Lionel Galand
BERBERISCH
DER SCHLÜSSEL ZUM ALTKANARISCHEN?
1.- Dominik Josef Wölfe! traf ich zum ersten Mal in
den fünfziger Jahren, als er mit seiner Frau Marokko besuchte.
Ich war damals "Professeur" (d. h. etwa Dozent)
am Institut des hautes etudes marocaines in Rabat, und
als Berberologe war ich ersucht worden, mich um unsere
Gäste zu kümmern; daher führten meine Frau und ich sie
an interessante Plätze. Dies war für uns eine Ehre und ein
Vergnügen, denn Prof. Wölfe! und seine Gattin waren
charmante Menschen, immer interessiert an allem Gezeigten
und bereit, allen Anregungen zu folgen.
Unsere Beziehungen wurden bald freundschaftlich, und
sie wurden vertieft, als wir den Wölfels in Wien einen Besuch
abstatteten. Prof. Wölfe! bot sich als Fremdenführer
an, sehr freundlich, jedoch zugleich - wie ich gestehen
muss - völlig unvertraut mit praktischen Problemen des
Verkehrs, der Einbahnstrassen usw.; ich erlaube mir, diese
Umstände zu erwähnen, nicht nur wegen des 100. Geburtstages
eines Gelehrten, den wir heute feiern, sondern auch
weil sie mir halfen, die komplexen Züge seiner Persönlichkeit
kennenzulernen.
Wölfe! war ein brillanter Forscher, entspannt m seinem
Studienzimmer oder der Bibliothek, ein Mann mit rascher
Auffassung, immer bereit, Fakten in eine Theorie
einzugliedern, dabei nie die Grenzen seines Wissens übersehend.
Es genügt, das Motto in der Einführung seiner
"Monumenta Linguae Canariae" zu lesen, in der sich Wiener
Humor mit dem Voltaires trifft: "Die Etymologie ist
eine Wissenschaft, in welcher die Vokale nichts, die Konsonanten
wenig bedeuten."
* Vortrag zum I.C.-Kongress 1988 in Hallein, anlässlich
des 100. Geburtstages von Prof. Dr. Dominik Josef Wölfe!.
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Einerseits forderte Wölfe} ausserordentliche Vorsicht
und zögerte nicht, allzu einfache Erklärungen zu verwerfen.
Andererseits war er freilich alles andere als das, was
man einen routinierten Feldforscher nennt. Während einer
Tour durch die Berge Zentralmarokkos war er nur zu oft
bereit, "Megalithen" zu sehen, wo es nur natürliche Felsformationen
gab; und als ich ihn eines Tages mit einer in
einem Zelt lebenden Berberfamilie bekanntmachte, kam es
mir vor, als würde er sich etwas unbehaglich fühlen, denn
es schien ihm nicht so recht zu gefallen, Menschen aus
Fleisch und Blut mit den Berbern in seinen Büchern zu
vertauschen.
Wölfel hatte bestimmt recht, wenn er immer wieder
auf die Komplexität im Leben der Sprachen hinwies (eine
verfängliche Metapher, weil nicht die Sprachen leben, sondern
die Sprecher) und wenn er den Begriff der "Sprachverwandtschaft"
diskutierte.
Aber auch ein kritischer Geist kann zu ungewissen
Folgerungen gelangen, und nicht immer konnte Wölfe} diese
Gefahr vermeiden. Er vertrat offenbar die Meinung,
dass wissenschaftlicher Fortschritt Kühnheit erfordere. Ich
werde hier nicht auf seine Theorie einer Sprache der Megalith
kul turen eingehen (Monumenta Linguae Canariae, S.
XIII). In einer ausgezeichneten Rezension des Buches weist
K. G. Prasse in den Acta Orientalia, 33, 1971, 357-363,
auf einen gewissen Widerspruch zwischen dieser Theorie
und der Vorstellung einer nahen Verwandtschaft zwischen
dem Kanarischen und einer hamito-semitischen Sprache
wie Berberisch hin.
