7.
Zeitliche Abgrenzung aufgrund historischer Erkentnisse
Probleme der Chronologie werfen natürlich auch die Frage nach dem
Zeitpunkt auf, an dem zuletzt von der Urbevölkerung noch Petroglyphen graviert
wurden. Anhand der historischen Forschung können wir dazu einige
aufschlußreiche Feststellungen trefen, die sich in zwei Komplexe trennen
lassen: einmal der Import von Berbersklaven und zum anderen das Fortleben
der Eingeborenenkultur nach der Conquista.
Die Chroniken lehren uns, daß der letzte eingeborene König Lanzarotes
jener Guadarfrä war, der 1402 seine Insel an den normanischen Eroberer
Bethencourt verlor. Aus den sogenannten "Informaciones" - hier im Sinne
von Adelsproben oder Abstammungsnachweisen - die zahlreiche Spanier und
Martin Ruiz de Avendano o Fayna o Zonzamas --' 1
1 1 -, lco (Ggeutaaudfat frin o (gAentiaaugfut a Tinguafaya G'Luuaisd arfra') 'Maria')
? oo Guillen bartra
n
T(geegtauiufet o Maciot de Bethencourt oo ? Gu'Laudisaarf ra')
1
? Catalina da Fra dlnee Bse Mthaerngcaorituar t oo Harriet Prudhomme Marie de Bethencourt 1 (Arriete Perdomo) (keine Nachkommen)
? CSoanrmstieannztoa duined k saündaarimscehreikna,n pisocrthuegnie sischen
1
1 1 Bethencourts, Betancors usw.
? Agustfn de Herrera y Rajas 1.
1 3 • -4 namendich !
1
unbekannte
Generationen
EI 'rey Gut1,rrez' (Nachkommen)
!
Ab. 25 Die Nachkommen der lanzarotischen Eingeborenen-Häupdinge Zonzamas
und Guadarfra und die möglichen Verwandtschaftsbeziehungen des "rey Gutierrez".
54
© Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017
hispanisierte Kanarier auf den Inseln ablegen mußten ( oder auch freiwillig
anstrengten), wissen wir aber, daß erst Anfang des 16. Jhs. der tatsächlich
letzte König der Eingeborenen lebte, als bereits über 100 Jahre der spanischen
Herrschaft vergangen waren. Aus den betrefenden Dokumenten von
1609 und 1715 geht hervor, daß der Urgroßvater des Lucas Gutierrez Perdomo
unter dem Namen "EI rey Gutierrez" als letzter eingeborener König von
Lanzarote bekannt war (siehe auch CIORANESCU 1982). Ofenbar verblieb
die Königswürde in direkter Vererbung bei den Nachkommen des Guadarfrä.
Als Ausgangspunkt für diese Linie bietet sich sein Sohn Guillen Darfrä an, da
die Nachkommenschaft seiner Tochter Luisa (Teguise) recht gut bekannt ist
und eine Familie Gutierrez nicht aufweist (siehe unten und Abb. 25).
Die Existenz des "rey Gutierrez" läßt weitreichende soziale und politische
Interpretationen zu: Ofenbar wurde von den normannischen und in
Folge von den spanischen Herren Lanzarotes, den Familien las Casas, Peraza
und Herrera, ein Fortleben der eingeborenen Sozialstruktur nicht sofort unterbunden,
sondern im Gegenteil nicht nur geduldet, sondern in gewisser Weise
auch anerkannt. Dies zeigt sich z.B. in der auf allen Inseln durchgeführten
Praxis, den Erobererstatus dadurch zu stärken, daß man bewußt Angehörige
des Eingeborenen-Adels heiratete - und zwar im großen ganzen in durchaus
nicht-diskriminierender Weise und unter Belassung der sozialen Stufe der
angeheirateten Familie. Der erste Gouverneur Lanzarotes, der Normanne
Maciot de Bethencourt, heiratete die Prinzessin Teguise, Tochter des oben
erwähnten Königs Guadarfrä und wurde so zum Stammvater der kanarischen
Bethencourts (Betancor usw.). Die Enkelin des Guadarfrä (Tochter des Guillen
Dafrä), eine Catalina da Fra, wurde durch eine Liaison mit Sancho de Herrera
Großmutter des ersten Grafen und späteren Herzogs von Lanzarote, Agustin
de Herrera. Die soziale Anerkennung der Eingeborenen ging soweit, daß viele
in kürzester Zeit hohe Beamte der Verwaltung wurden. Die Nachkommen
des "rey Gutierrez" z.B., die Familie Gutierrez Meliän, stellten viele
Hauptmänner und Ratsherren Lanzarotes.
Waren die Eingeborenen erst einmal getauft, wie dies in bezug auf die
Lanzarotefios bereits ab 1403 der Fall war, dann kümmerte man sich ofenbar
wenig um die Sitten der Untertanen. Im Falle der eingeborenen Königsfamilie
erlaubte man sogar die Fortführung der Machtstrukturen, solange sie nur nach
innen auf den Clan wirkten, und nicht nach außen die Regierung der spanischen
Feudalherren in Frage stellten oder gar beeinträchtigten. Wir kennen
diese Methode auch aus neuerer Zeit: Gescheite Kolonialherren der Dritten
Welt respektierten das politische Gefüge des unterworfenen Landes und übten
die Kontrolle über den eingeborenen Herrscher aus.
