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Almogaren XXX / 1999 Vöcklabruck 1999 35 - 64 Werner Pichler Die Raute - ein Beitrag zur Problematik der Interpretation von Felsbildern Zur Methodik der Interpretation Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Phänomen "Felsbilder" ist als junge Forschungsdisziplin bis heute noch sehr wenig institutionalisiert. Sie ist grenzüberschreitend in den F achgebieten Vorgeschichte, Archäologie, Ethnologie, Semiotik u.a. angesiedelt und so letztlich nirgends heimisch geworden. Es gibt meines Wissens weltweit bis heute noch keinen einzigen Lehrstuhl für Felsbildforschung an einer Universität, ja es ist sogar umstritten, ob es sich bei der Felsbildforschung überhaupt um eine eigene Disziplin handle oder nur um eine Sub-Disziplin der Archäologie oder der Anthropologie. Umso eifriger ist das Bemühen der führenden Felsbildforscher, den Wissenschaftlichkeitsanspruch durch spezielle Standards und Methoden sowie eine eigene Terminologie abzusichern. Seit Jahren wird heftig über einen neuen Namen der Disziplin diskutiert, um ihr eine eigenständige Identität zu verleihen. Die Kritk am Bisherigen entzündete sich vor allem am englischen Begrif "rock art", da der Gegenstand der Forschungsdisziplin weder in allen Fällen auf Felsen zu finden sei noch es sich in allen Fällen um Kunst handle. Osaga Odak/Kenya startete im Jahre 1991 die Diskussion mit dem Vorschlag "Pictopetroglyphologie", Giriraj Kumar/Indien schlug "Purakala" (indischer Begrif für frühe Kunst) und Pefologie (PEF = Pictographs, Engravings, Figures), Robert Bednarik/ Australien "Kognitive Epistemologie" oder "Kognitologie" vor. Bei den folgenden internationalen Kongressen fand sich jedoch für keinen dieser Begrife eine Mehrheit. Ebensowenig entschieden ist bis heute die z. T. heftige Diskussion über die Methodik der Felsbildforschung. In dieser Diskussion spiegelt sich die alte Auseinandersetzung über die Abgrenzung von Natur- und Geisteswissenschaften. Obwohl die heute vorherrschende Ansicht über die Unterteilung der Wissenschaft nach dem Gegenstandsbereich ein wesentlich komplexeres Bild 35 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017 zeigt, überwiegt in der Methodendiskussion bis heute der Dualismus Naturund Geisteswissenschaften. Den Gegensatz hat W. Dilthey 1900 in extremer Kürze so formuliert: "Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir". Die grundsätzliche Methode der Naturwissenschaften kann demnach als nomothetisch, generalisierend oder empirisch-analytisch bezeichnet werden: Es wird versucht, einzelne Ereignisse in allgemeine Gesetzmäßigkeiten einzuordnen und kausal zu erklären. Dem steht die idiographische, individualisierende oder hermeneutische Methode der Geisteswissenschaften gegenüber: Man versucht, einzelne Ereignisse zunächst zu beschreiben und dann ihren Sinn zu verstehen. Das Forschungsideal der Geisteswissenschaften ist also die verstehende Erkenntnis aufgrund von Interpretation. Genau dies ist der Stein des Anstoßes für die Vertreter eines einheitlichen Wissenschaftsideals: Ausgehend vom Neopositivismus des Wiener Kreises fordern sie für alle Wissenschaften die Grundlegung einer analytischen Theorie. Die Hermeneutik wird von ihnen als Pseudo-Methodologie, als unexakt, willkürlich und spekulativ abgelehnt und somit nicht als ernsthafte Wissenschaft anerkannt. Um die enormen Gegensätze in der Aufassung von Möglichkeiten und Grenzen der Interpretation zu illustrieren, seien hier zwei diametral gegensätzliche Positionen zitiert: Ulbrich hat in Almogaren XVIII/1997 in seinem Artikel über "Sexualität und Scham bei denAltkanariern" einen fast grenzenlosen Optimismus in Hinsicht auf die Deutbarkeit altkanarischer Felsbilder demonstriert. Anstatt sie als Thesen oder Möglichkeiten zu formulieren, versieht Ulbrich seine extrem subjektiven Interpretationen mit den Attributen "klar", "eindeutig", "zweifellos" und "sicher". Er verleiht ihnen so den Status objektiver Wahrheiten und immunisiert sie gegen mögliche Einwände und alternative Betrachtungsweisen. Als Gegenbeispiel für die Möglichkeiten der Felsbildinterpretation seien hier einige Äußerungen Bednariks (1996/1 :260) zitiert: "Die Deutung von Felsbildern als Materialgegenstände ist rein subjektiv. Der Deutende hat keinen Zutritt ... zur Welt des Herstellers der Felskunst, sondern kann diese Motive nur im Rahmen seiner eigenen, sehr begrenzten Weltanschauung wahrnehmen". "Die Deutungen ... gehören in das Studium des Verstandes der Archäologen". "In der Felskunstwissenschaft ist kein Raum dafür, denn hier darf Felskunst nur außerhalb unserer kognitiven Reaktionen zu ihr studiert werden". Oder über die Archäologie: "archaeological interpretations are not themselves testable", "archaeology is no science". (Bednarik 1996/2:127). 36 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017 Bei dieser strengen Abgrenzung wird allerdings außer acht gelassen, daß es die strikte Trennung der Methoden in der Wissenschaftspraxis längst nicht mehr gibt (falls es sie jemals gegeben haben sollte). Die Interpretation experimenteller Daten, naturwissenschaftlicher Phänomene oder logischer Systeme ist weit verbreitet, ebenso wie die Anwendung analytischer Methoden in den Geisteswissenschaften wie Induktion oder Statistik. So vertritt auch Karl Popper die Ansicht, daß die Idee der Einheitswissenschaft mit rein analytischer Methodik längst nicht mehr aufrecht erhalten werden kann .. Das einigende Band aller Wissenschaften besteht seiner Ansicht nach darin, daß die Suche nach der Wahrheit in einem Wechselspiel von Hypothesenkonstruktion und kritischer Überprüfung besteht: Problem 1 vorläufige Theorie Fehlerbeseitigung Problem 2 Ausgangspunkt jedes wissenschaftlichen Prozesses ist - sowohl in den Natur als auch in den Geisteswissenschaften - eine Problemstellung. Etwas hat unsere "Verwunderung" erregt, wie die griechischen Philosophen sagten. Der nächste Schritt nach der Formulierung des anfänglichen Problems ist die versuchsweise Entwicklung von Theorien. Ihre öfentliche sprachliche Formulierung ermöglicht eine rationale kritische Diskussion, deren Ziel es ist, ihre Schwächen aufzudecken, sie zu widerlegen. Die wissenschaftliche Methodik funktioniert nicht kumulativ, sondern revolutionär: Wissenschaftlicher Fortschritt passiert nicht dadurch, daß Theorien durch das Sammeln experimenteller Daten abgesichert werden, sondern dadurch, daß alte Theorien durch neue ersetzt werden. Poppers berühmt gewordenes "Falsifizierbarkeitskriterium" lautet: Eine Theorie ist dann wissenschaftlich, wenn sie überprüfbar, d.h. falsifizierbar ist. Die Aussage eines Archäologen, ein bestimmter Siedlungsplatz stamme aufgrund der gefundenen Steinwerkzeuge aus dem Mesolithikum, ist in diesem Sinne durchaus wissenschaftlich, da er durch moderne physikalisch-chemische Meßverfahren überprüfbar und daher auch widerlegbar ist. Man ist daher nicht berechtigt zu sagen "Archäologie ist keine Wissenschaft", sondern höchstens das Forschungsdesign eines konkreten Archäologen odereinzelne Aussagen einzelner Archäologen sind nicht wissenschaftlich, wenn sie sich nicht dem Überprüfungskriterium unterwerfen lassen. Gerade in der Falsifikation alter Theorien besteht der wesentliche Lernprozeß. Wir lernen nicht nur, daß die alte Theorie falsch war, sondern vor allem, warum sie falsch war. Viele Wissenschaftler haben sich auch heute noch nicht daran gewöhnt, die Falsifikation einer eigenen, liebevoll gehätschelten Theorie als das zu werten, was sie in Wirklichkeit ist: ein wissenschaftlicher Erfolg. Es bedarf wohl der Größe eines wissenschaftlichen Genies wie des 37 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017 Nobelpreisträgers Sir John Eccles, den "Mißerfolg" seiner Theorie über die synaptische Übertragung zwischen Nervenzellen als Fortschritt zu feiern: "Zu diesem Zeitpunkt lernte ich von Popper, daß es wissenschaftlich nichts Ehrenrühriges sei, wenn die eigenen Hypothesen als falsch erkannt werden. Das war die schönste Neuigkeit, die ich seit langem erfahren hatte"(zitiert bei Popper 1996:30). Gerade den historischen Wissenschaften wird oftmals angelastet, daß sie in dem Dilemma stecken, Fakten und Vorgänge vergangener Zeiten rekonstruieren zu müssen, ohne bei diesen Ereignissen dabeigewesen zu sein oder Zeugen befragen zu können. Dieses Argument hat aber genauso gut für naturwissenschaftliche Erkenntnisfragen Gültigkeit: Auch bei der Entstehung des Universums war niemand Zeuge und dennoch gibt es ernstzunehmende dicke Bücher über die ersten Sekunden bzw. Minuten dieses Prozesses und mir ist niemand bekannt, der diese Theorien als unwissenschaftlich bezeichnen würde. Auch die Behauptung, daß es sich bei der Untermauerung dieser Thesen doch um mathematische Berechnungen, chemische oder physikalische Abläufe handle, ist leicht zu entkräften. Alle diese naturwissenschaftlichen Modelle basieren ebenso wie geisteswissenschaftliche Thesen nur auf dem jeweiligen Stand des verfügbaren Wissens, d.h. sie sind genauso schnell ungültig, wenn sich der Erkenntnisstand ändert. Insofern halte ich es für legitim und notwendig, F. Schrenks Aussage: "In den historischen Wissenschaften gibt es kein Wahr oder Falsch, sondern immer nur eine Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit" (zitiert bei Schnabel 1997:6 3) auf alle Wissenschaften auszuweiten. Wenn man die Welt aus relativistischem Blickwinkel betrachtet, so geht man doch von der generellen Annahme aus, daß der Mensch nur sehr begrenzt fähig ist, Wirklichkeit wahrzunehmen. Dies muß dann allerdings genauso für empirische Methoden gelten wie für geisteswissenschaftliche Betrachtungsweisen. Woher nimmt man Kriterien für die Unterscheidung zwischen unwissenschaftlich (z.B. Archäologie) und wissenschaftlich (z.B. Physik), wenn es sich doch in allen Fällen nur um Annäherungsversuche an die Wirklichkeit handelt, die mehr oder minder große Wahrscheinlichkeit haben? Akzeptiert man die relativistische Weltsicht - und ich sehe nach dem derzeitigen Stand der wissenschaftlichen Diskussion keinen Anlaß, dies nicht zu tun - so gibt es meines Erachtens nur zwei mögliche Positionen: Eine mögliche Reaktion wäre, jedes wissenschaftliche Bemühen für sinnlos zu erachten und mit den Worten Wittgensteins zu formulieren: "Worüber man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen". Oder man akzeptiert Wissenschaft wie alle anderen menschlichen Aktivitäten als sinnvoll innerhalb des durch 38 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017 die menschlichen Sinne und Erkenntnisfähigkeiten begrenzten Rahmens. Eine wesentliche Frage ist allerdings, ob diese Grenzen allein schon durch unseren eigenen kulturellen Kontext definiert sind. Die Relativisten behaupten, daß die Erkenntnis standort- (=kontext-) abhängig sei - gebunden an die jeweilige Gesellschaft, Kultur, Religion, Sprache etc. Natürlich ist jedes Weltbild und damit auch jede kulturelle Äußerung des Menschen innerhalb eines bestimmten Rahmens ("framework") entstanden. Insofern ist unbestritten, daß wir uns in "kognitiven Käfigen" aufhalten. Die Frage ist nur, ob diese Käfige Gefängnisse darstellen, aus denen wir nicht auszubrechen vermögen oder ob wir nicht gerade durch die Konfrontation mit anderen "frameworks" imstande sind, die Begrenzungen des eigenen Käfigs auszuweiten. Die heftige Diskussion zwischen kritischen Realisten und Relativisten kreist also um die Frage, ob es uns grundsätzlich möglich ist, zeitlich und/oder räumlich Entferntes (das Andere, das Fremde) zu verstehen, zu interpretieren. Die extreme relativistische Position besagt, daß es dem Menschen generell versagt ist, erfolgreich fremde Kulturen zu erforschen. Ohne der fremden Welt anzugehören, ohne an ihrer Sprache und ihren kulturellen Bräuchen teilzuhaben, sei eine Auslegung von Ausdrucksaktivitäten völlig unmöglich. Dagegen argumentiert Popper mit Recht, daß uns doch nichts daran hindere, über fremde Kulturleistungen Theorien aufzustellen. So ist es dem Menschen doch nachweislich gelungen, Kommunikationssysteme staatenbildender Insekten (z.B. den "Tanz" der Bienen) mittels bestimmter Theorien zumindest z. T. verständlich zu machen. Daß eine Innenperspektive in manchen Fällen für das bessere Verständnis nützlich wäre, ist unbestritten. Aber eine größere Nähe zum Untersuchungsobjekt kann auch der Suche nach Deutungen hinderlich sein. Einzelne Bestandteile oder Konsequenzen kultureller Aktivitäten können durchaus über ihren Rahmen hinaus verweisen und für einen Außenstehenden besser deutbar sein als für den Anwender selbst. Wir müssen nicht eine Biene sein, um wesentliche Aspekte der Interaktionen zwischen Bienen verstehen zu können. Es ist also durchaus legitim und wissenschaftlich, Theorien über Fetische, Tänze oder Felsbilder anderer Kulturen und/oder Zeiten aufzustellen. Naturwissenschaftliche Theorien sind nicht von vorneherein exakter als Theorien über kulturelle Aktivitäten: Sie sind allesamt nur vorläufige, versuchsweise Annäherungen und gelten nur so lange, bis sie durch eine bessere, umfassendere Theorie abgelöst werden. Die relativistische Grundthese enthält auch den Aspekt einer "self fulfilling prophecy": Wenn man unüberwindliche Barrieren annimmt, so stabilisiert man sie damit zugleich. 