mdC
|
pequeño (250x250 max)
mediano (500x500 max)
grande
Extra Large
grande ( > 500x500)
Alta resolución
|
|
ALMOGAREN 46-47/2015-2016MM3 ICDIGITAL Separata 46-47/1 ALMOGAREN 46-47/2015-2016 IC 4MMALMOGAREN 46-47/2015-2016 ICDIGITAL Eine PDF-Serie des Institutum Canarium herausgegeben von Hans-Joachim Ulbrich Technische Hinweise für den Leser: Die vorliegende Datei ist die digitale Version eines im Jahrbuch "Almogaren" ge-druckten Aufsatzes. Aus technischen Gründen konnte – nur bei Aufsätzen vor 1990 – der originale Zeilenfall nicht beibehalten werden. Das bedeutet, dass Zeilen-nummern hier nicht unbedingt jenen im Original entsprechen. Nach wie vor un-verändert ist jedoch der Text pro Seite, so dass Zitate von Textstellen in der ge-druckten wie in der digitalen Version identisch sind, d.h. gleiche Seitenzahlen (Pa-ginierung) aufweisen. Der im Aufsatzkopf erwähnte Erscheinungsort kann vom Sitz der Gesellschaft abweichen, wenn die Publikation nicht im Selbstverlag er-schienen ist (z.B. Vereinssitz = Hallein, Verlagsort = Graz wie bei Almogaren III). Die deutsche Rechtschreibung wurde – mit Ausnahme von Literaturzitaten – den aktuellen Regeln angepasst. Englischsprachige Keywords wurden zum Teil nach-träglich ergänzt. PDF-Dokumente des IC lassen sich mit dem kostenlosen Adobe Acrobat Reader (Version 7.0 oder höher) lesen. Für den Inhalt der Aufsätze sind allein die Autoren verantwortlich. Dunkelrot gefärbter Text kennzeichnet spätere Einfügungen der Redaktion. Alle Vervielfältigungs- und Medien-Rechte dieses Beitrags liegen beim Institutum Canarium Hauslabgasse 31/6 A-1050 Wien IC-Separata werden für den privaten bzw. wissenschaftlichen Bereich kostenlos zur Verfügung gestellt. Digitale oder gedruckte Kopien von diesen PDFs herzu-stellen und gegen Gebühr zu verbreiten, ist jedoch strengstens untersagt und be-deutet eine schwerwiegende Verletzung der Urheberrechte. Weitere Informationen und Kontaktmöglichkeiten: institutum-canarium.org almogaren.org Abbildung Titelseite: Original-Umschlag des gedruckten Jahrbuches. Institutum Canarium 1969-2016 für alle seine Logos, Services und Internetinhalte ALMOGAREN 46-47/ 2015-2016MM5 Inhaltsverzeichnis (der kompletten Print-Version) Franz Trost Erzählungen der Twareg am nächtlichen Lagerfeuer ................................ 7 Alain Rodrigue, Francis Auvray, Jean-Pierre Levallois & Mado Villet New rock engravings at Imaoun (Morocco) .................................................. 45 Enrique Gozalbes Cravioto & Helena Gozalbes García Nuevos datos sobre el círculo megalítico de Mezora (Marruecos) ................ 55 Hans-Joachim Ulbrich Script mixing on ancient Fuerteventura and Lanzarote ................................ 69 Andoni Sáenz de Buruaga & Mark Milburn Documentation of burial practices around the Tingefuf E-1 goulet (Dougaj, West Sahara) .................................................. 87 Pablo Martín-Ramos, Jesús Martín-Gil, María del Carmen Ramos-Sánchez, María Teresa Periáñez-Ramos & Francisco Javier Martín-Gil Sobre las puntas de flecha procedentes del noroeste del Sáhara (especialmente, aterienses y neolíticas) ..................................... 101 Marcos Sarmiento Pérez Las investigaciones de Richard Greeff en Lanzarote en 1866-1867 ............ 113 Susan Searight-Martinet Nomenclature of engravings of axes in Moroccan protohistoric rock art .....131 Hans-Joachim Ulbrich Canarian "pyramids" revisited – are they pre-Hispanic or recent? .............. 139 Georgia Lee, Paul Horley, Paul Bahn, Sonia Haoa Cardinali, Lilian González Nualart & Ninoska Cuadros Hucke Secondary applications of rock art at coastal sites of Easter Island (Rapa Nui) ........................................................................ 157 Hartwig-E. Steiner Eine Kult-Höhle auf der Osterinsel am Kratersee ›Rano Aroi / Rapa Nui, Polynesien ...................................... 211 • 6MMALMOGAREN 46-47/2015-2016 Trost, Franz (2016): Erzählungen der Twareg am nächtlichen Lagerfeuer.- Almogaren 46-47/2015-2016 (Institutum Canarium), Wien, 7-44 Zitieren Sie bitte diesen Aufsatz folgendermaßen / Please cite this article as follows: ALMOGAREN 46-47/2015-2016MM7 Franz Trost Erzählungen der Twareg am nächtlichen Lagerfeuer Keywords: Sahara, Twareg, oral traditions, narratives, stories Zusammenfassung: Der vorliegende Artikel enthält mehrere Erzählungen eines vielseitig begabten, alten Nomadenvolkes, dessen Kultur und Existenz als ethnische Gruppe heute ernsthaft be-droht sind. Die Themen beschränken sich auf den natürlichen Lebensraum, sie handeln von Liebe und Tod, von besonderen Ereignissen, von Geistern und Dämonen. Ergänzt wird der Artikel mit dem Versuch, diverse Termini und Definitionen aus dem Dialekt-bereich der Twareg in den Rahmen einer erklärenden Annäherung zu stellen. Abstract: This article shows narratives of an old, very gifted, nomadic people, whose culture and existence as an ethnical group is seriously threatened today. The topics are bound to their natural environment, telling from love and death, of special occurences, of ghosts and demons. The article is completed with the attempt to bring together the terms and definitions of the twareg dialectical peculiarities with the adequate german expressions. Résumé: L'article présent contient plusieurs contes d'un ancien peuple nomade, amplement doué, dont la culture et l'existence en tant que groupe ethnique sont gravement menacées. Les sujets se limitent à son terrain habituel; il s'y agit d'amour et de la mort, d'événements spéciaux, d'esprits et de démons. Pour compléter l'article j'ai essayé de mettre nombre de termes et de définitions du domaine dialecte des Touareg dans un cadre de rapprochement interprétable. Die Twareg besitzen ein beachtliches Repertoire an mündlichen Überliefe-rungen, die von einem extrem ausgebildeten Sinn für Poesie und Prosa zeu-gen. Verse zu zitieren und aus dem Stehgreif formen zu können, gehörte bis vor wenigen Jahren zum festen Bestandteil der Kindererziehung. Meistens waren