Aber ob nun diese Theorie fundiert ist oder nicht -
linguistischer Vergleich ist auf jeden Fall das beste Mittel,
um das Kanarische zu erforschen. Vergleich, aber
womit?
Berberisch steht wegen der geographischen Nähe an
erster Stelle, und einige Sprachforscher haben nicht gezögert,
Kanarisch als eine echte Berbersprache zu etikettieren.
Ich kann diese Argumente in diesem Vortrag nicht
rezensieren oder diskutieren, sondern dies soll einer weniger
begrenzten Studie vorbehalten bleiben. Hier will ich
mich darauf beschränken, mich an die Fakten und an Wöl-
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fels Kommentar zu halten.
2. Greifen wir zwei kurze Texte aus dem sehr reichen
kanarischen Material heraus, das Wölfel in den "Monumenta"
behandelt hat und sehen wir, wie er sie behandelt
hat, indem er das Berberische als "die wichtigste Vergleichssprache"
heranzog (S. 24). Die ausgewählten Texte
waren schon lange vor der "Monumenta" publiziert worden,
da sie schon in Wölfels Edition (1940) des Torriani-Textes
von 1590 enthalten waren.
Der Cremonese Leonardo Torriani war durch König
Philipp II. auf die Kanaren gesandt worden und verbrachte
dort mehrere Jahre. Seine Hauptaufgabe war, Befestigungsanlagen
zu zeichnen, aber er war - wie er schreibt -
auch beauftragt worden, eine Beschreibung der Inseln zu
liefern. Im Kapitel über die alten Bewohner der Insel Gomera
kopierte er zwei kurze Gedichte, und zwar ein "kanarisches"
(nach Wölfel: aus Gran Canaria) und eines von
Ferro (Hierro). Diese Gedichte sind sogenannte "Endechas",
wie der spanische Ausdruck lautet, und es soll sich
um "Frauenklagen" handeln.
Torriani gab nicht nur den Text der Originalsprache(
n) wieder, sondern auch eine Übersetzung Wort für
Wort in italienischer Sprache (vgl. Monumenta Linguae
Canariae, IV, § 14-15, und L. Torriani, Die Kanarischen
Inseln und ihre Urbewohner, Leipzig 1940, Reprint Hallein
1979, 180-183).
Ich verändere hier die Zeilenordnung, um die angeblichen
Entsprechnungen der Worte deutlich zu zeigen:
I. Die "Kanarische" Endecba
1. Aica maraga, aitittl aguahae
Siate ben uenuto, ammazzarono nostra madre
Seid willkommen, sie töteten unsere Mutter
2. Maica demacihani
Questa gente forastiera; ma gia ehe stiamo insieme
Diese Leute fremden; da wir aber schon beisammen
sind
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3. Neiga
Fratello
Bruder
haruuici
me uoglio maritare
will mich verheiraten
II. Die Endecha von Hierro
1. Mimerahana, zinu zinuha;
alemalai
poiche siamo persi.
da wir verloren sind.
Qua ne menano,
Hier führen sie hin,
qua ne conducano;
hier leiten sie hin;
2. Ahemen aten haran hua
Ch'importa latte acqua et pane
Was bedeutet Milch Wasser und Brot,
3. Zu Argarftl f enere nuza
Se Agarfa non vuole mirarmi.
Wenn Agarfa nicht will mich ansehen.
Die Wortübersetzung aus dem Italienischen ist jene Wölfels.
Agarftl in II, 3 ist ein Männername.
Die aussergewöhnliche Bedeutung dieser sechs Zeilen
steht ausser Zweifel, weil es sich um einzigartige Beispiele
kanarischer mündlicher Dichtung handelt und sie zugleich
einen Hinweis auf die Sprache ermöglichen können.
Kein Wunder, dass Wölf el schreibt: "Die beiden Liedertexte
gehören zum Kostbarsten unter den kanarischen Sprachdenkmälern"
(Torriani, S. 182, Nr. 93). Leider erweist es
sich als äusserst schwierig, von ihnen alle zu erwartende
Informationen abzuleiten. Ich konzentriere mich dabei, wie
gesagt, auf Wölfels Studie und gehe auf die Arbeit anderer
Kommentatoren nicht ein.