39 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017 Darüber hinaus aber erforschen verschiedene Wissenschaften unterschiedliche Wirklichkeitsbereiche und die speziellen Lösungsversuche müssen demnach an den Problemen orientiert sein. Der Vorwurf, daß die Geisteswissenschaften im Unterschied zu den Naturwissenschaften über keine Objektivitätskriterien verfügen, ist nicht gerechtfertigt. Allerdings wird in den modernen Geisteswissenschaften (vielleicht auch in den zukünftigen Naturwissenschaften?) die Koexistenz unterschiedlicher methodologischer Konzeptionen (ein Paradigmen-Pluralismus) akzeptiert. Die totale Ablehnung der Hermeneutik (im konkreten der Interpretation von Felsbildern) als unwissenschaftlich ist nach Ansicht vieler Wissenschaftstheoretiker also nicht als progressiver Ansatz zu werten, sondern als Rückschritt auf positivistische Grundpositionen des vorigen Jahrhunderts. Lutz Geldsetzer (Prof. für Philosophie an der Universität Düsseldorf) definiert Hermeneutik als "die methodologisch orientierte Disziplin des Umgangs mit sinnhaften Dokumenten" und Interpretation (Auslegung) als "die nach kanonischen Regeln ausgeführte Sinndeutung einzelner Dokumente" (Geldsetzer 1992:134). Aufgabe der Hermeneutik ist es, Regeln aufzustellen, deren Quellen zu reflektieren, ihre Anwendbarkeit und Efizienz zu überprüfen sowie die Grenzen ihrer Gültigkeit festzulegen. Während sich die dogmatische Hermeneutik mit der Anwendung eines bekannten Sinnes von Dokumenten auf bestimmte Problemlagen (z.B. in der Theologie) beschäftigt, besteht die zetetische Hermeneutik in der Erforschung eines präsumptiven, unbekannten Sinnes von Dokumenten (z.B. in der Felsbildforschung). Die zetetische Hermeneutik bedient sich des Fachwissens als hypothetischer Vorgabe und zwar tendenziell interdisziplinär und universell. Sie versucht, alternative Deutungsmöglichkeiten zugunsten des "wahren" Sinnes auszuschalten. Die Suche nach dem wahren Sinn kann aus drei Gründen zum Scheitern verurteilt sein: 1) Wenn kein einschlägiges Fachwissen vorhanden ist, 2) wenn die Wissensvorgaben des Interpreten ungenügend sind, 3) wenn mehrere Interpretationsmöglichkeiten gleich wahrscheinlich sind. Das Wahrheitskriterium kann daher folgendermaßen definiert werden: "Diejenige Interpretation ist die wahre, die alles vorhandene einschlägige Wissen über das zu interpretierende Dokument in einen logisch und inhaltlich stimmigen Zusammenhang bringt und so einen Sinn konstruiert" (Geldsetzer 1992: 136). Im Sinne relativistischer Erkenntnisse müßte man "wahr" durch "wahrscheinlich" ersetzen, aber im übrigen ist die Zielsetzung des Interpretierens optimal definiert. 40 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017 Bei all diesen Betrachtungen sollte man sich ständig der Grenzen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit bewußt sein. Die Mehrzahl der Philosophen und Wissenschaftstheoretiker geht heute davon aus, daß der wissenschaftlichen Erkenntnis Grenzen gesetzt sind, daß es in der Wirklichkeit zusammenhänge gibt, die wir mit unseren theoretischen Konstruktionen nicht zu erfassen vermögen. Ein nicht unwesentliches Kriterium des Interpretierens soll abschließend noch betont werden: Je größer die zeitliche (und räumliche) Distanz des Interpretierenden zum Objekt der Interpretation ist, umso schwieriger ist naturgemäß der Zugang zu den möglichen Bedeutungen. Bednarik hat also sicher recht mit seinen großen Vorbehalten gegenüber Interpretationen paläolithischer Kunst. Völlig andere Voraussetzungen herrschen aber, wenn die Überlieferungskette von Symbolkomplexen bis weit in historische Zeiträume oder gar bis in die unmittelbare Vergangenheit reicht. In solchen Fällen bieten sich oftmals ausreichend viele Indizien zur Absicherung von Thesen an, sodaß die Interpretation einen sehr hohen Grad an Wahrscheinlichkeit gewinnt. Diese Möglichkeiten sollen im folgenden an einem konkreten Beispiel demonstriert werden. Die Raute als Zeichen und Symbol Jede Kultur kann als ein Ensemble symbolischer Systeme betrachtet werden (C. Levi-Strauss) Ausgangspunkt dieser Betrachtungen ist ein Ritzzeichen, das der Autor im Jahre 1980 in einem Felssturzgebiet nahe der Rossmoosalm in etwa 1100 Meter Seehöhe nahe dem Ort Bad Goisern/0.Ö. gefunden hat (Abb. 1). Etwa 10 Zentimeter groß, bis zu 7 Millimeter tief eingeritzt und ziemlich stark verwittert schmückt es als einzige Ritzung eine große dunkle Felswand. Daß gerade dieses Zeichen als Ausgangspunkt gewählt wird, ist kein Zufall. Eine quantitative Analyse hat gezeigt, daß die Raute in all ihren Variationen zu den häufigsten Zeichen unter den Felsritzungen des Salzkammergutes zählt. Es ist auch keine zufällige Ritzung unter vielen ande- 41 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017 ren, quasi nebenbei aus Langeweile hinterlassen, sondern eine sorgfältige, bewußte Zeichensetzung, die den gesamten Felssturzblock beherrscht. Die Fragen, die im Zusammenhang mit solchen Ritzungen auftauchen und jeden Felsbildforscher aber auch jeden Laien interessieren, sind natürlich solche, die weit über das rein positivistische Sammeln und Dokumentieren hinausgehen: Was bedeuten diese Zeichen? Und: Wie alt sind sie? Die folgenden Überlegungen sollen sich ausschließlich auf die Problematik der Interpretation beschränken. In den vorhandenen Publikationen über dieses Thema herrscht - abgesehen von den im einzelnen stark divergierenden Auslegungen der Bedeutung - im Grundsätzlichen doch darüber Einigkeit, daß die Raute (wie auch das Dreieck) sehr direkt mit dem Prinzip des Weiblichen (der Sexualität) in Zusammenhang gebracht werden kann. Interessant ist in diesem Zusammenhang aber, daß seit den Anfängen der Felsbildforschung bei der Besprechung von geschlechtsbezogenen Zeichen dieser Art immer wieder Wertungen wie "obszön", "anstößig" und "pornographisch" auftauchen. So schrieb Francois de Belle Foret schon 1575 über die Höhle Roufignac: " ... dort gibt es Venusidole ... und andere anstößige Dinge" (zitiert bei Duerr 1984:309). K. Absolon bezeichnete 1949 dilluviale Felsbilder als "steinzeitliche Pornographie" (Duerr 1984:309). Folgerichtig kam es auch immer wieder zu Trugschlüssen in der falschen Richtung. Prof. Humbach schloß aus der Häufigkeit sexueller Symbole bei nordpakistanischen Felsbildern darauf, daß die benachbarten (nicht lesbaren) Inschriften obszöne Wendungen enthalten (IC-Nachrichten Nr. 48/1984:12). Man sollte eigentlich glauben, daß solche Wertungen heute längst überwunden sind. Man kann sich in dieser Frage wirklich nur der Meinung Hans Peter Duerrs anschließen, der schreibt: "Solche Deutungen werfen vermutlich mehr Licht auf den Autor als auf die Felsbilder" (Duerr 1984:309). Ein interessantes Detail an diesem Phänomen ist ja, daß die gleichen Rautendarstellungen in anderen Regionen der Welt kaum "Anstoß erregen", nicht als "schmutzig und ekelhaft" gesehen werden und ihnen auch nicht unterstellt wird, sie seien absichtliche Verletzungen der Scham. Als Beispiel für viele sei Henri Hugot zitiert, der in seinem Buch "Zehntausend Jahre Sahara" schreibt: "Die Verwendung geschlechtlicher Symbole im Bereich der Felsbildkunst hat mit augenscheinlich ähnlichen Erscheinungsformen der Pornographie nichts zu tun" (Hugot 1984:64). Ähnliches gilt für Vulvendarstellungen in Indien, den Anden oder auf den Osterinseln, um nur ein paar Regionen in beliebiger Auswahl zu nennen. Sehr deutlich drückt sich auch der angesehene Religionsphilosoph und Ethnograph Mircea Eliade aus: "Immer und überall - außer in der modernen Welt - war die Sexualität eine Erscheinung des Heiligen" (Eliade 1986:15). 42 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017 Tauchen solche Zeichen aber unter den alpinen Felsbildern auf, so heißt es in den Kommentaren: "kindliches Gekratze!", "Kritzeleien gelangweilter Jäger", "Zeitvertreib unbefriedigter Almhirten" etc. Demgegenüber verweist schon Burgstaller (im speziellen für die konzentrisch angeordneten Rhomben) aufzahlreiche Parallelen im außereuropäischen Raum, wobei er ihre Bedeutung "im Ritual der Initiationen und insbesondere im Totenbrauch" betont (Burgstaller 1981 :70). Biedermann schließt in der Einleitung zu Band I der "Salzburger Felsbilder" aus der Vergesellschaftung von Sexualsymbolen mit Pentagrammen und christlichen Symbolen auf ihren Amulett- und Abwehrcharakter und bezeichnet sie als Zeugnisse "ländlichen Aberglaubens" (Biedermann 1986:17). Dieser Kontext ist allerdings, zumindest im Salzkammergut, keineswegs verifizierbar: Pentagramme finden sich in keinem einzigen Fall benachbart, christliche Symbole auch nicht signifikant häufig. Biedermann bringt aber im selben Zusammenhang einen wichtigen Hinweis: Er betont nämlich die Tatsache, daß besagte Sexualsymbole meist hoch stilisiert wirken und keineswegs einen pornographischen Eindruck vermitteln. In ihren stark abstrahierten, geometrischen Formen kommen sie tatsächlich weder unter den städtischen Grafiti-Malereien, noch auf Schulbänken, Toilettenanlagen oder Parkbänken vor. So viel zu existierenden Interpretationsansätzen. Dieser Vielfalt an Meinungen sollen nun die Vorstellungen des Autors zur Systematisierung des Interpretationsvorganges gegenübergestellt werden. Vorausgeschickt sei die Behauptung, daß sämtliche nonverbalen Dimensionen unserer Kultur Träger kodierter Informationen sind und nur dann nicht verstanden werden können, wenn es sich um spontan entwickelte, isoliert dastehende Symbole, sozusagen um Privatsymbole handelt. Alle anderen, nach Mustern organisierten und durch Konvention festgelegten und überlieferten Symbole sind grundsätzlich interpretierbar. Für die menschlichen Ausdrucksaktivitäten soll in der Folge die Klassifikation des englischen Sozialanthropologen Edmund Leach (1978) verwendet werden. Er unterscheidet zwischen • ZEICHEN: A steht für B als Teil fürs Ganze, wobei A und B dem gleichen kulturellen Kontext angehören • SYMBOL: A steht für B, wobei A und B verschiedenen kulturellen Kontexten angehören und die Verknüpfung weitgehend willkürlich ist. Für beide Ausdrucksaktivitäten, die unter dem Begrif "SIGNA" zusammengefaßt werden können, empfiehlt sich eine zweidimensionale Betrachtungsweise. Genauso wie eine sprachliche Äußerung des Menschen einerseits als punktuelles Phänomen auf der Linie der Sprachentwicklung (z.B. althoch- 43 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017 deutsch - mittelhochdeutsch - neuhochdeutsch) und andererseits im Zusammenhang aller Medien ihrer Zeit zu sehen ist, so steht auch jede bildnerische Schöpfung am Schnittpunkt zweier Linien: einer historischen Entwicklung und eines kulturellen Kontextes (Abb. 2). Fragt man nach der möglichen Bedeutung eines Zeichens, so gilt es auf der einen Seite den Gang der kulturellen Tradition zu verfolgen, wobei sich das Zeichen an verschiedensten Objekten manifestieren kann (z.B. Keramik, Idolfiguren, Steinbauten etc.). Abb. 2 ARCHETYPEN TRADITION 1 Prähistorische Funde Idole Keramik Felsbilder etc. QUER- Zeitgenöss. " volkskundliche Objekte i-------------.,1---------"-----I SCHNITT Kontext Almhütten Kirchentüren Hausmarken Historische Entwicklung .. 