es die auf der sozialen Rangstufenleiter oben stehenden Aristokraten, die sie praktizierten und aus diesen Schöpfungen die privilegierten Ausdrucks-formen der herrschenden Ethik machten. Mit der Dichtkunst eng verbunden ist die Sangeskunst. So war es (und ist es auch heute noch) für einen Mann wichtig, ein guter Sänger wie ein guter Krieger zu sein! Bei den Frauen ist im Allgemeinen das Liederrepertoire geringer entwickelt als bei den Männern, Almogaren 46-47 Wien 2016 7 - 44 8MMALMOGAREN 46-47/2015-2016 die bei jeder sich bietenden Gelegenheit ihre Singstimme erklingen lassen. Derlei Darbietungen werden vom Publikum stets gerne und aufmerksam ge-hört, wobei es weniger auf die Stimmqualität des Sängers (oder der Sängerin) ankommt und auch kaum auf eine reichhaltige Tonfülle geachtet wird, son-dern viel mehr auf den Text, der zu wiederholten Begeisterungsrufen veran-lassen kann. Für das persönliche Ansehen ebenso von Bedeutung ist es, über umfangrei-che Kenntnisse in Bezug auf Geschichten, Erzählungen, Anekdoten und Fa-beln zu verfügen – ein literarisches Genre, das mit dem Namen taneqqist, pl. tineqqas, bezeichnet wird. Meistens besitzen die Schilderungen und Berichte einen fiktiven, oft belehrenden Inhalt, sie sind humoristisch gefärbt oder kön-nen in Gleichnisform (z.B. bei den Tierfabeln) auftreten. Auch gehören dieser Gattung das Gerede (zum Nachteil anderer), das Geschwätz und der Klatsch an. Ein anderer Begriff lautet tanfust, pl. tinfusin, der (vor allem bei den Kel- Ahaggar und Kel-Adrar) für eine Heldentat oder kriegerische Glanzleistung, im Allgemeinen aber meist für eine historische Erzählung (einer tatsächlichen, länger vergangenen Begebenheit) in Verwendung steht. Der Wechsel zwischen den Themen ist dabei fließend und an keine fixe Regel gebunden. Der Vortra-gende kann wählen, er kann weglassen oder erweitern und alles nach seiner seelischen Verfassung, seinen Sorgen, seinen Freuden, seinen Hoffnungen etc. zum Ausdruck bringen. Man braucht nur auf den Pisten in Begleitung eines verschleierten Targi zu gehen, um bald zu merken, wie sein Geist von der überwältigenden Atmosphäre der ihn umgebenden Landschaft beeinflusst wird. Es ist jedoch am nächtlichen Lagerfeuer, wenn sich alle um die züngeln-den Flammen versammeln, wo die Twareg am meisten ihre Vorliebe für die Erzählkunst, für die Musik und die Gesänge zum Ausdruck bringen. Mit die-sen Aktivitäten untrennbar verbunden sind die sog. ihallen, sg. ahal, "galante" Festversammlungen, die vor allem auf die jungen Menschen eine außeror-dentliche Anziehungskraft ausüben (s. Anm. 57). Durch neu entstandene Le-bensbedingungen sind diese Zusammenkünfte praktisch schon fast zur Gän-ze verschwunden und leben nur noch in der intimen Form des Hofierens wei-ter. Geblieben aber ist bis auf den heutigen Tag die hohe Zahl an mündlichen Überlieferungen, an Erzählungen und Legenden, in der sich die poetische Seele der Twareg prächtig entfalten kann. Es wird erzählt, dass in der mythischen Ur- und Schöpfungszeit der Stein noch "weich" war – ein symbolisches Bild, das die Fragilität und Plastizität jener Materialien illustriert, die zur Ausbildung der noch in den Anfängen steckenden und noch unentwickelten Gesellschaft dienten. Später härtete sich ALMOGAREN 46-47/ 2015-2016MM9 der Stein und es begann sich ein Wandel zu vollziehen, der – wie es heißt – "vom natürlichen Unterstand (Abri, Höhle) zum beweglichen Zelt, vom plum-pen Dialekt zur vollendeten Sprache, vom Kleintier zum Kamel, vom Heiden zum Muslim, ... führte". Man ahnt hier etwas von der Rechtfertigung der heu-tigen Twareg über die Zerschlagung der saharischen Ureinwohner. Diese werden Ijebbaren, sg. Ajebbar, genannt, ein Name, der auf die arabische Vo-kabel Jabbar mit der Wurzel j-b-r ( ) zurückgehen dürfte und "Wesen von gewaltiger Größe" und im erweiterten Sinn "starker Mann" bedeutet. Entspre-chend ihrem Körpermaß hinterließen diese Ijebbaren imposante Grabmonu-mente und Steinsetzungsformen wie auch eine unendlich hohe Zahl an Stein-artefakten, Felsbildern und Inschriften; letztere sind bereits mit der Tifina - Schrift verwandt, aber noch nicht ganz zu entziffern. Die Twareg anerkennen wohl die ungeheure Kraft und phänomenale Produktion ihrer legendären Vor-fahren, sehen aber in ihnen eher ungeschlachte, naive und friedliche Indivi-duen – Eigenschaften, die in einer Gesellschaft, die dem Raub und dem Krieg einen hohen Wert beimessen, nicht gerade lobenswert erscheinen. Auch wird ihnen die Ausübung von Götzendienst zugesagt, eine für die Twareg eher sym-patische Schwäche, über die sie sich abends in ihren Zelten lustig machen. In jener Zeit, als "der Stein sich härtete", kam ein kulturstiftender Urheros auf die Welt, der bei den SO-Twareg Amerolqis heißt. Gemäß dem Ursprungs-mythos (bes. dem der Kel-Nan) gilt er als der Erfinder der Sprache und des Tifina -Alphabetes, der Musik und des Geigeninstrumentes der Twareg. Amerolqis war der Besitzer des Wissens und der Klugheit wie auch ein großer Liebhaber der Frauen. Damals war der Koran noch nicht "herabgekommen" und der Name des weisen Helden dürfte auf den vorislamischen arabischen Dichter Amr-u-l-Qays zurückgehen. Bei den Kel-Ayr (bes. den Kel-Ferwan), Iwllemmeden Kel-Denneg und Kel- Geres wird der mythische Gründungsheros Aniguran (bei gewissen Iwlle-meden Aliguran) genannt, bei den Nord-Twareg trägt er den Namen Ama-mellen. Er gilt als Schöpfer der höfischen Literatur, der Kunst des Geigen-spielens und der Tifina -Schrift; auch werden ihm jene arteigenen Felsbilder zugesprochen, welche die charakteristischen Szenen des noch heute zu beob-achtenden Nomadenlebens zeigen. Mit ihm begann der Aufbruch in eine Epo-che der Klarheit, der Intelligenz und der Kreativität, die als Höhepunkt der Twareg-Kultur betrachtet wird. Von dieser Zeit zu erzählen ist Teil der Erzie-hung, die jedes Twareg-Kind im Schoße seiner Familie erhält. Um Amamellen/Aniguran verteilen sich verschiedene familiäre Rollen, die besonders durch seine Schwester, seinen Neffen