3.- Beginnen wir mit der Frage, was die Gedichte wirklich
bedeuten. Wichtig ist, dass weder Torriani noch Wölfel
es unternommen haben, eine schlüssige, leicht lesbare
Übersetzung zu liefern. Wir haben nur Wortübersetzungen,
die eher Wort reihen als Sätze ergeben, und wir können
nicht einmal sicher sein, dass sie stimmen.
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Angesichts dessen scheint es sich beim ersten Gedicht
um die Klage eines Mädchens zu handeln, deren Mutter
von Feinden getötet wurde. Sie sagt ihren Bruder, dass sie
heiraten möchte - vielleicht, um ihrer verzweifelten Lage
zu entgehen? Wenn aber Symbole in der kanarischen Literatur
so wichtig sind wie in der berberischen, dann sind
auch andere Deutungen vorstellbar. Bedeutet "Bruder" (1,
3) wirklich Bruder oder handelt es sich um die Umschreibung
eines Liebhabers? Und wie ist Heirat mit dem
" Mord" an ihrer Mutter zu verbinden? Legt die Sängerin
bloss nahe, dass sie von einer Familie in eine andere
überwechselt, zu einer "Willkommens"-Gruppe (1, 1)?
Das andere Gedicht ist nicht klarer. Auch hier wechselt
anscheinend ein Mädchen zu einer neuen Familie über.
Sie bekommt rituelle Geschenke: Wasser. Milch und Brot,
aber das kümmert sie nicht (II, 2), weil sie Agarfu liebt,
und Agarfu mag sie nicht. Dies sind natürlich nur Deutungsversuche.
Torriani (S. 180) schreibt, dass die alten Gomeros üblicherweise
Verse aus acht, neun oder zehn Silben sangen.
Dies kann sich nicht auf unsere Endechas beziehen, soweit
wir dies ohne Kenntnis der echten Aussprache beurteilen
können. Ich wage es aber nicht anzunehmen, dass die Poesie
auf Silben beruhte. Was die Laute betrifft, so scheinen
sie . im Hinblick auf Assonanzen oder keine arrangiert zu
sein: Aica, Maica, Neiga am Anfang der Zeilen von Gedicht
I; -ae / -a-i / -ai (Gedicht I) oder -u-a / -ua /
-u-a (Gedicht II) am Ende.
Ungeachtet dieser Probleme möchte ich ihre Aussage
im Hinblick auf die Sprache diskutieren, oder auf ihre
Sprachen, da wir nicht a priori sagen können, dass sie
demselben Idiom entstammen; selbst in diesem Fall können
sie aus verschiedenen Dialekten herrühren.
4.- Nur zwei Wörter im Text, wenn wir der Umschrift
und der Unterteilung in Wörter trauen können, sind
anderweitig im kanarischen Sprachmaterial zu finden:
a h e m e n und h a r a n (II, 2). Sie wurden ausführlich
von Wölfel in der "Monumenta" (= MLC) studiert.
A h e m e n (MLC, IV, § 15, 232, 249) lässt sich mit
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ahemon (Wasser) oder, vielleicht wahrscheinlicher, mit
achemen (Milch) in Zusammenhang bringen. Wie auch immer
- die italienische Übersetzung erwähnt sowohl Wasser
als auch Milch.
H a r a n (MLC, IV, § 15, 240, 241) lässt sich leicht
mit ahoren (geröstetes Gerstenmehl) vergleichen, oder
noch besser mit haran (Farnwurzeln gekocht und wie Brot
verwendet. Auch hier trifft sich die Bedeutung recht gut
mit der italienischen Übersetzung "Brot".