1 LANGS-SCHNITT 1 Auf der anderen Seite gilt es zu untersuchen, in welchen Zusammenhängen das Zeichen auf zeitgenössischen Objekten (z.B. Bauernhäusern, Kirchen, Almhütten etc.) auftaucht. Diese Vorgangsweise soll in der Folge am Beispiel der Raute verdeutlicht werden (Abb. 3). Die Tradition der Rautendarstellung läßt sich über Idolfiguren aus dem 1. vorchristlichen Jahrhundert und megalithische Ganggräber bis zu paläolithi- 44 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017 Abb. 3 PALÄOLITHIKUM 0 Lorthet: Lochstab NEOLITHIKUM Griechenland: Höhlenritzung 3000 v. Chr. 0 Newgrange: Ganggrab 2000 v. Chr. Sumerisches . Schriftzeichen 1000 v. Chr. Malta: Weibliches Idol NEU-ZEIT o1 Ofenauer Nieder Eckau Rossmoos Kirchen- Alm- Bauern- Berg Dürren Alm Alm türen hütten häuser 45 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017 sehen Höhlenzeichnungen zurückverfolgen. Es mag vielleicht manchem problematisch erscheinen, Dokumente verschiedenster Kulturen und Zeitalter zu vergleichen, diese Vorgangsweise erscheint aber als durchaus legitim für jeden, der sich einmal mit vergleichender Märchenforschung oder vergleichender Ethnologie beschäftigt hat. Genausowenig, wie es Zufall ist, daß man in indischen Märchen ganz ähnliche Motive findet wie in Eskimo-Märchen, genausowenig, wie es Zufall ist, daß Bantuvölker ganz ähnliche Initiationsriten kennen wie Jakuten oder Samojeden, genausowenig darf es verwundern, daß auch bei den bildhaften Ausdrucksaktivitäten des Menschen viele Grundmuster (häufig "Uraltzeichen" oder "Ursymbole" genannt) weltweit vertreten sind, ohne daß man als Erklärung dafür einen direkten Kulturkontakt oder -austausch annehmen müßte. In Abbildung 3 sind nur wenige Beispiele exemplarisch herausgegriffen, auf sie näher einzugehen, würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Daher nur zwei kurze Anmerkungen: Interessant ist natürlich, daß die Doppelraute als sumerisches Schriftzeichen für das weibliche Geschlecht nachgewiesen werden konnte. Besonders deutlich wird der Zusammenhang der Raute mit dem Bereich des Weiblichen bei einer Idolfigur aus Malta (Abb. 4): Der hohe Grad der Abstraktion der äußeren Form korreliert hier sehr schön mit dem Grad der Abstraktion des zentralen Gegenstandes der Darstellung in Form der Doppelraute mit Näpfchen (Reden 1979: 119). Auch unter den neolithischen Idolfiguren Osteuropas (Müller-Karpe 1968: Tl 76/294) gibt es zahlreiche Belege dafür (Abb. 5). So viel in Kürze zur historischen Dimension. Betrachtet man den zeitgenössischen Querschnitt (wobei hier angenommen wird, daß die Doppelraute auf der Rossmoosalm erst aus der Neuzeit stammt), so findet man die Raute nicht nur auf unzähligen Felsen von Bayern über den Salzburger Tennengau bis ins Salzkammergut, sondern auch auf Kirchentüren, Almhütten, Bauernhäusern usw. Erstaunlich ist die dabei zu beobachtende Vielfalt an Rautenformen. Die 46 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017 Abb. 5 häufig vorgebrachte Meinung, daß es sich um zufällige, völlig unreflektierte Kritzeleien handle, ist dadurch leicht zu entkräften, daß man versucht, die Zeichen in ein System einzuordnen (Abb. 6). Daraus wird klar ersichtlich, daß es sich um Mutationen eines Grundmusters handelt, die sich voneinander jeweils nur durch einen Änderungsschritt unterscheiden und daß diese Grundform die einfache Raute mit zentralem Näpfchen ist. Diese Erkenntnisse stimmen sehr schön mit den Befunden der Feldforschung überein. Im Bereich des oberösterreichischen Salzkammergutes entspricht ein Viertel aller Rautendarstellungen der Grundform, alle wesentlich häufiger als einmal vorkommenden Rauten sind der Grundform sehr nahe verwandt (höchstens ein bis zwei Änderungsschritte). Zugegebenermaßen ist die Grenze nach außen hin verschwimmend. Je marginaler, umso eher ist der Übergang zu anderen Formen denkbar, die nichts mehr mit der Idee des Weiblichen zu tun haben. 47 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017 Abb. 6 Mit den bisherigen Überlegungen sollte klargestellt sein, daß die Raute in all ihren Variationen • nicht vergleichbar ist mit den wesentlich realistischeren Sexualdarstellungen im Bereich der Graffiti, 48 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017 • frei bleiben sollte von moralischen Wertungen wie "obszön" oder "porno-graphisch" • und auch nicht in die Kategorie zufälliger Kritzeleien fällt, sondern daß es eben eine jahrtausendealte Tradition gibt, die Raute als Zeichen für das Weibliche schlechthin zu setzen. Dieser Grundgedanke läßt sich weltweit nachweisen, sehr schöne Beispiele gibt es etwa unter den Felsbildern des Kaukasus (Abb. 7 - Ksika 1972:233). Verwandte Formen, wenn auch nicht so deutliche, tauchen auch unter den Felsbildern Hawaiis auf (McBridge 1969). So viel zur Raute als Zeichen. Nun zur Frage, ob der Raute nicht in vielen Fällen eine darüber hinausreichende symbolische Bedeutung zukommt. Es gibt sehr viele Hinweise darauf, daß schon sehr früh in der Menschheitsgeschichte die Raute mit der Idee der Fruchtbarkeit, der lebensspendenden Kraft verknüpft wurde, und zwar sowohl auf die Menschen als auch auf die Tiere bezogen, von denen das Überleben der frühen Jägervölker abhängig war. "Nordamerikanische Indianer ritzten einerseits Vulven ... auf Felsgravierungen von Tieren, höchstwahrscheinlich in der Absicht, die betrefende Tierspezies zur Fruchtbarkeit zu bewegen, andererseits setzten sich etwa die Frauen der Porno auf derartige Empfängnisfelsen, die mit Gravierungen von Vulven ... bedeckt waren, um schwanger zu werden"(Duerr 1984:54). Den innerhalb der Rauten an zentraler Stelle plazierten Näpfchen bzw. Strichen kommt nach H.P. Duerr die Bedeutung einer magischen Befruchtung zu: "Auf anderen Felsdarstellungen hatte man in den Genitalbereich der eingravierten Frauen gebohrt, ofensichtlich eine symbolische Kopulation" (Duerr 1984: 290). Für die Verbindung von Tier und Raute gibt es nicht allzu viele bildliche Belege. Auf dem vieldiskutierten Lochstab von Lorthet (Raphael 1978:43), der dem Magdalenien zugeordnet wird, finden wir über dem Haupt eines Hirschen zwei Rauten mit Längsstrich (Abb. 8). Auch der im Kleinen Schulerloch bei Altessing (Adam/Kunz 1980: Abb. 91) über einer Vulva abgebildete kleine Hisch (?) war von Herbert Kühn ursprünglich ins Magdalenien eingeordnet worden, bis es Hanns Hundt in den fünfziger Jahren überzeugend gelang, die Darstellung aufgrund der benachbarten Runeninschrift ins 6./7. Jahrhundert n. Chr. zu datieren (Abb 9). Das einzige Beispiel unter den ostalpinen Felsritzungen scheint mir die von Erika Kittel unter der Fundortbezeichnung "Hirschenhöhle" (Kittel 1989) publizierte Ritzung eines in Strichzeichnung ausgeführten Hirschen zu sein, der die Raute zwischen seinem Geweih trägt (Abb. 10). Die Verknüpfung der Raute mit dem Gedankenkomplex der Fruchtbarkeit hat ofensichtlich sogar Eingang in europäische Schriftsysteme gefunden. So kann es kein Zufall sein, daß das rautenförmige germanische Runenzeichen 49 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017 Abb. 7 für den ng-Laut dem Fruchtbarkeitsgott (germanisch "ingwaz") zugeordnet wurde (Krause 1970). Der nächste gedankliche Schritt bestand wohl darin, die Erde in ihrer Gesamtheit als weiblich zu empfinden: "Geht es den Jägervölkern um eine posi- 50 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017 Abb. 9 / Abb. 10 Abb. 11 Abb. 12 tive Beeinflussung der Vermehrung des Wildes, so wird bei den nacheiszeitlichen Bauernvölkern der Vorstellungskomplex Geschlechtlichkeit - Fruchtbarkeit - Wiedergeburt abstrakter gefaßt, auf die Fruchtbarkeit des Feldes ausgedehnt" (Biedermann 1976:41 ). "Die frühen Agrarkulturen müssen intuitiv erfaßt haben, daß die Fruchtbarkeit der Pflanzen und die menschliche Se- 51 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017 xualität im Wesen verwandt sind" (Biedermann 1974:6 4). Hans Haid (1990) berichtet über einen fruchtbarkeitsfördernden Brauch, der im Vintschgau heute noch ausgeübt wird: Dabei wird ein mit Stroh umwickeltes Holzgerüst in Form einer Doppelraute mit aufgesetztem Kreuz abgebrannt (Abb. 11 ). Spätestens für die Zeit der Ackerbauvölker kann angenommen werden, daß mit der Raute auch die Vorstellung der Wiedergeburt verbunden wurde. Max Raphael setzt diese Verknüpfung schon viel früher an. Er glaubt, schon in der bereits erwähnten Rautendarstellung auf dem Lochstab von Lorthet die Idee der Regeneration des Lebens erkennen zu können. Der weibliche Körper der Erde ist also der Ort, an dem sich die Regeneration des Lebens abspielt, aus dem das Leben wiederkehrt. Vielleicht ist auch die Darstellung in der "Höll" am Warscheneck, die Burgstall er erwähnt, in diesem Sinne zu sehen: Die Austrittsstelle einer intermittierenden Quelle ist von einer Raute umgeben (Burgstaller 1981 :23). Möglicherweise beruht auch die Tatsache, daß die Raute ein häufiges Motiv auf Urnen der Hallstattzeit ist (Reitinger 1969:178 ), auf dem Gedankenkomplex Tod - Wiedergeburt (Abb. 12 ). Als Zugang zum Körper der Erde galt naturgemäß von jeher die Höhle, sie wurde mit der Vagina der Frau verglichen. Hans Peter Duerr hat diese Thematik in seinem Buch "Sedna" ausführlich dokumentiert, auch Erich Neumann in seinem Buch "Die große Mutter" (1987 ). Als Belege können unzählige Vulvendarstellungen in Höhlen (Le Ferrassie, La Pileta, Bedeilhac etc. ) zitiert werden, auch wenn sie nur selten in Form der Raute ausgeführt sind. Auch Marie E. P. König ordnet die zahlreichen Vulvendarstellungen, die sie in den Kulthöhlen des Waldes von Fontainebleau (Ile de France) fand, dem Gedankenkomplex "Wiedergeburt in der Höhle" zu. "Es ist eine Stätte voller Tod-Leben- Symbolik. Erst die Christen haben den Teufel daraus gemacht, um den alten Kult zu überwinden" (König 1980:230). Abbildung 13 zeigt zwei typische Beispiele aus der Höhle "Roche au Diable" bei Larchant. Auch im Bereich der ostalpinen Felsbilder ist festzustellen, daß sich die Raute nirgends an Felsen mit hohem Aufforderungscharakter findet (z.B. an glatten, ritzfähigen Felsen neben häufig begangenen Wegen), sondern in abgelegenen Felssturzgebieten, in Klammen und Schluchten und - auffällig oft - an Höhlenportalen: am Mausböndlloch, an der Zsammtreibbodenhöhle und der Brandalmhöhle im steirischen Salzkammergut, an der Felszeichennische, der Jochwand-Halbhöhle, am Gartenloch (Abb. 14), an der Kalmooskirche, der Kienkirche und der Seekarkirche im oberösterreichischen Salzkammergut. Das mehrfache Vorkommen der Bezeichnung "Kirche" hängt mit der Zeit des Geheimprotestantismus zusammen, in der diese Höhlen für geheime Zusammenkünfte und Meßfeiern benutzt wurden. 