mütterlicherseits und seinen eigenen Sohn verkörpert werden – eine Dreiheit, welche die Hauptprotago- 10MMALMOGAREN 46-47/2015-2016 nisten der Verwandtschaft veranschaulichen. Weitere Darsteller sind eine im Dienst der Familie stehende Sklavin mit ihrem Sohn, gelegentlich auch ein Handwerker (Schmied) und dessen Gattin. Der mit als Hauptakteur auftreten-de Schwestersohn (wörtl. agg-elet-ma: "Sohn der Tochter der Mutter") wird von den Nord-Twareg Elyas (Elias) und von den Kel-Ayr und einigen SO-Twareg Adelase genannt. Ein anderer, selten gebrauchter Name ist Batis, abgeleitet von aba ti-s: "sein Vater existiert nicht". Tatsächlich kommt sein Vater in den verschiedenen Versionen dieser Erzählungen nie vor und Elyas/ Adelase tritt immer als der Neffe mütterlicherseits von Amamellen/Aniguran auf – eine Situation, welche die Wichtigkeit der matrilinearen Verwandschaft bekräftigt, die jenseits von individuellen Strategien ihre Regeln erhält. In den Erzählungen erscheint der Neffe als der unvermeidliche und stets zu Späßen aufgelegte Partner seines Onkels mütterlicherseits (annet-ma), der ihn ver-geblich versucht auszuschalten oder gar zu töten. Elyas/Adelase verkörpert mithin eine mythische Idealfigur, die durch Intelligenz, List und Tüchtigkeit in der Lage ist, seinen Onkel (als klassifikatorischen Vater) vor allem auf dem Gebiet zu übertreffen, das er selbst in hohem Maß besitzt: die Intelligenz! Wenn auch der Onkel als maßgebende Autorität immer als Feind seines exis-tenziell gefährdeten Neffen figuriert, so erlauben andererseits dessen Wissen, ja Weisheit, ihn als vollwertig anzuerkennen und sich mit ihm gleich zu stel-len. Was hier dauernd vor Augen geführt wird, ist einerseits die Rivalität und andererseits die Verwandtschaft der beiden Protagonisten: beide besitzen in höchstem Grad Wissenseigenschaften, die sie von den anderen Personen un-terscheiden und beide gehören derselben weiblichen Kernfamilie (ebawel) an. Letzteres bedeutet im übertragenen Sinn, dass sie aus "demselben Zelt" her-vorgegangen sind und "dieselbe Milch" getrunken haben. Wenn daher in ei-ner Erzählung gleichzeitig Amamellens eigener Sohn und der uterine Neffe auftreten, so wird immer der Erstgenannte zu seinem Nachteil gezeigt, der hinsichtlich "Wissen" nie mit Elyas konkurrieren kann. Es bekräftigt dies die Tatsache, dass einem adligen Targi der Sohn seiner Schwester lieber ist als sein eigener (und seine Schwester ihm lieber ist als seine Gattin). Die über Amamellen/Aniguran und Elyas/Adelase verfassten Erzählun-gen, Parabeln, Rätsel und sprichwörtlichen Gedanken werden stets mit neuen Zusammenhängen bereichert und dem täglichen Leben der Twareg angepasst. Anschließend werden sieben Beispiele angeführt (Erzählung 1-7), die diesem Zyklus angehören. Thema I: Familie 1 Taneqqist-n-Amamellen d Elyas – Die Geschichte von Amamellen und Elyas Amamellen hatte eine Schwester, und sooft diese einen Knaben zur Welt ALMOGAREN 46-47/2015-2016MM11 brachte, tötete er diesen. Das ging bis zu jenem Tage, an dem sie zur gleichen Zeit wie ihre Sklavin niederkam. Die Schwester von Amamellen gab ihren Sohn der Sklavin und nahm deren Sohn mit sich. Sie vertauschte also die beiden Knaben. Amamellen kam, ergriff das Kind und tötete es. Der Sohn der freien Frau (1) blieb bei der Sklavin, er wuchs heran und wurde ein Mann (2); sein Name war Elyas. Amamellen wartete nur darauf, Elyas eine Falle zu stellen und ihn zu töten. Aber Elyas war schlauer als er, so dass dieser sein Vorhaben nicht ausführen konnte. Eines Tages wurde Elyas von großem Durst geplagt. Amamellen kannte die Wasserstelle auf dem Berg, gab aber deren Lage nicht bekannt. Immer wenn es Nacht wurde, ging Amamellen heimlich mit seinen Sklaven auf den Berg, um dort die Herden zu tränken und kehrte zurück, solange die Leute noch schliefen. Da der Boden des Berges aus glattem Fels (3) bestand, der keine Fußabdrücke hinterließ, griff Elyas zu einer List: Er bestrich die Sanda-len der Sklaven mit Fett (4), wartete den nächsten Morgen ab und folgte sodann ihren Spuren. Dort, wo die Sandalen den Fels berührt hatten, hinterließen sie gut sichtbare, fettige Abdrücke, die bis zum Wasser führten. Amamellen merkte das Treiben Elyas' und folgte ihm. In dem Moment, als sich Elyas über das Wasser beugte um zu trinken, sah er darin den Schatten von Amamellen, der gerade sein Schwert zog und im Begriff war, damit seinen Hals zu treffen. Rasch sprang er auf die andere Seite des Wassers und floh. Amamellen kehrte zu seinem Zelt zurück. Eines Tages ging er in ein gro-ßes Tal und machte dort mit den Füßen von toten Tieren Spuren von Kamelen (5), Ziegen, Schafen und Eseln. Auch setzte er drei alte Kamele (imuǧar) aus, von denen das eine einäugig, das andere krätzig (6) war und das dritte einen abgeschnittenen Schwanz hatte. Danach kehrte er wieder in sein Zelt zurück. Am folgenden Tag sprach er zu Elyas: "Geh doch in jenes Tal dort und berich-te uns, was du gesehen hast." Elyas ging in das Tal und als er zurückkam fragte ihn Amamellen: "Hast du das Tal besucht?" "Ja", antwortete Elyas, "ich habe es besucht." "Und was hast du gesehen? Gefällt es dir oder gefällt es dir nicht?" "Es gefällt mir, bloß es gibt in ihm die Fußspur (7) von toten Tieren und drei alten Kamelen, von denen eines einäugig ist, das andere krätzig und das dritte einen abgeschnittenen Schwanz hat." "Wie unterscheidest du die Fußspur eines lebenden von der eines toten Tie-res?" fragte ihn Amamellen. "Die Fußspur eines lebenden Tieres kommt auf sich selbst zurück [d.h. der Fuß wirft Sand hinter sich], während dies bei einem toten Tier nicht der Fall 12MMALMOGAREN 46-47/2015-2016 ist", antwortete Elyas. "Woran erkennst du, ob ein altes Kamel einäugig ist oder beide Augen hat?" fragte Amamellen weiter. "Das einäugige Kamel frisst gewöhnlich auf der Seite seines guten Auges an den Bäumen." "Und woran erkennst du den Unterschied zwischen jenem Kamel, das krät-zig ist und jenem, das es nicht ist?" "Jenes, das krätzig ist, schabt sich an allen