Wenn wir aber dies vernünftigerweise annehmen und
ahemen "Milch" oder ahemon "Wasser" und haran mit haran
"Farnwurzel" übersetzen, dann ist klar, dass der italienischen
Text nicht die wörtliche Übersetzung darstellt,
weil er ahemen mit "Was bedeutet dies" und haran mit
"Wasser" überträgt. Torriani glaubte irrtümlich, dass die
Anordnung der Wörter im Kanarischen und Italienischen
(oder Spanischen, der wahrscheinlichen Sprache seines Informanten)
entsprach, und er glaubte auch, dass die Übersetzung
und der Originaltext perfekt parallellaufen würden.
Wenden wir uns nun dem Berberischen zu. Wölfel verglich,
wie auch andere, ahemon oder aemon (Wasser) mit
dem berberischen aman (Wasser): eine attraktive Erklärung,
trotz der sich aus dem 11h11 ergebenden Schwierigkeit.
Diese wollte Wölfel, vielleicht zu einfach, mit einer
Hiatustilgung (MLC, IV, § 232) erklären, also mit der
Vermeidung eines Hiatus zwischen der Vorsilbe "a-" und
dem Wortstamm "-aman". Wenn das 11h11
, dessen genaue
Aussprache wir nicht kennen, als vorhergehender Wurzelkonsonant
anzusehen ist, dann könnte das Kanarische erklären,
weshalb das Berberwort aman einen konstanten
Vokal hat (konstruierte Form: waman, nicht *w-man).
Aber diese Hypothese wird durch den hamito-semitischen
Vergleich (nach M. Cohen, Essai comparatif sur le vocabulaire
et la phonetique du chamito-semitique, Paris,
1947, § 485) nicht gestützt, worin das Anfangs-"h" in der
Wortwurzel für "Wasser" aufscheint.
Wenn wir von achemen "Milch" (MLC, IV, § 249)
ausgehen statt von ahemon, so könnten wir berberisch a u,
ax etc. "Milch" anführen, wie auch R. Basset (kanarisch
aho, MLC, IV, § 246), aber dann müssen wir das Element
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"-men" erklären. Wölfel zögerte nicht, es als doppelte
Mehrzahlmarkierung aufzufassen, als eine Kombination von
"-m-" und "-en". Ich bin da sehr skeptisch, weil das Berberisch
nie das "-m-" für das Plural von Hauptwörtern
verwendet. Ob wir also ahemen mit "Wasser" oder mit
"Milch" übersetzen, auf jeden Fall hilft uns das Berberische
nur teilweise weiter. Es bietet Andeutungen, aber
niemals komplette Vergleichsmöglichkeiten.
Dies kann auch von haran "Farnwurzel" ("Brot" bei
Torriani) gesagt werden, wenn auch auf andere Weise. Im
Kanarischen erscheint das Wort auch als aran (MLC, IV, §
240, 241) und erinnert an das berberische am "Mehl", eine
Variante von awrn, agg w ren usw. Eine Lösung wäre das
"h" als einen Reflex von "w" anzusehen: Wölfel ist auf
denselben Weg, wenn er berberisch (Ghadames) af'aren
(besser: abern) "Mehl" und lat. farina ansetzt. Aber er
denkt eher an ein Substrat als an eine direkte Beziehung
zwischen Kanarisch und Berberisch. Man könnte natürlich
auch an eine Beeinflussung des haran durch das spanische
harina denken; eine Möglichkeit, die Wölfel nicht in Betracht
zieht.
5.- Trotz der Schwierigkeit und Unsicherheit bietet
der vergleich von ahemen und haran die Möglichkeit, auf
interessante Weise andere kanarische und berberische Wörter
zu untersuchen. Dies ist anregend, wenn schon nicht
voll zufriedenstellend. Leider wurde offenbar noch kein
anderes Element der beiden Endechas, soviel mir bekannt
ist, zufriedenstellend herangezogen. Wölfel besass sicherlich
einen gesunden kritischen Sinn, wenn er schrieb "die
an sich recht fraglichen 'berberischen' Etymologien Berthelots"
(MLC, IV, § 32). Dennoch unterlag auch er zu
leicht der Versuchung, hinter jedem Wort der Gedichte
Berberworte zu sehen.