52 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017 (J Abb. 13 Abb. 14 Schon sehr früh hat sich der Mensch auch künstliche Höhlen geschafen: die Tempel. In manchen Sprachen hat sich dieser Zusammenhang bis heute bewahrt. So bedeutet im Burmesischen das Wort "ku" sowohl Höhle als auch Tempel. "Die bergende Höhle als Teil des Berges stellt entwicklungsgeschichtlich die Naturform der Kultursymbole dar, die als Tempel, als Hütte und Haus Schützendes und Abschließendes bedeuten, wobei immer das Tor und die Türe den Schoß des mütterlichen Gefäßes bedeuten" (Neumann 1987:57). Archäologie und vergleichende Ethnographie zeigen deutlich, daß bei den unterschiedlichsten Gesellschaften und in den verschiedensten Regionen der 53 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017 Welt den Schwellen und Pforten eine enorme rituelle Bedeutung beigemessen wurde. Edmund Leach stellte bei der Untersuchung symbolischer Vorgänge fest, daß es sich bei fast allen rituellen Anlässen um das Überschreiten von Grenzen handelt, seien es nun soziale, zeitliche oder räumliche Grenzen. Das gilt natürlich auch für den Bestattungs- oder Totenritus. Wenn der Mensch nach seinem Tode als "anderes Wesen" weiterleben soll, so kann das nur in einer "anderen Welt" sein. Die kultische Praxis besteht nun darin, eine vermittelnde Brücke zwischen dieser und der anderen Welt zu schafen. Materiell geschieht das dadurch, daß sich der Mensch heilige Orte schaft, die gleichzeitig zu dieser Welt gehören und auch wieder nicht zu ihr. Da sich der Mensch häufig über die Schwellen dieser Bereiche hin- und herbewegt, ist es sehr wichtig, daß es nicht zu Verwechslungen zwischen innen und außen kommt. "Es muß zwischen ihnen eine reinlich und mit Bedeutung aufgeladene physische Abgrenzung erfolgen" (Leach 1978:79). Dazu ein Beispiel aus dem Bereich der megalithischen Bauten. Die Schwellensteine aus Fourknocks in Irland (McMann 1980: Abb. 47 / 48) weisen markante Rautenmotive auf (Abb. 15). In diesem Sinne dürfte es also kein Zufall sein, wenn an den Eingängen zu unseren heutigen "Tempeln" Rauten zu finden sind. Richard Treuer (1979) hat die Raute (auch die Doppelraute) als Ritzungen auf Kirchentüren im Raum Salzburg, Kärnten und Tirol nachgewiesen. Aber auch die Kirchentüren selbst sind häufig in Rautenform gestaltet, z.B. an der Johannesberg-Kapelle in Traunkirchen (Abb. 16 ). Die Raute findet sich hier sogar zwischen den einzelnen Ziffern der über der Tür eingemeißelten Jahreszahl 1614. In unseren Gotteshäusern finden ja auch heute noch die wesentlichsten Übergangsriten im Laufe eines Menschenlebens wie Taufe, Firmung, Hochzeit und Begräbnisgottesdienst statt. Nicht selten wird die Raute auch neben und/oder über dem Eingang plaziert (Abb. 17). Hochinteressant ist in diesem Zusammenhang ein Holzkerbschnitt auf einem aus dem 17. Jahrhundert stammenden Kasten im Sakristeiraum der Kirche von St. Wolfgang, den Andreas Kopf (1991) erst vor kurzem dokumentiert hat (Abb. 18). Dabei erscheint das Fenster eines Hauses (einer Kirche ?) in Form einer Raue mit Näpfchen. Eine verwandte Darstellung findet sich in einem Felssturzgebiet nahe des Bad Ischler Salzberges (Abb. 19) : Hier wird die Raute durch vier Näpfchen markiert. Erich Neumann versuchte nachzuweisen, daß die Vorstellung des weiblichen Gefäßcharakters von der Höhle und dem Tempel später auf die Hütte und das Haus übergegangen ist. Als Beispiel für das Vorkommen von Rauten auf Almhüttentüren sei hier nur die Obertrauner Lahnfriedalm im nördlichen Teil des Dachsteinmassivs erwähnt, wo nicht weniger als fünfVarianten fest- 54 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017 Abb. 15 Abb. 16 55 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017 Abb. 17 0 0 zustellen sind, wobei in einem Fall ein natürlicher Holzspalt sehr geschickt in die Ritzung eingebaut wurde (Abb. 20). Besonders häufig ist die Raute auf alten Bauernhaustüren anzutreffen. Auch hier scheint die Bedeutung über eine Fruchtbarkeitssymbolik hinauszureichen (Abb. 21). So haben etwa Fillipetti und Trotereau (1979) nach eingehendem Studium französischer Bauernhäuser die Meinung geäußert, die Schwelle eines Hauses sei "nicht nur in rein praktischer Hinsicht ein Übergangsraum (drinnen - draußen), sondern auch in symbolischer Hinsicht". Sie beziehen diese Feststellung im übrigen nicht nur auf Rauten, sondern auch auf andere Manifestationen des Komplexes Türschmuck. "Manchmal führt die symbolhaft betonte Bedeutung der Schwelle ins Extrem. Die Tür wird zum Tempelportikus und die im übrigen schlichte Ausführung des Gebäudes steht im totalen Mißverhältnis zu diesem Eingang" (Fillipetti/Trotereau 1979: 165). Ob sich die Urheber dieser Formgebungen im Einzelfall jeweils der Bedeutung der von ihnen geschafenen Zeichen vollinhaltlich bewußt sind, oder ob der Effekt des bloßen Nachahmens tradierter Muster überwiegt, kann natürlich nicht entschieden werden. Gerade bei den zuletzt genannten Beispielen aus der bäuerlichen Welt ist Letzteres anzunehmen. Mit Sicherheit gilt das auch für die vielen 5 6 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017 00 Abb. 20 0 0 0 () 0 Abb. 19 0 Rauten auf den Hausfassaden von Wohnbauten des 20. Jahrhunderts (siehe Abb. 22). Zuletzt soll noch auf einen anderen möglichen Zusammenhang verwiesen und dabei vom Ganggrab bei Newgrange in Irland ausgegangen werden. Wieder ist der Eingangsblock mit Symbolen für Tod und Wiedergeburt bedeckt: Diesmal sind es gegenläufige Spiralen und Rauten zugleich. Doch ein anderes Detail des Eingangsbereiches ist in diesem Zusammenhang noch wichtiger. Oberhalb des Türsturzes, der nicht verziert ist, befindet sich - leicht zu- 57 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017 Abb. 21 88 0 0 rückversetzt - eine Lichtöffnung. Der Fenstersturz, der diese Dachöfnung nach oben abschließt, weist wiederum eine markante Rautenverzierung auf (Abb. 23). O'Kelly konnte nachweisen, daß das Licht der Sonne genau am Tag der Wintersonnenwende durch die Öffnung bis in die Kammer des Grabes scheint (McMann 1980:25). Diese Vorstellung von der befruchtenden Kraft der Sonne war auch den Indianervölkem Nordamerikas nicht fremd: 58 "Denkt daran, denkt daran, das Leben der großen Sonne haucht der Erde Leben ein" © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017 Abb. 22 <> <> -- 00 Sr DD D l- - Abb. 23 heißt es in einem "hako" der Osage (Steiner 1981 :36). Die Cheyenne verwirklichten diese Idee in Form eines Sonnentanzes, "in dem die göttliche Sonne, eigentlich der Sonn, die weibliche Erde mit Leben erfüllt, so daß die Menschen, Tiere und Pflanzen wieder neu aus ihr entstehen können" (Duerr 1984:23). Bei den Desana-Indianem gab es sogar den Begriff "Sonnenpenis" (Duerr 1984:59). Möglicherweise ist diese uralte und weit verbreitete Vorstellung auch noch in manchen Rauten an Höhlenportalen des Alpenraumes präsent. Tatsächlich sind fast alle betrefenden Wandstellen nach Osten bzw. Nordosten ausgerichtet. Pfarl hat schon 1970 bei einer Begehung des Gartenloches (Schützenhöhle) die Vermutung geäußert, die Sonnenstrahlen könnten zur Zeit der Sommersonnenwende genau auf die eingeritzten Rauten fallen. Hasenhüttl ( 1979/ 80: 82) konnte dieses Phänomen im Sommer 1976 für das Mausböndlloch nachweisen, als er nach einer Übernachtung in der Höhle dokumentierte, daß die ersten Sonnenstrahlen um 5.07 Uhr genau auf die einzige Raute der reich bebilderten Wand auftreffen. Ähnliches ist für die Kalmooskirche und die Jochwand-Halbhöhle zu vermuten. Eine Untersuchung war aufgrund der herr- 59 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017 sehenden Wetterbedingungen zur Zeit der Sommersonnenwende in den letzten Jahren nicht möglich. An der Jochwand-Halbhöhle bestätigt sich jedenfalls eindrucksvoll der vermutete Zusammenhang der Raute mit dem Gedankenkomplex Leben - Tod in Form der verkürzten Formel (R)IP = (requiescat) in pace (Abb. 24). Eine weitere Bestätigung liefert eine Ritzung auf einem Felsen im Tal der Niederen Dürren oberhalb von Hallstatt mit der deutschen Entsprechung (R)IF = (Ruhe) in Frieden (Abb. 25). Zusammenfassend seien folgende Thesen präzisiert: 1. Der Großteil der Ritzungen des ostalpinen Raumes (und damit auch der Sexualsymbole) stammt aus der Neuzeit bzw. dem späten Mittelalter. 2. Der Großteil der Sexualdarstellungen hat trotzdem nichts mit zufälligem Gekritzel gelangweilter J äger und Almhirten zu tun und auch nichts mit den zeitgenössischen Grafiti in Toiletten, auf Schulbänken oder Hauswänden. 3. Der Großteil der Sexualdarstellungen (vor allem auch die eben behandelten Rautenformen) hat vielmehr eine jahrtausendealte Tradition, wurde von Generation zu Generation weitergegeben und dabei vielfachen Abwandlungen unterworfen. Die damit verknüpften vorchristlichen Glaubensvorstellungen (die unzulässig wertenden Begrife "heidnisch" und "Aberglauben" sollen hier absichtlich vermieden werden) konnten trotz vehementer Bestrebungen der katholischen Kirche vor allem in alpinen Rückzugsgebieten besonders lange bewahrt werden. 4. Die Höhle wird durch die Markierung mit einer Raute als Schoß der Erde klassifiziert, wobei ihr ambivalenter Charakter zugleich Eingang zur Unterwelt, zur Welt der Dunkelheit und des Todes und andererseits schöpferisches, lebensspendendes Gefäß umschließt (zur Wurzel "hel" gehören gleichzeitig die Begrife Hölle und Hülse). 5. Diese Vorstellungen wurden später von der Höhle auf künstlich errichtete Heiligtümer (Tempel und Kirchen) und schließlich auch auf Hütten und Häuser übernommen, wobei die rituelle Bedeutung der Schwellen beibehalten wurde. 6. Möglicherweise hat auch die lebensspendende Kraft der Sonne etwas mit diesem tradierten Denkmuster zu tun. 7. Im Laufe der Industrialisierung und Urbanisierung der letzten hundert Jahre ist das Verständnis für die symbolhafte Bedeutung der Raute weitgehend verloren gegangen, so daß sie heute meist nur noch als Verzierung betrachtet wird. 60 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017 0 Abb. 24 Abb. 25 Abb. 26 Vor allzu pauschalierenden Aussagen muß - wie bei jeder Symbolanalyse - gewarnt werden. Nicht jede Raute besitzt magischen oder rituellen Charakter, genauso wie nicht jeder Ritzzeichenfelsen ein Kultort ist. Andererseits sollte aber außer Streit gestellt werden, daß es auch unter den ostalpinen Felsbildern eine Fülle von Darstellungen gibt, deren zugrundeliegende Idee im Schutze der traditionsgebundenen Gesellschaften abgelegener Räume über viele Jahrhunderte bewahrt werden konnte. Anhang: Die Raute auf den Kanarischen Inseln Interessanterweise spielt die Raute in der altkanarischen Kultur nach unseren bisherigen Kenntnissen eine völlig untergeordnete Rolle. Die Thematik der weiblichen Sexualität erscheint fast ausschließlich in der Form von Schamdreiecken, besonders deutlich in der Cueva de los Candiles und ähnlichen Höhlen auf Gran Canaria. Völlig aus dem Rahmen fällt in dieser Hinsicht die Rekonstruktion eines bemalten Tonfragmentes, das in der Form, wie sie Perez Saavedra (1989) ab-bildet, im Unterleibsbereich eine vergleichsweise riesige Raute mit fünf Näpfchen aufweist (Abb. 26). Unter den Felsbildern fehlt die Raute fast völlig: Wenn auf über 700 bisher allein aufFuerteventura dokumentierten Felsbildpaneelen (mit einigen tausend Darstellungen) höchstens eine - noch dazu unvollständige - Rautenform auftaucht, so zeigt dies, daß diese Darstellungsform auf der Insel ganz ofensichtlich keine traditionelle Bedeutung hatte (Abb. 27). Auch auf Lanzarote kennen wir nur ein Paneel, das mit einigen Beispielen einer gerundeten Vulvenform mit dem Themenkomplex Raute in Verbindung gebracht werden kann (Abb. 28). 61 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017 Abb. 29a: Kirche von Betancuria/Fuerteventura Aus dem Zeitraum nach der Conquista gibt es zahlreiche Belege für Rautendarstellungen, sowohl im profanen als auch im sakralen Bereich: auf Haustüren (Abb. 21, rechts unten), über Türen und Fenstern, neben Kirchenportalen und Altären (Abb. 29). Da es aber kaum Indizien für eine Überlieferungskette aus altkanarischer Zeit gibt, ist anzunehmen, daß diese Formen aus dem europäischen oder nordafrikanischen Raum importiert wurden: In Marokko ist die Raute geradezu die Normalform bei der Gestaltung von Haustüren. 62 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017 Abb. 29b: Kirche von Betancuria/Fuerteventura Literatur: Adam, K.D./Kunz, R.(1980): Eiszeitkunst im süddeutschen Raum. -Stuttgart Bednarik., R. (1996/1 ): Übersicht der Methodik direkter Felskunstdatierung.- Almogaren XXVIl/1996, Hallein, 257-284 Bednarik, R. 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(1969): O berösterreich in ur- und frühgeschichtlicher Zeit.- Linz Steiner, St. (1981): Der Untergang des weißen Mannes.-Hamburg 64 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017
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Calificación | |
Colección | Almogaren |
Título y subtítulo | Die Raute - ein Beitrag zur Problematik der Interpretation von Felsbildern |