Bäumen, denen es begegnet." "Und was lässt dich ein Kamel mit abgeschnittenem Schwanz von einem mit ganzem Schwanz unterscheiden?" "Wenn ein schwanzloses Kamel Kot auswirft, machen die Kotkugeln einen Haufen, während das andere sich seines Schwanzes bedient, um den Kot zu zerstreuen." Eines Tages ging Amamellen an einen Ort, wo er eine große Menge Gras (8) zusammentrug und es zu mehreren Haufen schichtete. Dann kehrte er zurück und sagte zu Elyas: "Morgen gehst du zu jenem Ort und bringst das Gras, das ich dort aufgehäuft habe." Nachdem er das zu ihm gesagt hatte, eilte er zu dem Ort zurück und ver-steckte sich in einem der Grashaufen. Er wartete auf Elyas, denn er beabsich-tigte ihn endlich zu töten. Elyas kam und sammelte das gesamte Gras bis auf einen Haufen ein, dem er sich nicht näherte. Seine Gefährten sagten zu ihm: "Du hast alle Grashaufen gesammelt, warum lässt du diesen da liegen?" Elyas antwortete: "Dieser atmet [d.h. er bewegt sich mit Amamellens Atem] und die anderen nicht." Als Amamellen das hörte, stand er auf, nahm seine Lanze und warf sie auf Elyas, doch er verfehlte ihn. So rief er: "Gehe, ich verneige mich vor dir, Sohn meiner Schwester, den sie geboren hat und einer Sklavin unterschob!" 2 Ansicht gegen Einsicht Das folgende Lehrstück besitzt bei den Kel-Ahaggar bereits sprichwörtli-chen Charakter. a. Amamellen spricht zu Elyas: "Es ist eine Dummheit, wenn ein Mann seine Tochter einkleidet." Elyas spricht zu Amamellen: "Das ist keine Dummheit. Sie vergrößert dort die Schar (den Bestand) von Kindern." b. Variante: "Es ist unsinnig, seine Tochter in eine so arme Familie zu ver-heiraten, dass man selbst nach ihrer Hochzeit genötigt ist, sie zu kleiden." Elyas antwortete: "Das hat wenig zu bedeuten; durch ihre Kinder vergrö-ßert sie doch die Familie." ALMOGAREN 46-47/ 2015-2016MM13 3 Die Wahl des Schwiegersohnes Aniguran hatte eine Tochter, die von zwei Männern geliebt und begehrt wurde. Eines Tages sagte er zu ihnen, dass er sie erst auf die Probe stellen müsse, um zu erfahren, welcher intelligent genug sei, um sein Schwiegersohn zu werden. Er gab den Auftrag, Lastsäcke (9) zu bringen, schlachtete sodann eine Ziege und ließ die Kamele beladen. Dann sprach er zu einem der Anwär-ter: "Steig auf dein Reittier, wir werden gemeinsam eine Tour durch die Wüs-te (10) unternehmen." Sie bestiegen ihre Tiere und ritten in die große, flache Wüste hinaus (11). Sie ritten und ritten bis die Sonne heiß über ihnen stand. Da sagte Aniguran: "Man muss daran denken, der Wüste ihren Teil zu geben." Der andere hieb der Ziege ein Bein (12) ab und warf es auf den Boden. Es wurde spät und sie kehrten zu ihren Zelten zurück, um sich schlafen zu legen. In der Morgendämmerung schnitt Aniguran einer weiteren Ziege die Kehle durch, ließ wieder die Lastsäcke und die Kamele bringen und sagte zu dem anderen Mann: "Komm, wir reiten zusammen in die Wüste hinaus, heute ist es deine Tour." Sie ritten und ritten bis die Sonne heiß über ihnen stand, dann sprach er: "Man muss daran denken, der Wüste ihren Teil zu geben." Sein Begleiter führte sein Kamel neben das von Aniguran und begann mit ihm zu plaudern: "Wir haben das Jahr so und so verbracht, wir haben diese und jene Reise unternommen, wir haben da und dort einen Plünderungszug unternommen, ..." So redete und redete er bis sie in der Dämmerung wieder in ihr Zeltlager zurückkamen. Dort fragte ihn Aniguran: "Was hast du der Wüste als ihren Teil gegeben?" Der andere antwortete: "Der Teil der Wüste ist doch das Gespräch! Nun haben wir sie durchquert und gar nicht bemerkt, wie die Zeit verging; wir haben die Beschwerlichkeit der Reise nicht gespürt." Bevor sie sich niederleg-ten, sprach Aniguran zu ihm: "Nimm das Fleisch heraus." Dieser griff in den Sack und nahm die ganze Ziege hervor. Aniguran gab seine Tochter dem, der mit seiner Intelligenz gewonnen hatte. 4 Aniguran versucht, seinen Neffen zu töten Aniguran dachte, wenn er seinen Neffen aus dem Wege schaffen würde, so müsse er es mit Verstand tun, wie alles, was er unternahm. Er rief ihn also und sprach zu ihm: "Lieber Neffe, ich habe in letzter Zeit viel nachgedacht. Ich konnte sehen, dass du nun ein intelligenter und listenreicher junger Mann geworden bist, und ich verschweige dir nicht, dass ich mir diese Gaben für meinen unwissenden Sohn gewünscht hätte. Ich gestehe dir, dass ich auf dei- 14MMALMOGAREN 46-47/2015-2016 ne Intelligenz eifersüchtig war, aber ich habe nachgedacht: Wo ist der Unter-schied? Wenn ich dem glaube, was mich unsere Ahnen gelehrt haben, so bist du mein Sohn, denn der andere ist wirklich zu dumm, als dass ich schwören könnte, er sei der meinige. So habe ich beschlossen, aus dir einen Mann zu machen: Ich gebe dir die Aufsicht über unsere beste Schafherde. Bring dich aber bei dieser Arbeit nicht um. Wenn die Sonne hoch steht, such dir die Küh-le des Schattens und schlaf einen Augenblick; du wirst es dir wohl verdient haben." Adelase , der die Hartnäckigkeit seines Onkels kannte, war von diesem plötzlichen Zeichen der Zuneigung erstaunt und beschloss, mehr denn je auf der Hut zu sein. Als er sich nun schon einen guten Monat um die Schafe gekümmert hatte, bemerkte er, dass ihm jemand ständig folgte, wovon er aber niemandem ein Wort sagte. Eines Tages ging er wieder auf die Weide und nahm dieses Mal eine Decke (13) mit. Gegen Mittag, als die Sonne am höchsten stand, wählte er einen schönen Schattenplatz, legte dort die "Königin" der Schafe (14) hin, fes-selte sie und kletterte dann über ihr in die Äste eines Baumes. Das Schaf lag gut unter der Decke verborgen und sah einem schlafenden Mann täuschend ähnlich. Einen Augenblick später sprang Aniguran aus dem Dickicht hervor und bohrte seine Lanze in die schlafende Form. Da brach oben in dem Baume sein Neffe in großes Gelächter aus. Aniguran verbarg sein Erstaunen und sei-ne Enttäuschung und suchte nach einer Ausrede, indem er sagte: "Großer Gott (15), ich danke dir! Und ich dachte, dass mein Neffe von dem Tier verschlun-gen worden sei, das da unter