Gedicht I, 1: aititu - Wölfel meinte, es handle sich
um die kanarische Wortbildung für "diese Leute" (ait =
Leute, -tu = diese). Hier denkt Wölf el (Torriani, S. 252)
an das berberische ayt- "Leute von", "Söhne von". Aber
nirgends im Berberischen wird ayt- ohne ein folgendes
zweites Hauptwort gebraucht, das es ergänzt, Schilha ayt-
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ugadir, "die Leute von Agadir", Tuareg ayt-ed 9 m, "die
Söhne Adams", "Menschen" usw. Was das angebliche Hinweis-
Element -tu betrifft, so hat es nichts mit Berberisch
zu tun.
Gedicht I, 3: neiga ist nach Wölfel mit dem berberischen
nr "töten" verbunden und wird daher in der Torriani-
Übersetzung durch "sie werden töten" repräsentiert.
Nichts spricht dagegen, dass der Laut r (arabisch l ) mit
dem buchstaben "g" wiedergegeben wird. Aber das Zeitwort
n hat nie einen Vokal zwischen den beiden Wurzelkonsonanten
in der Aorist-Zeit oder im Perfektum. Im
Berberischen würde das "sie werden töten" etwa durch
(ad)nrin wiedergegeben werden, und nichts entspräche dem
"-ei-" in neiga. Wo wäre überdies das Kennzeichen für
die 3. Person Mehrzahl in diesem Wort ("-n" in "nfyin")?
Gedicht II, 2: aten wird von Wölfel mit dem berberischen
"t-adan-t" "Fett" verglichen. Er argumentiert, dass
im Kanarischen oft die Variation vom stimmhaften "d"
zum stimmlosen "d" vorkommt. Ich weiss nicht, worauf
sich das bezieht, aber es ist nicht überzeugend und kann
auch nicht erklären, weshalb Torriani nicht irgendein Wort
gebraucht, das in der Übersetzung "Fett" bedeutet.
Noch frustrierender ist die Unmöglichkeit, irgendwelche
Annäherungen an berberische persönliche Fürworte,
Vorworte der hinweisenden Fürworte zu entdecken, die für
diese Sprache so charakteristisch sind und mit wenigen
Ausnahmen eine starke Einheit in allen Dialekten bilden.
Das einzige Beispiel, das angeführt werden könnte, ist
"maica" (1, 2): Wenn Wölfel es richtig übersetzt, dann ist
in "unsere Mutter" das "-ca" der Personalaffix, "(die
Mutter) von uns". Vgl. "matnr" "unsere Mutter", worin
das "nr" der Affix ist. Doch wenn dies zutrifft, müssen
wir uns damit abfinden, dass dieses Mal das "r" mit "c"
und nicht mit "g" wiedergegeben wird.
Keines der geläufigen hinweisenden Fürworte des Berberischen
erscheint wörtlich in den Formen der Gedichte.
Es stimmt, Wölfel vergleicht "-na" in "mimerahana" (II,
1) mit dem berberischen "-n" (3. Person, Mehrzahl, männlich),
aber dafür muss er nochmals das "h" als "Hiatustil-
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ger" auffassen - ein Phänomen, das im Berberischen, zwischen
dem Stamm und dem Fürwort unbekannt ist. Weiters
muss Wölfel einen Irrtum im Rest der Zeile annehmen,
die "zinu zinuha" statt "zinuzinuhana" lautet ( wenn
aber die Korrektur zutrifft, zerstört sie die Assonananz
"-u-a".
Die Zeile ist in der Tat weit davon entfernt, klar zu
sein. Die italienische Übersetzung lautet: Qua ne menano,
qua ne conducano. Ich bin Herrn A. Orsini dafür dankbar,
dass er mich auf folgendes hinwies: die unerwartete Subjuntivform
"conducano" könnte für "conducono" (Indikativ)
stehen, und das "ne" für "uns" (ohne speziellen Bezugspunkt),
wie dies im 16. Jahrhundert oft der Fall war.