Autor principal | Pichler, Werner |
Entidad | Institutum Canarium |
Publicación fuente | Almogaren |
Numeración | Número 30 |
Tipo de documento | Artículo |
Lugar de publicación | Hallein |
Editorial | Institutum Canarium |
Fecha | 1999 |
Páginas | pp. 035-064 |
Materias | Prehistoria ; Arte rupestre |
Copyright | http://biblioteca.ulpgc.es/avisomdc |
Formato digital | |
Tamaño de archivo | 2439336 Bytes |
Texto | Almogaren XXX / 1999 Vöcklabruck 1999 35 - 64 Werner Pichler Die Raute - ein Beitrag zur Problematik der Interpretation von Felsbildern Zur Methodik der Interpretation Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Phänomen "Felsbilder" ist als junge Forschungsdisziplin bis heute noch sehr wenig institutionalisiert. Sie ist grenzüberschreitend in den F achgebieten Vorgeschichte, Archäologie, Ethnologie, Semiotik u.a. angesiedelt und so letztlich nirgends heimisch geworden. Es gibt meines Wissens weltweit bis heute noch keinen einzigen Lehrstuhl für Felsbildforschung an einer Universität, ja es ist sogar umstritten, ob es sich bei der Felsbildforschung überhaupt um eine eigene Disziplin handle oder nur um eine Sub-Disziplin der Archäologie oder der Anthropologie. Umso eifriger ist das Bemühen der führenden Felsbildforscher, den Wissenschaftlichkeitsanspruch durch spezielle Standards und Methoden sowie eine eigene Terminologie abzusichern. Seit Jahren wird heftig über einen neuen Namen der Disziplin diskutiert, um ihr eine eigenständige Identität zu verleihen. Die Kritk am Bisherigen entzündete sich vor allem am englischen Begrif "rock art", da der Gegenstand der Forschungsdisziplin weder in allen Fällen auf Felsen zu finden sei noch es sich in allen Fällen um Kunst handle. Osaga Odak/Kenya startete im Jahre 1991 die Diskussion mit dem Vorschlag "Pictopetroglyphologie", Giriraj Kumar/Indien schlug "Purakala" (indischer Begrif für frühe Kunst) und Pefologie (PEF = Pictographs, Engravings, Figures), Robert Bednarik/ Australien "Kognitive Epistemologie" oder "Kognitologie" vor. Bei den folgenden internationalen Kongressen fand sich jedoch für keinen dieser Begrife eine Mehrheit. Ebensowenig entschieden ist bis heute die z. T. heftige Diskussion über die Methodik der Felsbildforschung. In dieser Diskussion spiegelt sich die alte Auseinandersetzung über die Abgrenzung von Natur- und Geisteswissenschaften. Obwohl die heute vorherrschende Ansicht über die Unterteilung der Wissenschaft nach dem Gegenstandsbereich ein wesentlich komplexeres Bild 35 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017 zeigt, überwiegt in der Methodendiskussion bis heute der Dualismus Naturund Geisteswissenschaften. Den Gegensatz hat W. Dilthey 1900 in extremer Kürze so formuliert: "Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir". Die grundsätzliche Methode der Naturwissenschaften kann demnach als nomothetisch, generalisierend oder empirisch-analytisch bezeichnet werden: Es wird versucht, einzelne Ereignisse in allgemeine Gesetzmäßigkeiten einzuordnen und kausal zu erklären. Dem steht die idiographische, individualisierende oder hermeneutische Methode der Geisteswissenschaften gegenüber: Man versucht, einzelne Ereignisse zunächst zu beschreiben und dann ihren Sinn zu verstehen. Das Forschungsideal der Geisteswissenschaften ist also die verstehende Erkenntnis aufgrund von Interpretation. Genau dies ist der Stein des Anstoßes für die Vertreter eines einheitlichen Wissenschaftsideals: Ausgehend vom Neopositivismus des Wiener Kreises fordern sie für alle Wissenschaften die Grundlegung einer analytischen Theorie. Die Hermeneutik wird von ihnen als Pseudo-Methodologie, als unexakt, willkürlich und spekulativ abgelehnt und somit nicht als ernsthafte Wissenschaft anerkannt. Um die enormen Gegensätze in der Aufassung von Möglichkeiten und Grenzen der Interpretation zu illustrieren, seien hier zwei diametral gegensätzliche Positionen zitiert: Ulbrich hat in Almogaren XVIII/1997 in seinem Artikel über "Sexualität und Scham bei denAltkanariern" einen fast grenzenlosen Optimismus in Hinsicht auf die Deutbarkeit altkanarischer Felsbilder demonstriert. Anstatt sie als Thesen oder Möglichkeiten zu formulieren, versieht Ulbrich seine extrem subjektiven Interpretationen mit den Attributen "klar", "eindeutig", "zweifellos" und "sicher". Er verleiht ihnen so den Status objektiver Wahrheiten und immunisiert sie gegen mögliche Einwände und alternative Betrachtungsweisen. Als Gegenbeispiel für die Möglichkeiten der Felsbildinterpretation seien hier einige Äußerungen Bednariks (1996/1 :260) zitiert: "Die Deutung von Felsbildern als Materialgegenstände ist rein subjektiv. Der Deutende hat keinen Zutritt ... zur Welt des Herstellers der Felskunst, sondern kann diese Motive nur im Rahmen seiner eigenen, sehr begrenzten Weltanschauung wahrnehmen". "Die Deutungen ... gehören in das Studium des Verstandes der Archäologen". "In der Felskunstwissenschaft ist kein Raum dafür, denn hier darf Felskunst nur außerhalb unserer kognitiven Reaktionen zu ihr studiert werden". Oder über die Archäologie: "archaeological interpretations are not themselves testable", "archaeology is no science". (Bednarik 1996/2:127). 36 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017 Bei dieser strengen Abgrenzung wird allerdings außer acht gelassen, daß es die strikte Trennung der Methoden in der Wissenschaftspraxis längst nicht mehr gibt (falls es sie jemals gegeben haben sollte). Die Interpretation experimenteller Daten, naturwissenschaftlicher Phänomene oder logischer Systeme ist weit verbreitet, ebenso wie die Anwendung analytischer Methoden in den Geisteswissenschaften wie Induktion oder Statistik. So vertritt auch Karl Popper die Ansicht, daß die Idee der Einheitswissenschaft mit rein analytischer Methodik längst nicht mehr aufrecht erhalten werden kann .. Das einigende Band aller Wissenschaften besteht seiner Ansicht nach darin, daß die Suche nach der Wahrheit in einem Wechselspiel von Hypothesenkonstruktion und kritischer Überprüfung besteht: Problem 1 vorläufige Theorie Fehlerbeseitigung Problem 2 Ausgangspunkt jedes wissenschaftlichen Prozesses ist - sowohl in den Natur als auch in den Geisteswissenschaften - eine Problemstellung. Etwas hat unsere "Verwunderung" erregt, wie die griechischen Philosophen sagten. Der nächste Schritt nach der Formulierung des anfänglichen Problems ist die versuchsweise Entwicklung von Theorien. Ihre öfentliche sprachliche Formulierung ermöglicht eine rationale kritische Diskussion, deren Ziel es ist, ihre Schwächen aufzudecken, sie zu widerlegen. Die wissenschaftliche Methodik funktioniert nicht kumulativ, sondern revolutionär: Wissenschaftlicher Fortschritt passiert nicht dadurch, daß Theorien durch das Sammeln experimenteller Daten abgesichert werden, sondern dadurch, daß alte Theorien durch neue ersetzt werden. Poppers berühmt gewordenes "Falsifizierbarkeitskriterium" lautet: Eine Theorie ist dann wissenschaftlich, wenn sie überprüfbar, d.h. falsifizierbar ist. Die Aussage eines Archäologen, ein bestimmter Siedlungsplatz stamme aufgrund der gefundenen Steinwerkzeuge aus dem Mesolithikum, ist in diesem Sinne durchaus wissenschaftlich, da er durch moderne physikalisch-chemische Meßverfahren überprüfbar und daher auch widerlegbar ist. Man ist daher nicht berechtigt zu sagen "Archäologie ist keine Wissenschaft", sondern höchstens das Forschungsdesign eines konkreten Archäologen odereinzelne Aussagen einzelner Archäologen sind nicht wissenschaftlich, wenn sie sich nicht dem Überprüfungskriterium unterwerfen lassen. Gerade in der Falsifikation alter Theorien besteht der wesentliche Lernprozeß. Wir lernen nicht nur, daß die alte Theorie falsch war, sondern vor allem, warum sie falsch war. Viele Wissenschaftler haben sich auch heute noch nicht daran gewöhnt, die Falsifikation einer eigenen, liebevoll gehätschelten Theorie als das zu werten, was sie in Wirklichkeit ist: ein wissenschaftlicher Erfolg. Es bedarf wohl der Größe eines wissenschaftlichen Genies wie des 37 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017 Nobelpreisträgers Sir John Eccles, den "Mißerfolg" seiner Theorie über die synaptische Übertragung zwischen Nervenzellen als Fortschritt zu feiern: "Zu diesem Zeitpunkt lernte ich von Popper, daß es wissenschaftlich nichts Ehrenrühriges sei, wenn die eigenen Hypothesen als falsch erkannt werden. Das war die schönste Neuigkeit, die ich seit langem erfahren hatte"(zitiert bei Popper 1996:30). Gerade den historischen Wissenschaften wird oftmals angelastet, daß sie in dem Dilemma stecken, Fakten und Vorgänge vergangener Zeiten rekonstruieren zu müssen, ohne bei diesen Ereignissen dabeigewesen zu sein oder Zeugen befragen zu können. Dieses Argument hat aber genauso gut für naturwissenschaftliche Erkenntnisfragen Gültigkeit: Auch bei der Entstehung des Universums war niemand Zeuge und dennoch gibt es ernstzunehmende dicke Bücher über die ersten Sekunden bzw. Minuten dieses Prozesses und mir ist niemand bekannt, der diese Theorien als unwissenschaftlich bezeichnen würde. Auch die Behauptung, daß es sich bei der Untermauerung dieser Thesen doch um mathematische Berechnungen, chemische oder physikalische Abläufe handle, ist leicht zu entkräften. Alle diese naturwissenschaftlichen Modelle basieren ebenso wie geisteswissenschaftliche Thesen nur auf dem jeweiligen Stand des verfügbaren Wissens, d.h. sie sind genauso schnell ungültig, wenn sich der Erkenntnisstand ändert. Insofern halte ich es für legitim und notwendig, F. Schrenks Aussage: "In den historischen Wissenschaften gibt es kein Wahr oder Falsch, sondern immer nur eine Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit" (zitiert bei Schnabel 1997:6 3) auf alle Wissenschaften auszuweiten. Wenn man die Welt aus relativistischem Blickwinkel betrachtet, so geht man doch von der generellen Annahme aus, daß der Mensch nur sehr begrenzt fähig ist, Wirklichkeit wahrzunehmen. Dies muß dann allerdings genauso für empirische Methoden gelten wie für geisteswissenschaftliche Betrachtungsweisen. Woher nimmt man Kriterien für die Unterscheidung zwischen unwissenschaftlich (z.B. Archäologie) und wissenschaftlich (z.B. Physik), wenn es sich doch in allen Fällen nur um Annäherungsversuche an die Wirklichkeit handelt, die mehr oder minder große Wahrscheinlichkeit haben? Akzeptiert man die relativistische Weltsicht - und ich sehe nach dem derzeitigen Stand der wissenschaftlichen Diskussion keinen Anlaß, dies nicht zu tun - so gibt es meines Erachtens nur zwei mögliche Positionen: Eine mögliche Reaktion wäre, jedes wissenschaftliche Bemühen für sinnlos zu erachten und mit den Worten Wittgensteins zu formulieren: "Worüber man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen". Oder man akzeptiert Wissenschaft wie alle anderen menschlichen Aktivitäten als sinnvoll innerhalb des durch 38 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017 die menschlichen Sinne und Erkenntnisfähigkeiten begrenzten Rahmens. Eine wesentliche Frage ist allerdings, ob diese Grenzen allein schon durch unseren eigenen kulturellen Kontext definiert sind. Die Relativisten behaupten, daß die Erkenntnis standort- (=kontext-) abhängig sei - gebunden an die jeweilige Gesellschaft, Kultur, Religion, Sprache etc. Natürlich ist jedes Weltbild und damit auch jede kulturelle Äußerung des Menschen innerhalb eines bestimmten Rahmens ("framework") entstanden. Insofern ist unbestritten, daß wir uns in "kognitiven Käfigen" aufhalten. Die Frage ist nur, ob diese Käfige Gefängnisse darstellen, aus denen wir nicht auszubrechen vermögen oder ob wir nicht gerade durch die Konfrontation mit anderen "frameworks" imstande sind, die Begrenzungen des eigenen Käfigs auszuweiten. Die heftige Diskussion zwischen kritischen Realisten und Relativisten kreist also um die Frage, ob es uns grundsätzlich möglich ist, zeitlich und/oder räumlich Entferntes (das Andere, das Fremde) zu verstehen, zu interpretieren. Die extreme relativistische Position besagt, daß es dem Menschen generell versagt ist, erfolgreich fremde Kulturen zu erforschen. Ohne der fremden Welt anzugehören, ohne an ihrer Sprache und ihren kulturellen Bräuchen teilzuhaben, sei eine Auslegung von Ausdrucksaktivitäten völlig unmöglich. Dagegen argumentiert Popper mit Recht, daß uns doch nichts daran hindere, über fremde Kulturleistungen Theorien aufzustellen. So ist es dem Menschen doch nachweislich gelungen, Kommunikationssysteme staatenbildender Insekten (z.B. den "Tanz" der Bienen) mittels bestimmter Theorien zumindest z. T. verständlich zu machen. Daß eine Innenperspektive in manchen Fällen für das bessere Verständnis nützlich wäre, ist unbestritten. Aber eine größere Nähe zum Untersuchungsobjekt kann auch der Suche nach Deutungen hinderlich sein. Einzelne Bestandteile oder Konsequenzen kultureller Aktivitäten können durchaus über ihren Rahmen hinaus verweisen und für einen Außenstehenden besser deutbar sein als für den Anwender selbst. Wir müssen nicht eine Biene sein, um wesentliche Aspekte der Interaktionen zwischen Bienen verstehen zu können. Es ist also durchaus legitim und wissenschaftlich, Theorien über Fetische, Tänze oder Felsbilder anderer Kulturen und/oder Zeiten aufzustellen. Naturwissenschaftliche Theorien sind nicht von vorneherein exakter als Theorien über kulturelle Aktivitäten: Sie sind allesamt nur vorläufige, versuchsweise Annäherungen und gelten nur so lange, bis sie durch eine bessere, umfassendere Theorie abgelöst werden. Die relativistische Grundthese enthält auch den Aspekt einer "self fulfilling prophecy": Wenn man unüberwindliche Barrieren annimmt, so stabilisiert man sie damit zugleich. 