der Decke ist... Wie bin ich froh! Komm an mei-ne Brust, dass ich dich umarmen kann, mein Sohn!" Jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, kehrten sie gemeinsam zu ihren Zelten zurück: für Aniguran war es nur eine aufgeschobene Sache. Was Adelase betraf, so versprach er sich, in Zukunft doppelt vorsichtig zu sein. 5 Der zweite Versuch Adelase zu beseitigen Da der erste Versuch fehlgeschlagen war, dachte nun Aniguran einen Un-fall vorzutäuschen. Er bat Adelase , ihn auf einer Reise zu begleiten, die meh-rere Tage dauern würde. Für ihren Proviant ließ er einen mittelgroßen Proviantsack (16) bringen, den er mit ziemlich fettem und gut getrocknetem Fleisch füllte. Die Reise versprach demnach angenehm zu werden. Als Wasser-vorrat nahmen sie nur einen Schlauch (17) mit und zogen sodann zu Fuß ne-ben ihren Kamelen los. Die von ihnen benutzte Route war sehr strapaziös und führte durch hohe Berge. Unterwegs hörte der Onkel nicht auf, seinem Neffen zu wiederholen, dass man Wasser sparen müsse, denn die kommenden Tage ALMOGAREN 46-47/2015-2016MM15 würden noch mühsamer werden. So marschierten sie noch zwei weitere Tage und erreichten schließlich ein kleines, tief in der felsigen Berglandschaft lie-gendes Tal. Dort erklärte Aniguran, dass er sich mit Nomaden treffen müsse, die ihm einige Kamele schuldeten. Er vertraute seinem Neffen auch an, dass sie zu früh gekommen waren und wahrscheinlich zwei oder drei Tage auf die Nomaden warten müssten. Es liege also im eigenen Interesse bis dahin mit dem wenigen verfügbaren Wasser auszukommen. Aber die aus Trockenfleisch bestehende Nahrung verursachte Durst und die kostbare Flüssigkeit begann bald zu fehlen. "Es gibt kein Wasser in der Umgebung", verkündete Aniguran, "du musst also Durchhaltevermögen und Entschlossenheit beweisen, denn wir werden erst trinken, wenn die Nomaden eintreffen. Bis dahin wünsche ich dir mann-haft zu sein, denn ich kenne dich und bin überzeugt, dass du mir bald mit dem Gejammer eines Schwächlings in den Ohren liegen wirst." Adelase hatte keine Wahl und musste resignieren, denn ohne Wasser in sein Zeltlager zurück zu kehren, kam nicht in Frage. Am Morgen erklärte Aniguran seinem Neffen, dass er gegen Mittag auf den Berg steigen werde, um zu schauen, ob er die Nomaden in der Ferne erblicken könne. Bevor er ging, fügte er noch hinzu: "Höre, mein Sohn, es ist in deinem Interesse, gut im Schatten zu bleiben. Denn ich sehe, dass du bereits unter Durst leidest, und ich möchte nicht deinen Tod auf dem Gewissen haben. Bleib also hier, wäh-rend ich mich allein hinauf begebe." Aniguran kam erst zu später Nachmittagsstunde zurück. Adelase litt in-zwischen ernstlich an Durst. Er sah, dass sein Onkel bestens aussah, und die Art, mit der er sich mit dem Fleisch bediente, weckte seinen Argwohn. Es kam ihm der Gedanke, dass sein Onkel einen geheimen Ort kennen müsse, wo er den Durst stillen konnte und dass er beschlossen hatte, ihn verdursten zu lassen. Viel später in der Nacht versicherte sich Adelase , dass sein Onkel fest schlief und öffnete den Proviantsack. Er nahm Fett heraus, holte dann die Sandalen seines Onkels und beschmierte deren Sohlen mit einer dicken wohl-riechenden Schicht. Am Morgen zog Aniguran wie gewohnt seine Sandalen an, ohne etwas zu bemerken und ging auf den Berg, denn das am Abend ver-speiste Fleisch hatte ihn durstig gemacht. Nachdem er sich ausgiebig erfrischt hatte, verließ er die Quelle und stieg wieder zum Lager hinunter. Ihm auf den Berg zu folgen war für Adelase ein Kinderspiel, denn beim Gehen hatten die Sandalen Fettspuren hinterlassen, die sämtliche Ameisen der Gegend anzo-gen. So kam er an jene Stelle, wo sein Onkel nahe einer grünen Euphorbia (18) den Durst gelöscht hatte. Adelase trank ebenfalls recht ausgiebig, schnitt 16MMALMOGAREN 46-47/2015-2016 sodann die Euphorbia ab, welche der Orientierungspunkt für seinen Onkel war, und ersetzte sie durch ein anderes Wegzeichen. Als er wieder im Lager war, fragte ihn sein Onkel, woher er komme. "Ich ging, um mich im kühlen Schatten einer Akazie niederzulegen. Aber hast du dort oben die Nomaden kommen sehen?" "Nein", antwortete Aniguran, "übrigens habe ich mich mit dem Datum der Verabredung geirrt. Sie kommen erst am Sonntag und heute ist erst Mittwoch Abend." Am nächsten Morgen ging Aniguran wie jeden Tag auf den Berg und such-te die Quelle in allen Richtungen, konnte sie aber ohne den gewohnten Orientierungspunkt nicht finden und folglich auch seinen Durst nicht löschen. Müde und durstig stieg er wieder zum Lager hinunter, während sein Neffe heimlich seinen Durst gestillt hatte. Am Abend fand Adelase seinen Onkel erschöpft von Ermüdung und Durst. Er öffnete den Proviantsack und zog einige Fleischstücke heraus, die er zu essen begann. Dann sagte er zu seinem Gefährten: "Lieber Onkel, ich finde diesen Platz sehr schön und ich würde unseren Aufenthalt in diesem Paradies gerne verlängern. Im Übrigen sind unsere Nomadenfreunde unberechenbar und wir müssen sicher noch länger auf sie warten als vorhergesehen." Dann stimmte er ein Loblied auf das herrliche Tal an. Aneguran begriff, dass er seinem Neffen ausgeliefert war, der nun als Einziger die Wasserstelle finden konnte. Er trat also wieder den Rückzug an und versuchte sein Verhal-ten zu erklären: "Höre, mein Sohn, ich weiß, dass du hinter das Geheimnis gekommen bist. Aber glaube mir, dies alles habe ich nur getan, damit du ein Mann (19) wirst und um dich zu lehren, Durst und Müdigkeit zu ertragen sowie um deine Intelligenz in den verzweifeltsten Momenten zu stimulieren! Du hast auf meine Prüfung positiv reagiert und ich bin stolz auf dich! Füllen wir jetzt unseren Wasserschlauch und kehren heim." Aniguran gibt seiner Familie zwei Rätsel auf: 6 Wie trinkt man die Milch? Es kam der Tag, an dem Aniguran beschloss, für einige Zeit zu verreisen. Er versammelte seine Familie um sich und sprach: "Seht diesen Schlauch aus Ziegenleder (20). Ich habe die Öffnung mit einem Knoten verschlossen, der sehr kompliziert ist und den ich