eines Bechers von Knossos geschriebene
Inschrift (Doblhofer, 1957, Fig. 82). Wenn wir jedoch
Spiralzeilen an einer Felsplat te finden, erfordert das Lesen
eine gewisse Anstrengung, und schon das Anbringen der Zeichen
war gewiss nicht einfach. Dürfen wir annehmen, dass
auch in diesem Fall einst Vorbilder in der Art von bes
chriebenen "Disken" oder beschriebenen Gefässen vorhanden
waren? Es könnte sein, dass der Kopist mit der Zeichenform
selbst nicht vertraut war und nur annähernd wiederg
ab, was er sah. Dies würde die früher erwähnte Ver-gröberung
in der Zeichenformung erk lären.
Somit werden wir auch hier mit der Frage konfron-
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t iert, in welchem Ausmass das epigraphische Material von
Menschen stammt, die auf den Kanaren sesshaft waren. Inschriften,
die voll und ganz ein ausserkanarisches Schriftsystem
repräsent ieren, wären ein exakter Hinweis auf "fremde
Gäste"; wir müssen jedoch berücksichtigen, dass zumindest
bei Typus 4, also bei Inschriften des altlibyschen Typ
us, nicht (sub)rezente Berberschriften zum Vergleich herangezogen
werden dürfen. W äre dies der Fall, so könnten sie
durch einigermassen versierte Berberologen ohne allzu grosse
Schwierigkeiten entziffert werden. In der Tat ist es jedoch
nicht ernstzunehmen, wenn derartige Inschriften von den Kanaren
kurzerhand als "Tifinagh" bezeichnet werden, weil offenbar
manche Untersuchende die Altkanarier gern als Inselberber
oder Inseltuareg inte rpret ie ren möchten.
Dies wäre eine unseriöse Simplifikat ion des vielschichtigen
Problems der Altkanarier-Ursprungsf rage. Einflüsse
vom Fest land her sind nicht zu le ugnen, und küstennahe
Inschriften des altlibyschen Typus mögen in der Tat
von sporadisch die Inseln besuchenden "Nordwestafrikanern"
älterer Epochen herrühren, wie oben erwähnt wurde. Die
Quellenlage erlaubt uns jedoch derzei t nicht, mehr darüber
auszusagen.
In Hinblick auf Wölfels "Westschrift" wäre noch
nachzutragen, d as es vielleicht nicht ganz adäquat ist, kult
urelle Zusammenhänge in orthodox-di ffusionistischen Sinne
immer nur in einer Richtung erkennen zu wollen - etwa von
West nach Ost oder umgekehrt. Bei einem annähernd vergleichbaren
kulturellen Niveau können wechselweise oder
synchron beiden Richtungen einzukalkulieren sein. Wir sollten
dabei nicht an "Einbahnstrassen" denken. Wenn sich etwa
für den Linguisten eine Verwandtschaft des Königstitels
"mencey" der Guanchen von Tenerife ( Wölfel, 1958, 465
ff.) mit "Menes" und "Minos" als naheliegend erweisen sollte,
so müsste nicht unbedingt von ägyptischen oder kretischen
Einflüssen auf das kanarische Sprachmaterial gesprochen
werden (oder vice versa). Auch eine Verwandtschaft
im Sinne eines Austausches aufgrund gegenseitiger
sporadischer Kontakte ist denkbar, wenn wir den gesamten
zirkummediterranen Raum und als Aussenposten die Kanaren
betrachten. Das bedeutet in der Praxis, d ass eine im Sinne
Wölf els "eurafrikanische" Wort- und Kulturschicht an mehreren
Stellen Sp uren hinterlassen haben kann, die auf den
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Kanaren bis in die Neuzeit hinein lebendig blieben - ohne
dass deshalb der Ausgangspunkt einer Di ffusion genauer bezeichnet
werden kann.
Wölf el hat in seinen "Monumenta Linguae Canariae"
( 1965) und schon 1940 in seiner Torriani- Edition auf die
Suf fixe -n-te, -n-d-de, -nda und -nthos hingewiesen, die im
altägäischen bzw. al tkret ischen Raum eine grosse Rolle
spielten (hyakinthos, Labraunda, Perinthos, Korinthos usw.)
und sie mit altkanarischen Wortformen ähnlicher Konstruktionen
verg leichen lassen (tamonante, tamogante, tacunde
usw.), ohne deshalb - und dies soll wiederholt werden - an
direk te, linear verlaufende Einflüsse der alten Ägäis auf die
Kanaren zu denken.
Viele Ansichten Dominik Josef Wölfels werden angesichts
neuerer Forschungsergebnisse revidiert werden müssen.
Es hat sicher aber andererseits nicht selten erwiesen,
dass sein weites Panorama ihm Einsichten eröffnete, die
auch mehrere Jahrzehnte nach seinem Tode Beachtung verdienen.
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a) Los Let reros 1, Hierro:
Ligatur aus zwei Silbensymbolen
(Wölfel 1958)
a) Barranco de Balos, Gran
Canaria (Wölfel 1955b,193)
a) Barranco de Candia
(Wölfel 1955b , 196)
a) Barranco de Balos, Gran
Canaria (Wölfel 1958, 196)
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Kreta
V D
"mi " "o"
b) Linear-B-Silbenzeicren
(Vent ris u. Chadwick)
b) Linear-B-Silbenzeichen
(Evans, Scripta Minoa,
Fig. 19; jensen 1958,
Fig. 93
44
b) Kretisches Zeichen
(Ev ans, Palace of Minos I,
476
b) Linear-A-Zeichen, Inschrift
von A rkh anais
{Jensen 1958, Fig. 89)
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