39 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017 Darüber hinaus aber erforschen verschiedene Wissenschaften unterschiedliche Wirklichkeitsbereiche und die speziellen Lösungsversuche müssen demnach an den Problemen orientiert sein. Der Vorwurf, daß die Geisteswissenschaften im Unterschied zu den Naturwissenschaften über keine Objektivitätskriterien verfügen, ist nicht gerechtfertigt. Allerdings wird in den modernen Geisteswissenschaften (vielleicht auch in den zukünftigen Naturwissenschaften?) die Koexistenz unterschiedlicher methodologischer Konzeptionen (ein Paradigmen-Pluralismus) akzeptiert. Die totale Ablehnung der Hermeneutik (im konkreten der Interpretation von Felsbildern) als unwissenschaftlich ist nach Ansicht vieler Wissenschaftstheoretiker also nicht als progressiver Ansatz zu werten, sondern als Rückschritt auf positivistische Grundpositionen des vorigen Jahrhunderts. Lutz Geldsetzer (Prof. für Philosophie an der Universität Düsseldorf) definiert Hermeneutik als "die methodologisch orientierte Disziplin des Umgangs mit sinnhaften Dokumenten" und Interpretation (Auslegung) als "die nach kanonischen Regeln ausgeführte Sinndeutung einzelner Dokumente" (Geldsetzer 1992:134). Aufgabe der Hermeneutik ist es, Regeln aufzustellen, deren Quellen zu reflektieren, ihre Anwendbarkeit und Efizienz zu überprüfen sowie die Grenzen ihrer Gültigkeit festzulegen. Während sich die dogmatische Hermeneutik mit der Anwendung eines bekannten Sinnes von Dokumenten auf bestimmte Problemlagen (z.B. in der Theologie) beschäftigt, besteht die zetetische Hermeneutik in der Erforschung eines präsumptiven, unbekannten Sinnes von Dokumenten (z.B. in der Felsbildforschung). Die zetetische Hermeneutik bedient sich des Fachwissens als hypothetischer Vorgabe und zwar tendenziell interdisziplinär und universell. Sie versucht, alternative Deutungsmöglichkeiten zugunsten des "wahren" Sinnes auszuschalten. Die Suche nach dem wahren Sinn kann aus drei Gründen zum Scheitern verurteilt sein: 1) Wenn kein einschlägiges Fachwissen vorhanden ist, 2) wenn die Wissensvorgaben des Interpreten ungenügend sind, 3) wenn mehrere Interpretationsmöglichkeiten gleich wahrscheinlich sind. Das Wahrheitskriterium kann daher folgendermaßen definiert werden: "Diejenige Interpretation ist die wahre, die alles vorhandene einschlägige Wissen über das zu interpretierende Dokument in einen logisch und inhaltlich stimmigen Zusammenhang bringt und so einen Sinn konstruiert" (Geldsetzer 1992: 136). Im Sinne relativistischer Erkenntnisse müßte man "wahr" durch "wahrscheinlich" ersetzen, aber im übrigen ist die Zielsetzung des Interpretierens optimal definiert. 40 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017 Bei all diesen Betrachtungen sollte man sich ständig der Grenzen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit bewußt sein. Die Mehrzahl der Philosophen und Wissenschaftstheoretiker geht heute davon aus, daß der wissenschaftlichen Erkenntnis Grenzen gesetzt sind, daß es in der Wirklichkeit zusammenhänge gibt, die wir mit unseren theoretischen Konstruktionen nicht zu erfassen vermögen. Ein nicht unwesentliches Kriterium des Interpretierens soll abschließend noch betont werden: Je größer die zeitliche (und räumliche) Distanz des Interpretierenden zum Objekt der Interpretation ist, umso schwieriger ist naturgemäß der Zugang zu den möglichen Bedeutungen. Bednarik hat also sicher recht mit seinen großen Vorbehalten gegenüber Interpretationen paläolithischer Kunst. Völlig andere Voraussetzungen herrschen aber, wenn die Überlieferungskette von Symbolkomplexen bis weit in historische Zeiträume oder gar bis in die unmittelbare Vergangenheit reicht. In solchen Fällen bieten sich oftmals ausreichend viele Indizien zur Absicherung von Thesen an, sodaß die Interpretation einen sehr hohen Grad an Wahrscheinlichkeit gewinnt. Diese Möglichkeiten sollen im folgenden an einem konkreten Beispiel demonstriert werden. Die Raute als Zeichen und Symbol Jede Kultur kann als ein Ensemble symbolischer Systeme betrachtet werden (C. Levi-Strauss) Ausgangspunkt dieser Betrachtungen ist ein Ritzzeichen, das der Autor im Jahre 1980 in einem Felssturzgebiet nahe der Rossmoosalm in etwa 1100 Meter Seehöhe nahe dem Ort Bad Goisern/0.Ö. gefunden hat (Abb. 1). Etwa 10 Zentimeter groß, bis zu 7 Millimeter tief eingeritzt und ziemlich stark verwittert schmückt es als einzige Ritzung eine große dunkle Felswand. Daß gerade dieses Zeichen als Ausgangspunkt gewählt wird, ist kein Zufall. Eine quantitative Analyse hat gezeigt, daß die Raute in all ihren Variationen zu den häufigsten Zeichen unter den Felsritzungen des Salzkammergutes zählt. Es ist auch keine zufällige Ritzung unter vielen ande- 41 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017 ren, quasi nebenbei aus Langeweile hinterlassen, sondern eine sorgfältige, bewußte Zeichensetzung, die den gesamten Felssturzblock beherrscht. Die Fragen, die im Zusammenhang mit solchen Ritzungen auftauchen und jeden Felsbildforscher aber auch jeden Laien interessieren, sind natürlich solche, die weit über das rein positivistische Sammeln und Dokumentieren hinausgehen: Was bedeuten diese Zeichen? Und: Wie alt sind sie? Die folgenden Überlegungen sollen sich ausschließlich auf die Problematik der Interpretation beschränken. In den vorhandenen Publikationen über dieses Thema herrscht - abgesehen von den im einzelnen stark divergierenden Auslegungen der Bedeutung - im Grundsätzlichen doch darüber Einigkeit, daß die Raute (wie auch das Dreieck) sehr direkt mit dem Prinzip des Weiblichen (der Sexualität) in Zusammenhang gebracht werden kann. Interessant ist in diesem Zusammenhang aber, daß seit den Anfängen der Felsbildforschung bei der Besprechung von geschlechtsbezogenen Zeichen dieser Art immer wieder Wertungen wie "obszön", "anstößig" und "pornographisch" auftauchen. So schrieb Francois de Belle Foret schon 1575 über die Höhle Roufignac: " ... dort gibt es Venusidole ... und andere anstößige Dinge" (zitiert bei Duerr 1984:309). K. Absolon bezeichnete 1949 dilluviale Felsbilder als "steinzeitliche Pornographie" (Duerr 1984:309). Folgerichtig kam es auch immer wieder zu Trugschlüssen in der falschen Richtung. Prof. Humbach schloß aus der Häufigkeit sexueller Symbole bei nordpakistanischen Felsbildern darauf, daß die benachbarten (nicht lesbaren) Inschriften obszöne Wendungen enthalten (IC-Nachrichten Nr. 48/1984:12). Man sollte eigentlich glauben, daß solche Wertungen heute längst überwunden sind. Man kann sich in dieser Frage wirklich nur der Meinung Hans Peter Duerrs anschließen, der schreibt: "Solche Deutungen werfen vermutlich mehr Licht auf den Autor als auf die Felsbilder" (Duerr 1984:309). Ein interessantes Detail an diesem Phänomen ist ja, daß die gleichen Rautendarstellungen in anderen Regionen der Welt kaum "Anstoß erregen", nicht als "schmutzig und ekelhaft" gesehen werden und ihnen auch nicht unterstellt wird, sie seien absichtliche Verletzungen der Scham. Als Beispiel für viele sei Henri Hugot zitiert, der in seinem Buch "Zehntausend Jahre Sahara" schreibt: "Die Verwendung geschlechtlicher Symbole im Bereich der Felsbildkunst hat mit augenscheinlich ähnlichen Erscheinungsformen der Pornographie nichts zu tun" (Hugot 1984:64). Ähnliches gilt für Vulvendarstellungen in Indien, den Anden oder auf den Osterinseln, um nur ein paar Regionen in beliebiger Auswahl zu nennen. Sehr deutlich drückt sich auch der angesehene Religionsphilosoph und Ethnograph Mircea Eliade aus: "Immer und überall - außer in der modernen Welt - war die Sexualität eine Erscheinung des Heiligen" (Eliade 1986:15). 42 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017 Tauchen solche Zeichen aber unter den alpinen Felsbildern auf, so heißt es in den Kommentaren: "kindliches Gekratze!", "Kritzeleien gelangweilter Jäger", "Zeitvertreib unbefriedigter Almhirten" etc. Demgegenüber verweist schon Burgstaller (im speziellen für die konzentrisch angeordneten Rhomben) aufzahlreiche Parallelen im außereuropäischen Raum, wobei er ihre Bedeutung "im Ritual der Initiationen und insbesondere im Totenbrauch" betont (Burgstaller 1981 :70). Biedermann schließt in der Einleitung zu Band I der "Salzburger Felsbilder" aus der Vergesellschaftung von Sexualsymbolen mit Pentagrammen und christlichen Symbolen auf ihren Amulett- und Abwehrcharakter und bezeichnet sie als Zeugnisse "ländlichen Aberglaubens" (Biedermann 1986:17). Dieser Kontext ist allerdings, zumindest im Salzkammergut, keineswegs verifizierbar: Pentagramme finden sich in keinem einzigen Fall benachbart, christliche Symbole auch nicht signifikant häufig. Biedermann bringt aber im selben Zusammenhang einen wichtigen Hinweis: Er betont nämlich die Tatsache, daß besagte Sexualsymbole meist hoch stilisiert wirken und keineswegs einen pornographischen Eindruck vermitteln. In ihren stark abstrahierten, geometrischen Formen kommen sie tatsächlich weder unter den städtischen Grafiti-Malereien, noch auf Schulbänken, Toilettenanlagen oder Parkbänken vor. So viel zu existierenden Interpretationsansätzen. Dieser Vielfalt an Meinungen sollen nun die Vorstellungen des Autors zur Systematisierung des Interpretationsvorganges gegenübergestellt werden. Vorausgeschickt sei die Behauptung, daß sämtliche nonverbalen Dimensionen unserer Kultur Träger kodierter Informationen sind und nur dann nicht verstanden werden können, wenn es sich um spontan entwickelte, isoliert dastehende Symbole, sozusagen um Privatsymbole handelt. Alle anderen, nach Mustern organisierten und durch Konvention festgelegten und überlieferten Symbole sind grundsätzlich interpretierbar. Für die menschlichen Ausdrucksaktivitäten soll in der Folge die Klassifikation des englischen Sozialanthropologen Edmund Leach (1978) verwendet werden. Er unterscheidet zwischen • ZEICHEN: A steht für B als Teil fürs Ganze, wobei A und B dem gleichen kulturellen Kontext angehören • SYMBOL: A steht für B, wobei A und B verschiedenen kulturellen Kontexten angehören und die Verknüpfung weitgehend willkürlich ist. Für beide Ausdrucksaktivitäten, die unter dem Begrif "SIGNA" zusammengefaßt werden können, empfiehlt sich eine zweidimensionale Betrachtungsweise. Genauso wie eine sprachliche Äußerung des Menschen einerseits als punktuelles Phänomen auf der Linie der Sprachentwicklung (z.B. althoch- 43 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017 deutsch - mittelhochdeutsch - neuhochdeutsch) und andererseits im Zusammenhang aller Medien ihrer Zeit zu sehen ist, so steht auch jede bildnerische Schöpfung am Schnittpunkt zweier Linien: einer historischen Entwicklung und eines kulturellen Kontextes (Abb. 2). Fragt man nach der möglichen Bedeutung eines Zeichens, so gilt es auf der einen Seite den Gang der kulturellen Tradition zu verfolgen, wobei sich das Zeichen an verschiedensten Objekten manifestieren kann (z.B. Keramik, Idolfiguren, Steinbauten etc.). Abb. 2 ARCHETYPEN TRADITION 1 Prähistorische Funde Idole Keramik Felsbilder etc. QUER- Zeitgenöss. " volkskundliche Objekte i-------------.,1---------"-----I SCHNITT Kontext Almhütten Kirchentüren Hausmarken Historische Entwicklung .. 