mir selbst ausgedacht habe (21). Ich werde jetzt weggehen. Wenn ihr wollt, nehmt alle Milch daraus, aber macht meinen Knoten nicht auf!" Da Aniguran nicht so schnell zurückkehrte, fand Adelase die Familie sehr hungrig um den zugeschnürten Schlauch versammelt. Niemand hatte den Befehl Anigurans zu missachten gewagt und niemand hatte die Lösung des ALMOGAREN 46-47/2015-2016MM17 Problems gefunden. Adelase dachte einige Augenblicke nach, dann nahm er den Schlauch und öffnete ihn vor der verblüfften Familie am Verschluss des Anus. Das ist eine Stelle, an die niemand denkt, denn man näht sie bei der Herstellung des Behälters ein für alle Mal fest zu (22). Adelase verteilte die ganze Milch, füllte danach den Schlauch mit Luft und machte die Anusöffnung wieder zu, ohne jenen Knoten berührt zu haben, den Aniguran am anderen Ende gefertigt hatte. Nach seiner Rückkehr begab sich dieser mit einem zu-friedenen Lächeln auf den Lippen zum Milchbehälter, denn die Luft, welche Adelase hineingepumt hatte, vermittelte den Anschein, als sei er noch ge-füllt. Als er jedoch den Schlauch betastete, um den Inhalt zu prüfen, musste er feststellen, dass er vor seiner ganzen Familie lächerlich gemacht worden war. Er warf seinem Neffen einen wütenden Blick zu, der für die Zukunft nichts Gutes bedeuten konnte. 7 Wie tötet man den Bock und hält ihn doch am Leben? Am nächsten Morgen stand Aniguran ganz fröhlich auf, denn er hatte sich ein noch schwierigeres Rätsel ausgedacht und meinte, dass niemand, auch nicht sein Neffe, diesmal die Lösung finden würde. Er trank genussvoll seine Milch und machte sich freudig fertig. Bevor er seine Kamele holen ging, rief er nochmals seine Frau, wie er es jeden Morgen gewohnt war, wenn er ihr seine Anordnungen für den Tag gab: "Höre, Frau, siehst du den jungen Bock (23), der dort an dem Pflock (24) gebunden ist? Wenn ich zurückkomme, möchte ich ihn tot und kochend in diesem Topf (25) vorfinden, aber auch le-bendig beim Weiden auf dem frischen Gras, das du dort drüben siehst." Die arme Frau war sehr verlegen, denn sie wusste nicht, wie sie es anstel-len sollte, den Bock gleichzeitig zu töten und weidend am Leben zu erhalten. Adelase kam ihr zu Hilfe, dachte einen Augenblick nach und riet ihr Folgen-des: "Nimm dein Messer, schneide dem Bock die Hoden ab und gib sie in den Topf zum Kochen. Verarzte dann den Bock und binde ihn dort beim Gras fest. Genetisch ist der Bock tot, weil er sich nicht mehr fortpflanzen kann und mein Onkel findet ihn sowohl kochend wie auch weidend vor." Bei seiner Rückkehr fand Aniguran sein Rätsel neuerlich gelöst. Er bekam eine große Wut auf seinen Neffen und schwor, sich irgendwann zu rächen. Thema II: Liebe und Zuneigung Eine sehr beliebte und häufig vorgetragene Erzählung ist jene über die gro-ße und treue Liebe zwischen Wa-nnes und Ta-nnes (tera hund ta n Wa-nnes et Ta-nnes); sie entspricht ganz der sensiblen Seele der Twareg. Es gibt davon mehrere Versionen, von denen hier zwei wiedergegeben werden. 18MMALMOGAREN 46-47/2015-2016 8 Wa-nnes und Ta-nnes – Version 1 Zwei Männer aus den Ayr ließen am gleichen Tag ihren Heiratsantrag stel-len (26). Sie heirateten am gleichen Tag und richteten sich zur gleichen Zeit in ihrem Zelt ein; auch wohnten sie am gleichen Ort. Ihre Frauen wurden schwan-ger und blieben bis zur Niederkunft zusammen. Sie entbanden zur gleichen Zeit. Die eine bekam einen Jungen, die andere setzte ein Mädchen in die Welt. Man fragte sie: "Welchen Namen werdet ihr ihnen geben?" (27) Eine alte Frau (28) sagte: "Nennt den Jungen Wa-nnes ('der Ihre') und das Mädchen Ta-nnes ('die Seine'). Wenn der Junge ein Mann (ales) und das Mäd-chen eine Frau (tameÐ) sein wird, werden sie sich miteinander verheiraten. Das ist der Grund, warum ich ihnen die Namen Ta-nnes und Wa-nnes gebe." Sie wuchsen heran und Wa-nnes heiratete Ta-nnes. Sie liebten sich leiden-schaftlich (29) und konnten es nicht aushalten, von einander getrennt zu sein. 9 Wa-nnes und Ta-nnes – Version 2 Zwei Frauen hatten zwei Brüder geheiratet, die zu den besten Kamelreitern (30) zählten. Jede Frau bekam ein Kind: die erste einen Knaben namens Wa-nnes, die andere ein Mädchen namens Ta-nnes. Eines Tages nahmen die Männer an einem Kriegszug teil, von dem keiner lebend zurückkam. Die beiden Frauen zogen ihre Kinder Seite an Seite auf; so wuchsen sie heran. Als sie erwachsen waren, versuchten sie, sich nicht zu trennen und verliebten sich ineinander. Ta-nnes war wunderschön und wurde von mehreren Männern begehrt. Der Stamm (31) ihrer Mutter verlangte, dass sie einen der ihren nehme. Die beiden Mütter lehnten dies ab und hatten nur das Glück ihrer Kinder im Sinn. Wü-tend darüber, überfielen die Männer vom Stamm der Ta-nnes das Mädchen, als es mit den Kamelen zum Trinken am Brunnen weilte, während die Kame-le vom Stamm des Wa-nnes gerade von der Tränke weggezogen waren. Man fesselte das junge Mädchen an zwei Kamele. Das eine wurde bergan, das an-dere bergab getrieben, um es zu zerreißen. Aber Wa-nnes beeilte sich Hilfe zu leisten und seine überaus große Liebe ließ ein Wunder geschehen: Unter sei-ner Umarmung erholte sich Ta-nnes wieder vollständig und blieb am Leben. Die Moral dieser Geschichte: "Die Liebe ist stärker als der Tod!" (32) 10 Poesie über zwei Liebende Die Müdigkeit hat als Heilmittel den Schlaf. Die Liebe ist offenkundig, schmerzlich. Sie wächst wie die von Wa-nnes für Ta-nnes. Sie benagt das Fleisch, es bleibt nichts als Knochen übrig. ALMOGAREN 46-47/2015-2016MM19 11 Die Entführung Diese Erzählung ist im zentralen Saharagebiet gut bekannt. Es gibt davon mehrere Versionen, in denen der Held des Abenteuers bald diesem, bald je-nem Stamm angehört; auch enden sie unterschiedlich. Allen Fassungen ge-meinsam ist jedoch die seit ihrer Kindheit bestehende Verbundenheit der beiden jungen Hauptakteure. In einem Jahr, als wieder Dürre und Misswuchs die wenigen Gärten in den Anbauzentren (33) des Ahaggar heimgesucht hatten, sprach das Oberhaupt (34) zu seinen schweigsamen Männern: "Wir wollen einen