Entspricht das italienische "ne" wirklich einem Element
im kanarischen Text, und wenn, dann welchem? Wölfel
diskutiert diesen Punkt nicht.
6.- Insgesamt wirft das Berberische nicht viel Licht
auf unsere Gedichte. Heisst dies, dass Wölf el den falschen
Weg einschlug und kanarische Studien nichts mit dem Berberischen
zu tun haben? Gewiss nicht. Offenbar können
sechs kurze Zeilen - von zwei verschiedenen Inseln - keinen
vollen Einblick in das Problem ermöglichen. Nur zwei
oder drei Wörter wurden gefunden, die einige Beziehung
zum Berberischen haben; aber in der MLC sammelte Wölfe}
viele andere Beispiele, die dem Berberologen vertraut
vorkommen:
"chamato" "Frau" (vgl. Berber "tamttut";
"azuquahe" "rot" ( vgl. azgg w a );
"tahatan" "Schaf" ( vgl. "tattn, tihattin")
K. G. Prasse steht in seiner erwähnten Rezension solchen
Vergleichen eher skeptisch gegenüber und nennt sie
"geniale Einfälle". Ich werfe ihm diese Warnung nicht vor,
und jene Worte erfordern sorgfältige Forschung. Aber in
der Forschung liegt die Hoffnung, etwa zu finden.
Was Wölfels Einstellung betrifft, so sahen wir sie
zwischen der in der linguistischen Forschung nötigen Vorsicht
und dem Wunsch schwanken, seine Theorie über die
Megalithkultur zu demonstrieren. Es wäre jedoch unfair,
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wollten wir dabei vergessen, dass dieses Werk unvollendet
blieb. Dank Alois Closs und allen, die daran mitgewirkt
haben, liegen die "Monumenta Linguae Canariae" vor.
Wenn das Buch nicht mehr wäre als bloss eine Sammlung
von kanarischem Material, so wäre es bereits ein unschätzbar
wertvolles Forschungswerkzeug, wie die Rezensenten
betont haben (vgl. K. G. Prasse, siehe oben, und J.
Bynon, Bulletin of the School of Oriental and African
Studies, London, 30, 1967, 4 49-450). Aber es ist mehr
daran. Eine sorgfältige Prüfung zeigt, dass Wölfel beabsichtigte,
die Arbeit für andere als Vergleichsbasis vorzubereiten
- wenn er dies auch noch nicht gleich durchführte
-, indem er nicht nur kanarisches, sondern auch berberisches
Material verarbeiten wollte: man sehe etwa die
Wortliste für "Kopf" (MLC, IV, § 58) oder für "Schaf",
"Ziege" (MLC, IV, § 180) usw.
Im Laufe der Jahre wurde Wölfel vorsichtiger und,
wie ich meine, besser informiert. Einige irreführenden Argumente
in der Torriani-Ausgabe von 1940 ( wo z. B. das
" -a" in "neiga" als 3. Person-Einzahl-Fürwort galt) wurden
in der MLC fallengelassen. überdies hat er als aufrichtiger
Gelehrter niemals versäumt, darauf hinzuweisen,
wenn es ihm nicht gelungen war, ein Problem zu lösen -
so z. B. nach dem erfolglosen Studium von Gedicht I,
wenn er schreibt, dass er verstehen kann, weshalb Zyhlarz
dachte, das Kanarische habe mit dem Berberischen nichts
zu tun (MLC, IV, § 14 ).
Zu Beginn dieses Vortrages wies ich auf Wölfels komplexe
und sogar widerspruchsvolle Persönlichkeit hin. Theorie
und Dogmatismus mögen ihn beeinflusst haben, aber
beeinträchtigten nie vernünftige Erwägungen oder den Respekt
vor Fakten. Deshalb schrieb er, nachdem er die
Skepsis von Zyhlarz erwähnt hatte, das realistische Abschlussurteil:
"Mit dem heutigen Festlands-Berberisch hat
das Kanarische allerdings nicht die Übereinstimmung einer
blossen Mundart." Ich selbst kann keine bessere Folgerung
ziehen.
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