1 LANGS-SCHNITT 1 Auf der anderen Seite gilt es zu untersuchen, in welchen Zusammenhängen das Zeichen auf zeitgenössischen Objekten (z.B. Bauernhäusern, Kirchen, Almhütten etc.) auftaucht. Diese Vorgangsweise soll in der Folge am Beispiel der Raute verdeutlicht werden (Abb. 3). Die Tradition der Rautendarstellung läßt sich über Idolfiguren aus dem 1. vorchristlichen Jahrhundert und megalithische Ganggräber bis zu paläolithi- 44 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017 Abb. 3 PALÄOLITHIKUM 0 Lorthet: Lochstab NEOLITHIKUM Griechenland: Höhlenritzung 3000 v. Chr. 0 Newgrange: Ganggrab 2000 v. Chr. Sumerisches . Schriftzeichen 1000 v. Chr. Malta: Weibliches Idol NEU-ZEIT o1 Ofenauer Nieder Eckau Rossmoos Kirchen- Alm- Bauern- Berg Dürren Alm Alm türen hütten häuser 45 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017 sehen Höhlenzeichnungen zurückverfolgen. Es mag vielleicht manchem problematisch erscheinen, Dokumente verschiedenster Kulturen und Zeitalter zu vergleichen, diese Vorgangsweise erscheint aber als durchaus legitim für jeden, der sich einmal mit vergleichender Märchenforschung oder vergleichender Ethnologie beschäftigt hat. Genausowenig, wie es Zufall ist, daß man in indischen Märchen ganz ähnliche Motive findet wie in Eskimo-Märchen, genausowenig, wie es Zufall ist, daß Bantuvölker ganz ähnliche Initiationsriten kennen wie Jakuten oder Samojeden, genausowenig darf es verwundern, daß auch bei den bildhaften Ausdrucksaktivitäten des Menschen viele Grundmuster (häufig "Uraltzeichen" oder "Ursymbole" genannt) weltweit vertreten sind, ohne daß man als Erklärung dafür einen direkten Kulturkontakt oder -austausch annehmen müßte. In Abbildung 3 sind nur wenige Beispiele exemplarisch herausgegriffen, auf sie näher einzugehen, würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Daher nur zwei kurze Anmerkungen: Interessant ist natürlich, daß die Doppelraute als sumerisches Schriftzeichen für das weibliche Geschlecht nachgewiesen werden konnte. Besonders deutlich wird der Zusammenhang der Raute mit dem Bereich des Weiblichen bei einer Idolfigur aus Malta (Abb. 4): Der hohe Grad der Abstraktion der äußeren Form korreliert hier sehr schön mit dem Grad der Abstraktion des zentralen Gegenstandes der Darstellung in Form der Doppelraute mit Näpfchen (Reden 1979: 119). Auch unter den neolithischen Idolfiguren Osteuropas (Müller-Karpe 1968: Tl 76/294) gibt es zahlreiche Belege dafür (Abb. 5). So viel in Kürze zur historischen Dimension. Betrachtet man den zeitgenössischen Querschnitt (wobei hier angenommen wird, daß die Doppelraute auf der Rossmoosalm erst aus der Neuzeit stammt), so findet man die Raute nicht nur auf unzähligen Felsen von Bayern über den Salzburger Tennengau bis ins Salzkammergut, sondern auch auf Kirchentüren, Almhütten, Bauernhäusern usw. Erstaunlich ist die dabei zu beobachtende Vielfalt an Rautenformen. Die 46 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017 Abb. 5 häufig vorgebrachte Meinung, daß es sich um zufällige, völlig unreflektierte Kritzeleien handle, ist dadurch leicht zu entkräften, daß man versucht, die Zeichen in ein System einzuordnen (Abb. 6). Daraus wird klar ersichtlich, daß es sich um Mutationen eines Grundmusters handelt, die sich voneinander jeweils nur durch einen Änderungsschritt unterscheiden und daß diese Grundform die einfache Raute mit zentralem Näpfchen ist. Diese Erkenntnisse stimmen sehr schön mit den Befunden der Feldforschung überein. Im Bereich des oberösterreichischen Salzkammergutes entspricht ein Viertel aller Rautendarstellungen der Grundform, alle wesentlich häufiger als einmal vorkommenden Rauten sind der Grundform sehr nahe verwandt (höchstens ein bis zwei Änderungsschritte). Zugegebenermaßen ist die Grenze nach außen hin verschwimmend. Je marginaler, umso eher ist der Übergang zu anderen Formen denkbar, die nichts mehr mit der Idee des Weiblichen zu tun haben. 47 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017 Abb. 6 Mit den bisherigen Überlegungen sollte klargestellt sein, daß die Raute in all ihren Variationen • nicht vergleichbar ist mit den wesentlich realistischeren Sexualdarstellungen im Bereich der Graffiti, 48 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017 • frei bleiben sollte von moralischen Wertungen wie "obszön" oder "porno-graphisch" • und auch nicht in die Kategorie zufälliger Kritzeleien fällt, sondern daß es eben eine jahrtausendealte Tradition gibt, die Raute als Zeichen für das Weibliche schlechthin zu setzen. Dieser Grundgedanke läßt sich weltweit nachweisen, sehr schöne Beispiele gibt es etwa unter den Felsbildern des Kaukasus (Abb. 7 - Ksika 1972:233). Verwandte Formen, wenn auch nicht so deutliche, tauchen auch unter den Felsbildern Hawaiis auf (McBridge 1969). So viel zur Raute als Zeichen. Nun zur Frage, ob der Raute nicht in vielen Fällen eine darüber hinausreichende symbolische Bedeutung zukommt. Es gibt sehr viele Hinweise darauf, daß schon sehr früh in der Menschheitsgeschichte die Raute mit der Idee der Fruchtbarkeit, der lebensspendenden Kraft verknüpft wurde, und zwar sowohl auf die Menschen als auch auf die Tiere bezogen, von denen das Überleben der frühen Jägervölker abhängig war. "Nordamerikanische Indianer ritzten einerseits Vulven ... auf Felsgravierungen von Tieren, höchstwahrscheinlich in der Absicht, die betrefende Tierspezies zur Fruchtbarkeit zu bewegen, andererseits setzten sich etwa die Frauen der Porno auf derartige Empfängnisfelsen, die mit Gravierungen von Vulven ... bedeckt waren, um schwanger zu werden"(Duerr 1984:54). Den innerhalb der Rauten an zentraler Stelle plazierten Näpfchen bzw. Strichen kommt nach H.P. Duerr die Bedeutung einer magischen Befruchtung zu: "Auf anderen Felsdarstellungen hatte man in den Genitalbereich der eingravierten Frauen gebohrt, ofensichtlich eine symbolische Kopulation" (Duerr 1984: 290). Für die Verbindung von Tier und Raute gibt es nicht allzu viele bildliche Belege. Auf dem vieldiskutierten Lochstab von Lorthet (Raphael 1978:43), der dem Magdalenien zugeordnet wird, finden wir über dem Haupt eines Hirschen zwei Rauten mit Längsstrich (Abb. 8). Auch der im Kleinen Schulerloch bei Altessing (Adam/Kunz 1980: Abb. 91) über einer Vulva abgebildete kleine Hisch (?) war von Herbert Kühn ursprünglich ins Magdalenien eingeordnet worden, bis es Hanns Hundt in den fünfziger Jahren überzeugend gelang, die Darstellung aufgrund der benachbarten Runeninschrift ins 6./7. Jahrhundert n. Chr. zu datieren (Abb 9). Das einzige Beispiel unter den ostalpinen Felsritzungen scheint mir die von Erika Kittel unter der Fundortbezeichnung "Hirschenhöhle" (Kittel 1989) publizierte Ritzung eines in Strichzeichnung ausgeführten Hirschen zu sein, der die Raute zwischen seinem Geweih trägt (Abb. 10). Die Verknüpfung der Raute mit dem Gedankenkomplex der Fruchtbarkeit hat ofensichtlich sogar Eingang in europäische Schriftsysteme gefunden. So kann es kein Zufall sein, daß das rautenförmige germanische Runenzeichen 49 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017 Abb. 7 für den ng-Laut dem Fruchtbarkeitsgott (germanisch "ingwaz") zugeordnet wurde (Krause 1970). Der nächste gedankliche Schritt bestand wohl darin, die Erde in ihrer Gesamtheit als weiblich zu empfinden: "Geht es den Jägervölkern um eine posi- 50 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017 Abb. 9 / Abb. 10 Abb. 11 Abb. 12 tive Beeinflussung der Vermehrung des Wildes, so wird bei den nacheiszeitlichen Bauernvölkern der Vorstellungskomplex Geschlechtlichkeit - Fruchtbarkeit - Wiedergeburt abstrakter gefaßt, auf die Fruchtbarkeit des Feldes ausgedehnt" (Biedermann 1976:41 ). "Die frühen Agrarkulturen müssen intuitiv erfaßt haben, daß die Fruchtbarkeit der Pflanzen und die menschliche Se- 51 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017 xualität im Wesen verwandt sind" (Biedermann 1974:6 4). Hans Haid (1990) berichtet über einen fruchtbarkeitsfördernden Brauch, der im Vintschgau heute noch ausgeübt wird: Dabei wird ein mit Stroh umwickeltes Holzgerüst in Form einer Doppelraute mit aufgesetztem Kreuz abgebrannt (Abb. 11 ). Spätestens für die Zeit der Ackerbauvölker kann angenommen werden, daß mit der Raute auch die Vorstellung der Wiedergeburt verbunden wurde. Max Raphael setzt diese Verknüpfung schon viel früher an. Er glaubt, schon in der bereits erwähnten Rautendarstellung auf dem Lochstab von Lorthet die Idee der Regeneration des Lebens erkennen zu können. Der weibliche Körper der Erde ist also der Ort, an dem sich die Regeneration des Lebens abspielt, aus dem das Leben wiederkehrt. Vielleicht ist auch die Darstellung in der "Höll" am Warscheneck, die Burgstall er erwähnt, in diesem Sinne zu sehen: Die Austrittsstelle einer intermittierenden Quelle ist von einer Raute umgeben (Burgstaller 1981 :23). Möglicherweise beruht auch die Tatsache, daß die Raute ein häufiges Motiv auf Urnen der Hallstattzeit ist (Reitinger 1969:178 ), auf dem Gedankenkomplex Tod - Wiedergeburt (Abb. 12 ). Als Zugang zum Körper der Erde galt naturgemäß von jeher die Höhle, sie wurde mit der Vagina der Frau verglichen. Hans Peter Duerr hat diese Thematik in seinem Buch "Sedna" ausführlich dokumentiert, auch Erich Neumann in seinem Buch "Die große Mutter" (1987 ). Als Belege können unzählige Vulvendarstellungen in Höhlen (Le Ferrassie, La Pileta, Bedeilhac etc. ) zitiert werden, auch wenn sie nur selten in Form der Raute ausgeführt sind. Auch Marie E. P. König ordnet die zahlreichen Vulvendarstellungen, die sie in den Kulthöhlen des Waldes von Fontainebleau (Ile de France) fand, dem Gedankenkomplex "Wiedergeburt in der Höhle" zu. "Es ist eine Stätte voller Tod-Leben- Symbolik. Erst die Christen haben den Teufel daraus gemacht, um den alten Kult zu überwinden" (König 1980:230). Abbildung 13 zeigt zwei typische Beispiele aus der Höhle "Roche au Diable" bei Larchant. Auch im Bereich der ostalpinen Felsbilder ist festzustellen, daß sich die Raute nirgends an Felsen mit hohem Aufforderungscharakter findet (z.B. an glatten, ritzfähigen Felsen neben häufig begangenen Wegen), sondern in abgelegenen Felssturzgebieten, in Klammen und Schluchten und - auffällig oft - an Höhlenportalen: am Mausböndlloch, an der Zsammtreibbodenhöhle und der Brandalmhöhle im steirischen Salzkammergut, an der Felszeichennische, der Jochwand-Halbhöhle, am Gartenloch (Abb. 14), an der Kalmooskirche, der Kienkirche und der Seekarkirche im oberösterreichischen Salzkammergut. Das mehrfache Vorkommen der Bezeichnung "Kirche" hängt mit der Zeit des Geheimprotestantismus zusammen, in der diese Höhlen für geheime Zusammenkünfte und Meßfeiern benutzt wurden. 