Raubzug (35) ge-gen unsere Todfeinde, die Chaamba (36), unternehmen!" In den stummen Gesichtern leuchtete hinter den Gesichtsschleiern (37) sofort die Raublust auf. Alsbald zogen sie auf ihren schnellen Kamelen nordwärts und fielen wie eine Heuschreckenwolke auf die friedlichen Oasen nieder. Sie töteten viele der anwesenden Männer und trieben alles Vieh mit sich. Unter der Beute be-fand sich ein junges Chaamba-Mädchen; sie war schlank wie ein Olivenzweig (38). Als die Krieger um das glimmende Feuer saßen und ein betagter Targi sah, dass jeder das Mädchen für sich haben wollte, brach er das Schweigen und sprach: "Oh, ihr Krieger! Jeder von euch wäre imstande, mit seinem Gewehr (39) einen kleinen Vogel in der schwankenden Schirmkrone einer Akazie abzu-schießen. Eure starken Hände wissen das Schwert zu führen. Eine Handvoll Datteln und ein Schluck Milch genügen euch als Nahrung und Trank für ei-nen ganzen Tag. Ihr seid die gefürchteten Krieger des Ahaggar, der ganzen Wüste bis hin zu den großen Dünen (iǧidan) und bis in den Sudan (40). Wollt ihr in Streit geraten, weil jeder von euch das Mädchen begehrt, dessen Ge-sicht einem weißen Mond gleicht? Oh, ihr Krieger, wie wäre es, wenn unser Oberhaupt (= amenukal) sie zu seiner Frau machen würde, um so die Ursache jeder Zwietracht aus der Welt zu schaffen?" Die Krieger schwiegen zuerst betroffen. Sie stimmten zwar nicht mit ih-rem Herzen zu, nahmen aber doch den Vorschlag des vorausblickenden Alten an. So kam es, dass das Mädchen beim amenukal blieb und dieser sie zur Frau nahm. Im Lande der Chaamba aber, wo man mit unendlichem Fleiß die Gärten neu bewässert und neue Viehherden großgezogen hatte, war der Verlobte des Mädchens zurückgeblieben. Wie durch ein Wunder war er damals dem gro-ßen Gemetzel entgangen, als die Kel-Ahaggar ihren Raubzug unternahmen. Zu ihm sprachen die Chaamba: "Du bist ein schlechter Mann (41)! Deine Braut wurde weggeführt und du, du lebst noch! Bist du vielleicht verwundet, verstümmelt oder gebrechlich? 20MMALMOGAREN 46-47/2015-2016 Hast du kein Herz? Möchtest du nicht Frauenkleider anziehen, da du doch kein Krieger sein kannst oder willst?" Doch der Jüngling besaß das Herz eines Löwen, wenn er auch alle diese Kränkungen schweigend hinnahm. Er veräußerte in aller Stille seine Gärten, kaufte sich um den Erlös ein Kamel und einen Sattel und versorgte sich mit Proviant. Dann ritt er der Morgensonne entgegen. Nach langem Ritt durch die öde, lebensfeindliche Steinwüste (asrir) und durch die schwarzen Berge und Täler des Ahaggar erreichte er eines Tages das Lager eines Hirten. Er grüßte ihn höflich und fragte voll Neugier: "Kannst du mir eine sichere Nachricht über das entführte Mädchen meines Volkes geben?" "Ja, das kann ich", gab dieser bereitwillig zur Antwort, "sie ist bei uns und wurde die Frau des Königs (42)." "Ich gebe dir zehn imet alen (43), wenn du mich zu ihr bringst." "Ich werde dir Zutritt zu ihr verschaffen", versprach der Hirte. Als die Sonne im Begriff war unterzugehen, trieb der Hirte die Ziegen zum Zelt des amenukal, schlich heimlich näher und flüsterte der jungen Frau zu: "Ich bringe Nachricht aus deiner Heimat. Es ist einer der Deinigen, der dich sehen möchte. Aber ich weiß nicht das Verwandtschaftsverhältnis zwischen euch, ob es dein Bruder oder dein Mann ist." Sie aber fauchte ihn an: "Ich kenne niemand mehr aus meiner Heimat!" Am nächsten Morgen streifte der Chaambi einen Ring (44) von seinem Finger, gab ihn dem Hirten und sprach: "Bring diesen Ring zu ihr, sie kennt ihn gut." Wieder ging die Sonne unter und der Himmel wurde veilchenblau, als der Hirte sich in die Nähe der jungen Frau schlich, die gerade beim Ziegenmelken war. Er nahm den Ring aus seiner Tasche und warf ihn in ihre Milchschale (akus). Sie sah den Boten mit ihren dunklen Augen an, nahm den Ring heraus und wurde sehr nachdenklich. Als die Sonne ein drittes Mal hinter den dunkelroten Bergmauern des Ahaggar niedersank, ergriff der Chaambi einen scharfen Dolch. So bewaffnet schlich er zum Zelt der Frau. "Erkennst du mich?" fragte er sie leise. "Gewiss erkenne ich dich wieder," antwortete sie unterwürfig, "du bist mein Verlobter und mein Kreuzvetter (45)." Aber ihr Herz war nicht bei ihm, sondern beim amenukal des Ahaggar. Der Eindringling fragte weiter: "Warum wolltest du nicht mit mir kommen, als ich dir durch den Hirten die Botschaft sandte?" Sie konnte darauf keine Antwort geben. Er zog seinen Dolch aus der Leder-scheide, setzte ihn mit der Spitze an ihre Brust und befahl: "Komm! Wir ge- ALMOGAREN 46-47/2015-2016MM21 hen zusammen oder ich töte dich und schneide dir den Kopf ab!" "Nein", flehte sie, "töte mich nicht, lass uns gemeinsam fliehen!" Der Jüngling nahm sie bei der Hand und führte sie zu seinem Kamel, das schon zum Aufbruch bereit war. Schnell legte er den Sattel und das Gepäck auf, während der Hirte den Wasserschlauch (abayo ), den Behälter mit Milch (tanwart n-ah) und einen Mundvorrat aufpackte. Der Chaambi stieg auf das Tier und setzte die Frau hinter sich. Dann erhob sich das Kamel und trabte mit wiegendem Schritt (46) über den schwarzen Felsboden. So ritten sie mehrere Nächte und die folgenden Tage immer bis in die Mittagshitze hinein. Erst als das Kamel deutliche Zeichen von Ermüdung zeigte, gönnten sie sich eine Rast. Wenn auch die Beiden einen beträchtlichen Vorsprung haben mochten, ahnte der amenukal sofort alles, als er sein Zelt aufsuchte und es leer fand: Seine Frau konnte nur von einem Chaambi entführt worden sein. Im Sand sah er eine schlechte, verwehte Kamelspur nordwärts führen. "Mögen eure Väter sterben!" (47) schrie er und gab seinen Untergebenen den Befehl, sein Kamel zu satteln. Schwer bewaffnet mit Gewehr, Lanzen (alle und taǧanbat) (48), Schwert und Schild bestieg er das Tier. Ganz allein ritt er der untergehenden Sonne entgegen, allein wollte er den Frauenräuber zum Kampfe stellen. Indessen waren die Beiden an eine Stelle gelangt, wo spärliche Tamarisken-büsche in einer sandigen Senke sich vor dem glühenden Wind