55
© Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017
Was die Fortsetzung nichtchristlicher Riten betrift, so wurden beide
Augen zugedrückt. Ja, es gibt Anzeichen, daß man bestimmte Bräuche - bis
zur Durchsetzung strengerer Maßstäbe durch die Inquisition - sogar bewußt
in das politische Kalkül mit einbezog. Dazu zwei Beispiele: Eine der angesprochenen
fußähnlichen Gravierungen findet sich auf den Mauern des Pozo
de la Cruz, einem der Brunnen also, der zu dem 1402 im Rubic6n (SüdLanzarote)
errichteten Wehrturm der normannischen Eroberer gehörte (Abb.
51, 52). Eine andere Gravur dieses Stils wurde am Regierungspalast des
Herzogs von Lanzarote in Teguise, der damaligen Hauptstadt Lanzarotes,
entdeckt (Abb. 50). Letzteres kann damit erst im 16. Jh. eingeritzt worden
sein. Es sieht so aus, als ob die europäischen Herren Lanzarotes die Anbringung
dieses kultisch deutbaren Symbols bewußt duldeten, da es nicht nur die
Unterwerfung der Eingeborenen ausdrückte, sondern möglicherweise auch
die "Segnung" des Regierungsgebäudes oder das Fernhalten von "Bösen
Geistern" im Sinne der Eingeborenen-Religion bedeutete.
Dies alles läßt mit großer Wahrscheinlichkeit den Schluß zu, daß
autochthon lanzarotische Felsbildkunst noch bis in das 16., wenn nicht sogar
bis in das 17. Jh. hinein entstanden sein kann. Die Betonung von "autochthon"
deshalb, weil wir uns nun einer ethnischen Gruppe zuwenden müssen, die
parallel zu den lanzarotischen Eingeborenen für bestimmte Felsritzungen verantwortlich
sein kann.
Wir wissen, daß Diego Garcia de Herrera ab 1455 und seine Nachkommen
noch bis 1569 zahlreiche Expeditionen zum afrikanischen Festland unternahmen,
um die Bevölkerung auf Lanzarote durch berberische Arbeitskräfte
aufzufrischen. Im Laufe der Jahrzehnte wurden von der Familie Herrera
über 46 Raubzüge dieser Art durchgeführt, von denen Agustin de Herrera y
Rojas alleine 14 unternahm, die mindestens 1000 Sklaven brachten. Andere
"Unternehmer" von Lanzarote und Fuerteventura setzten diese Raubfahrten
- trotz der als Gegenreaktion einsetzenden Überfälle maurischer Piraten auf
die beiden Inseln - noch bis zum Beginn des 17. Jhs. fort. Insgesamt dürften es
über 2000 Berbersklaven gewesen sein, die auf Lanzarote und Fuerteventura
angesiedelt oder auf die anderen Inseln verkauft wurden. Die Bevölkerung
erfuhr also anthropologisch gesehen eine deutliche (heute allerdings nicht
mehr erkennbare) Berberisierung, die laut TORRIANI so weit ging, daß 1590
drei Viertel der Einwohner Lanzarotes berberisch oder berberischer Abstammung
waren. Torriani hat hier viele Mischlinge mitgerechnet, die durch
die Prostitution der Berberfrauen bzw. ihre Eheschließung mit Spaniern entstanden
waren. Dies wirkte sich auch in der Adaption bestimmter Bräuche
und einiger Berberismen bzw. Arabismen aus.
56
© Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017
Das schließt mit ein, daß sich die Berberstämmigen auch in Felsbildern
geäußert haben, so daß die Schriftzeichen, die dem sogenannten libyschberberischen
Typ zugerechnet werden, durchaus noch bis zum Anfang des 17.
Jhs. entstanden sein können. Die Berber bekamen überall auf Lanzarote Land
zugewiesen oder mußten als Landarbeiter, Hirten und Milizsoldaten Dienst
tun. Hauptsächlich berberisch geprägt war die Umgebung von Teguise einschließlich
der Ortschaft Teseguite (in der Nähe die Pefia de Luis Cabrera)
und das El Jable-Gebiet. Zum Randbezirk des letzteren gehörte auch die Eingeborenen-
Siedlung Zonzamas, in der sich nach der Conquista nicht nur Spanier
sondern auch einige Berber ansiedelten (siehe hierzu auch LOBO
CABRERA 1982). Die zahlreichen Felsgravierungen im Umfeld von Zonzamas
wurden bislang nur den Eingeborenen zugeschrieben. Es ist aber nicht auszuschließen,
daß z.B. ein Teil der podoformen Felsbilder auch neo-berberischen
Ursprungs sein kann. Das Gebiet mit dem stärksten Auftreten von Felsgravierungen
rund um Zonzamas ist der sogenannte "Llano de Zonzamas", ein
relativ flaches Gelände, durchsetzt mit einigen alten Resten kleiner
Vulkanschlote (Pefias de Cho Sosa und andere Felsen), auf denen sich die
Felsbilder befinden. Im Volksmund wird das Gebiet auch "Llano de las Brujas"
(Ebene der Hexen) genannt, nach den Magie betreibenden Berberfrauen, die
hier früher anzutrefen waren (LEÖN HERNANDEZ et al. 1982).
57
© Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017