52 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017 (J Abb. 13 Abb. 14 Schon sehr früh hat sich der Mensch auch künstliche Höhlen geschafen: die Tempel. In manchen Sprachen hat sich dieser Zusammenhang bis heute bewahrt. So bedeutet im Burmesischen das Wort "ku" sowohl Höhle als auch Tempel. "Die bergende Höhle als Teil des Berges stellt entwicklungsgeschichtlich die Naturform der Kultursymbole dar, die als Tempel, als Hütte und Haus Schützendes und Abschließendes bedeuten, wobei immer das Tor und die Türe den Schoß des mütterlichen Gefäßes bedeuten" (Neumann 1987:57). Archäologie und vergleichende Ethnographie zeigen deutlich, daß bei den unterschiedlichsten Gesellschaften und in den verschiedensten Regionen der 53 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017 Welt den Schwellen und Pforten eine enorme rituelle Bedeutung beigemessen wurde. Edmund Leach stellte bei der Untersuchung symbolischer Vorgänge fest, daß es sich bei fast allen rituellen Anlässen um das Überschreiten von Grenzen handelt, seien es nun soziale, zeitliche oder räumliche Grenzen. Das gilt natürlich auch für den Bestattungs- oder Totenritus. Wenn der Mensch nach seinem Tode als "anderes Wesen" weiterleben soll, so kann das nur in einer "anderen Welt" sein. Die kultische Praxis besteht nun darin, eine vermittelnde Brücke zwischen dieser und der anderen Welt zu schafen. Materiell geschieht das dadurch, daß sich der Mensch heilige Orte schaft, die gleichzeitig zu dieser Welt gehören und auch wieder nicht zu ihr. Da sich der Mensch häufig über die Schwellen dieser Bereiche hin- und herbewegt, ist es sehr wichtig, daß es nicht zu Verwechslungen zwischen innen und außen kommt. "Es muß zwischen ihnen eine reinlich und mit Bedeutung aufgeladene physische Abgrenzung erfolgen" (Leach 1978:79). Dazu ein Beispiel aus dem Bereich der megalithischen Bauten. Die Schwellensteine aus Fourknocks in Irland (McMann 1980: Abb. 47 / 48) weisen markante Rautenmotive auf (Abb. 15). In diesem Sinne dürfte es also kein Zufall sein, wenn an den Eingängen zu unseren heutigen "Tempeln" Rauten zu finden sind. Richard Treuer (1979) hat die Raute (auch die Doppelraute) als Ritzungen auf Kirchentüren im Raum Salzburg, Kärnten und Tirol nachgewiesen. Aber auch die Kirchentüren selbst sind häufig in Rautenform gestaltet, z.B. an der Johannesberg-Kapelle in Traunkirchen (Abb. 16 ). Die Raute findet sich hier sogar zwischen den einzelnen Ziffern der über der Tür eingemeißelten Jahreszahl 1614. In unseren Gotteshäusern finden ja auch heute noch die wesentlichsten Übergangsriten im Laufe eines Menschenlebens wie Taufe, Firmung, Hochzeit und Begräbnisgottesdienst statt. Nicht selten wird die Raute auch neben und/oder über dem Eingang plaziert (Abb. 17). Hochinteressant ist in diesem Zusammenhang ein Holzkerbschnitt auf einem aus dem 17. Jahrhundert stammenden Kasten im Sakristeiraum der Kirche von St. Wolfgang, den Andreas Kopf (1991) erst vor kurzem dokumentiert hat (Abb. 18). Dabei erscheint das Fenster eines Hauses (einer Kirche ?) in Form einer Raue mit Näpfchen. Eine verwandte Darstellung findet sich in einem Felssturzgebiet nahe des Bad Ischler Salzberges (Abb. 19) : Hier wird die Raute durch vier Näpfchen markiert. Erich Neumann versuchte nachzuweisen, daß die Vorstellung des weiblichen Gefäßcharakters von der Höhle und dem Tempel später auf die Hütte und das Haus übergegangen ist. Als Beispiel für das Vorkommen von Rauten auf Almhüttentüren sei hier nur die Obertrauner Lahnfriedalm im nördlichen Teil des Dachsteinmassivs erwähnt, wo nicht weniger als fünfVarianten fest- 54 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017 Abb. 15 Abb. 16 55 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017 Abb. 17 0 0 zustellen sind, wobei in einem Fall ein natürlicher Holzspalt sehr geschickt in die Ritzung eingebaut wurde (Abb. 20). Besonders häufig ist die Raute auf alten Bauernhaustüren anzutreffen. Auch hier scheint die Bedeutung über eine Fruchtbarkeitssymbolik hinauszureichen (Abb. 21). So haben etwa Fillipetti und Trotereau (1979) nach eingehendem Studium französischer Bauernhäuser die Meinung geäußert, die Schwelle eines Hauses sei "nicht nur in rein praktischer Hinsicht ein Übergangsraum (drinnen - draußen), sondern auch in symbolischer Hinsicht". Sie beziehen diese Feststellung im übrigen nicht nur auf Rauten, sondern auch auf andere Manifestationen des Komplexes Türschmuck. "Manchmal führt die symbolhaft betonte Bedeutung der Schwelle ins Extrem. Die Tür wird zum Tempelportikus und die im übrigen schlichte Ausführung des Gebäudes steht im totalen Mißverhältnis zu diesem Eingang" (Fillipetti/Trotereau 1979: 165). Ob sich die Urheber dieser Formgebungen im Einzelfall jeweils der Bedeutung der von ihnen geschafenen Zeichen vollinhaltlich bewußt sind, oder ob der Effekt des bloßen Nachahmens tradierter Muster überwiegt, kann natürlich nicht entschieden werden. Gerade bei den zuletzt genannten Beispielen aus der bäuerlichen Welt ist Letzteres anzunehmen. Mit Sicherheit gilt das auch für die vielen 5 6 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017 00 Abb. 20 0 0 0 () 0 Abb. 19 0 Rauten auf den Hausfassaden von Wohnbauten des 20. Jahrhunderts (siehe Abb. 22). Zuletzt soll noch auf einen anderen möglichen Zusammenhang verwiesen und dabei vom Ganggrab bei Newgrange in Irland ausgegangen werden. Wieder ist der Eingangsblock mit Symbolen für Tod und Wiedergeburt bedeckt: Diesmal sind es gegenläufige Spiralen und Rauten zugleich. Doch ein anderes Detail des Eingangsbereiches ist in diesem Zusammenhang noch wichtiger. Oberhalb des Türsturzes, der nicht verziert ist, befindet sich - leicht zu- 57 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017 Abb. 21 88 0 0 rückversetzt - eine Lichtöffnung. Der Fenstersturz, der diese Dachöfnung nach oben abschließt, weist wiederum eine markante Rautenverzierung auf (Abb. 23). O'Kelly konnte nachweisen, daß das Licht der Sonne genau am Tag der Wintersonnenwende durch die Öffnung bis in die Kammer des Grabes scheint (McMann 1980:25). Diese Vorstellung von der befruchtenden Kraft der Sonne war auch den Indianervölkem Nordamerikas nicht fremd: 58 "Denkt daran, denkt daran, das Leben der großen Sonne haucht der Erde Leben ein" © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017 Abb. 22 <> <> -- 00 Sr DD D l- - Abb. 23 heißt es in einem "hako" der Osage (Steiner 1981 :36). Die Cheyenne verwirklichten diese Idee in Form eines Sonnentanzes, "in dem die göttliche Sonne, eigentlich der Sonn, die weibliche Erde mit Leben erfüllt, so daß die Menschen, Tiere und Pflanzen wieder neu aus ihr entstehen können" (Duerr 1984:23). Bei den Desana-Indianem gab es sogar den Begriff "Sonnenpenis" (Duerr 1984:59). Möglicherweise ist diese uralte und weit verbreitete Vorstellung auch noch in manchen Rauten an Höhlenportalen des Alpenraumes präsent. Tatsächlich sind fast alle betrefenden Wandstellen nach Osten bzw. Nordosten ausgerichtet. Pfarl hat schon 1970 bei einer Begehung des Gartenloches (Schützenhöhle) die Vermutung geäußert, die Sonnenstrahlen könnten zur Zeit der Sommersonnenwende genau auf die eingeritzten Rauten fallen. Hasenhüttl ( 1979/ 80: 82) konnte dieses Phänomen im Sommer 1976 für das Mausböndlloch nachweisen, als er nach einer Übernachtung in der Höhle dokumentierte, daß die ersten Sonnenstrahlen um 5.07 Uhr genau auf die einzige Raute der reich bebilderten Wand auftreffen. Ähnliches ist für die Kalmooskirche und die Jochwand-Halbhöhle zu vermuten. Eine Untersuchung war aufgrund der herr- 59 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017 sehenden Wetterbedingungen zur Zeit der Sommersonnenwende in den letzten Jahren nicht möglich. An der Jochwand-Halbhöhle bestätigt sich jedenfalls eindrucksvoll der vermutete Zusammenhang der Raute mit dem Gedankenkomplex Leben - Tod in Form der verkürzten Formel (R)IP = (requiescat) in pace (Abb. 24). Eine weitere Bestätigung liefert eine Ritzung auf einem Felsen im Tal der Niederen Dürren oberhalb von Hallstatt mit der deutschen Entsprechung (R)IF = (Ruhe) in Frieden (Abb. 25). Zusammenfassend seien folgende Thesen präzisiert: 1. Der Großteil der Ritzungen des ostalpinen Raumes (und damit auch der Sexualsymbole) stammt aus der Neuzeit bzw. dem späten Mittelalter. 2. Der Großteil der Sexualdarstellungen hat trotzdem nichts mit zufälligem Gekritzel gelangweilter J äger und Almhirten zu tun und auch nichts mit den zeitgenössischen Grafiti in Toiletten, auf Schulbänken oder Hauswänden. 3. Der Großteil der Sexualdarstellungen (vor allem auch die eben behandelten Rautenformen) hat vielmehr eine jahrtausendealte Tradition, wurde von Generation zu Generation weitergegeben und dabei vielfachen Abwandlungen unterworfen. Die damit verknüpften vorchristlichen Glaubensvorstellungen (die unzulässig wertenden Begrife "heidnisch" und "Aberglauben" sollen hier absichtlich vermieden werden) konnten trotz vehementer Bestrebungen der katholischen Kirche vor allem in alpinen Rückzugsgebieten besonders lange bewahrt werden. 4. Die Höhle wird durch die Markierung mit einer Raute als Schoß der Erde klassifiziert, wobei ihr ambivalenter Charakter zugleich Eingang zur Unterwelt, zur Welt der Dunkelheit und des Todes und andererseits schöpferisches, lebensspendendes Gefäß umschließt (zur Wurzel "hel" gehören gleichzeitig die Begrife Hölle und Hülse). 5. Diese Vorstellungen wurden später von der Höhle auf künstlich errichtete Heiligtümer (Tempel und Kirchen) und schließlich auch auf Hütten und Häuser übernommen, wobei die rituelle Bedeutung der Schwellen beibehalten wurde. 6. Möglicherweise hat auch die lebensspendende Kraft der Sonne etwas mit diesem tradierten Denkmuster zu tun. 7. Im Laufe der Industrialisierung und Urbanisierung der letzten hundert Jahre ist das Verständnis für die symbolhafte Bedeutung der Raute weitgehend verloren gegangen, so daß sie heute meist nur noch als Verzierung betrachtet wird. 60 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017 0 Abb. 24 Abb. 25 Abb. 26 Vor allzu pauschalierenden Aussagen muß - wie bei jeder Symbolanalyse - gewarnt werden. Nicht jede Raute besitzt magischen oder rituellen Charakter, genauso wie nicht jeder Ritzzeichenfelsen ein Kultort ist. Andererseits sollte aber außer Streit gestellt werden, daß es auch unter den ostalpinen Felsbildern eine Fülle von Darstellungen gibt, deren zugrundeliegende Idee im Schutze der traditionsgebundenen Gesellschaften abgelegener Räume über viele Jahrhunderte bewahrt werden konnte. Anhang: Die Raute auf den Kanarischen Inseln Interessanterweise spielt die Raute in der altkanarischen Kultur nach unseren bisherigen Kenntnissen eine völlig untergeordnete Rolle. Die Thematik der weiblichen Sexualität erscheint fast ausschließlich in der Form von Schamdreiecken, besonders deutlich in der Cueva de los Candiles und ähnlichen Höhlen auf Gran Canaria. Völlig aus dem Rahmen fällt in dieser Hinsicht die Rekonstruktion eines bemalten Tonfragmentes, das in der Form, wie sie Perez Saavedra (1989) ab-bildet, im Unterleibsbereich eine vergleichsweise riesige Raute mit fünf Näpfchen aufweist (Abb. 26). Unter den Felsbildern fehlt die Raute fast völlig: Wenn auf über 700 bisher allein aufFuerteventura dokumentierten Felsbildpaneelen (mit einigen tausend Darstellungen) höchstens eine - noch dazu unvollständige - Rautenform auftaucht, so zeigt dies, daß diese Darstellungsform auf der Insel ganz ofensichtlich keine traditionelle Bedeutung hatte (Abb. 27). Auch auf Lanzarote kennen wir nur ein Paneel, das mit einigen Beispielen einer gerundeten Vulvenform mit dem Themenkomplex Raute in Verbindung gebracht werden kann (Abb. 28). 61 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017 Abb. 29a: Kirche von Betancuria/Fuerteventura Aus dem Zeitraum nach der Conquista gibt es zahlreiche Belege für Rautendarstellungen, sowohl im profanen als auch im sakralen Bereich: auf Haustüren (Abb. 21, rechts unten), über Türen und Fenstern, neben Kirchenportalen und Altären (Abb. 29). Da es aber kaum Indizien für eine Überlieferungskette aus altkanarischer Zeit gibt, ist anzunehmen, daß diese Formen aus dem europäischen oder nordafrikanischen Raum importiert wurden: In Marokko ist die Raute geradezu die Normalform bei der Gestaltung von Haustüren. 62 © Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017 Abb. 29b: Kirche von Betancuria/Fuerteventura Literatur: Adam, K.D./Kunz, R.(1980): Eiszeitkunst im süddeutschen Raum. -Stuttgart Bednarik., R. (1996/1 ): Übersicht der Methodik direkter Felskunstdatierung.- Almogaren XXVIl/1996, Hallein, 257-284 Bednarik, R. 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