duckten. Vor-sichtig scharrte der Jüngling den Boden auf, indem er mit den Händen den feinen Sand beiseite schaffte und sich gewandt in das dunkle Wasserloch (49) hinunterließ. Das Kamel starrte indes gurgelnd und mit gierigen Augen auf den Tränktrog (50), wohinein die Frau das Wasser für das Kamel schüttete. Während des Schöpfens erblickte sie ganz in der Ferne einen Reiter und er-kannte das Kamel des amenukal. Sofort begann ihr Herz höher zu schlagen und sie leerte das Tränkwasser jeweils in den Sand. Aus dem Brunnen ertönte die Stimme des Chaambi: "Hat das Tier noch immer nicht genug bekommen?" "Nein", sagte die Frau mit Falschheit, "es ist durstig wie zuvor." Inzwischen sprengte der amenukal im Galopp heran und sprang vom Ka-mel, ehe sich dieses auf die schwieligen Knie fallen lassen konnte. Als der Chaambi hinaufsah, erblickte er die dunkle Gestalt des amenukal gegen den Himmel gezeichnet, in der Hand den Schild und die langen Lanzen, an der Seite das scharf geschliffene Schwert. Wie eine Statue stand er da und rief verächtlich zu dem Burschen hinab: "Möge deine Mutter verrecken! Du woll-test meine Frau entführen. Hättest du doch lieber Frauenkleider in deiner Heimat angezogen. Nun wirst du in Qual und Pein sterben!" Der Chaambi murmelte bloß: "So will es Gott!" (51) Der amenukal ließ einen Strick in das Wasserloch, den sich der Jüngling um den Körper legen 22MMALMOGAREN 46-47/2015-2016 musste und mit dem er dann oben gefesselt wurde. Sein Kamel wurde ge-schlachtet und er selbst in der umbarmherzigen Glut der Mittagshitze neben das brennende Feuer geworfen, mit dem Gesicht zum Boden gewendet. Um seine Qual zu vermehren, legten die Beiden ihm heiße Fleischstücke auf den Rücken. So verbrachten sie vor seinen Augen essend und trinkend den ganzen restlichen Tag. Als die Abenddämmerung sich über die Wüste senkte, erhob sich der amenukal, um sein in der Ferne weidendes Kamel zu holen, das mit dem Maul in den spärlichen Dornensträuchern der Umgebung nach Nahrung suchte. Diesen Augenblick nutzte der Chaambi, um leise zu der Frau zu sprechen: "Gib mir einen Schluck Wasser." "Nein", sagte die Frau, "ich gebe dir nichts." "Warum nicht? Fürchtest du nicht Gott?" entgegnete der Chaambi, "du bist Blut von meinem Blut und nur deinetwegen bin ich in das Unglück geraten, denk daran!" Als die Frau sich erweichen ließ und näher trat, um ihm den Schluck Was-ser zu reichen, schnappte er mit den Zähnen nach ihrer Hand. "Nun binde mich von den Fesseln los, sonst zerfleische ich dir die ganze Hand", sprach er, während sich seine Zähne in ihr Fleisch gruben. So war sie gezwungen, mit der linken Hand seine Lederfesseln zu lösen. Inzwischen kehrte der amenukal mit seinem Kamel zurück. Der Chaambi stürzte sich auf das Gewehr seines Gegners, der seine Unvorsichtigkeit, sich nur wenige Augenblicke davon getrennt zu haben, mit dem Leben bezahlen musste. Von der Kugel getroffen lag er in seinem Blut. Dann hieb der Chaambi dem toten Feind den Kopf ab und befestigte ihn schmachvoll und völlig un-verhüllt auf der Spitze des vorderen Sattelholmes. Stets hatte das Oberhaupt im Leben das Gesicht hinter dem blauen Schleier verborgen getragen, nun im Tode sollte es den höhnischen Blicken aller seiner Feinde preisgegeben wer-den. Als der Jüngling mit der Frau in seinem Lande angekommen war, sprach sie demütig zu ihm: "Du tapferer Held, du bist mein Herr und Gebieter." Doch dieser öffnete ihr die Pulsadern und schickte sie in die weite Wüste zum Sterben hinaus. Die Wüste ist grausam und hart, sie vergibt einen began-genen Fehler nie! 12 Die Geschichte eines Mannes, der das Land suchte, in dem man nicht stirbt Diese Geschichte ist die eines Mannes, dessen Mutter sehr alt (52) war und der für sie ein Land suchte, in dem die Bewohner nicht sterben müssen. Er brach auf und machte sich auf den Weg, dieses Land zu suchen. Wenn er in ALMOGAREN 46-47/ 2015-2016MM23 ein Gebiet kam und dort Gräber (53) sah, zog er sofort weiter und setzte seine Suche fort. Er durchstreifte alle Länder, fand aber keines, wo er nicht auf Gräber stieß. Eines Tages kam ein Mann auf ihn zu und sprach: " Wohin gehst du stets? Du bist unaufhörlich unterwegs, durchwanderst alle Gebiete und lässt deine alte Mutter allein." "Ich suche ein Land, wo es keine Gräber gibt", antwortete dieser. "Wenn du mir eine Belohnung (54) gibst", erwiderte der Mann, "so über-nehme ich es, dir ein Land zu zeigen, wo es keine Gräber gibt." "Wenn du mir ein Land zeigst, in welchem die Bewohner nicht sterben müssen und es daher auch keine Gräber gibt, gebe ich dir alles, was du be-gehrst." Sie brachen zusammen auf und kamen in ein Land, in dem es tatsächlich keine Gräber gab. Sie ließen ihre Kamele bei den dortigen Leuten bis zum nächsten Morgen lagern. Dann sprach der Führer zu seinem Gefährten: "Jetzt kannst du mir meinen Lohn geben, denn ich habe dich in ein Land geführt, wo es keine Gräber gibt." Dieser gab ihm alles, was er besaß und verabschiedete sich von seinem Begleiter, er selbst blieb im Land. Eines Tages besuchte er einen benachbarten Ort und ließ seine Mutter schlafend bei seinen Gastgebern zurück. Als diese sahen, dass die Frau schlief, erwürgten sie die Alte, teilten ihr Fleisch und legten ein Stück für ihren Sohn auf die Seite. Als dieser zurückkam, sagten sie zu ihm: "Deine Mutter lag im Sterben (55), wir haben sie erwürgt und ihr Fleisch geteilt. Hier ist dein Teil, den wir auf die Seite gelegt haben." Bestürzt rief der Sohn aus: "Ich suchte einen Ort, in dem die Bewohner nicht sterben müssen, und ich kam hierher, wo man sie isst!" Nachdem er das gesagt hatte, floh er so schnell er konnte. 13 Die zwei Brüder und der Löwe Man erzählt, dass zwei Brüder, die noch im Zelt ihrer Eltern wohnten, in seltener Zuneigung vereint waren. Sie befanden sich beinahe schon im hei-ratsfähigen Alter (56) und machten öfter den jungen Mädchen in den benach-barten Zeltlagern den Hof. Dort, bei den Festversammlungen der jungen Leu-te (57), zeigten sie sich schon als wahre adelige Twareg (Ihaggaren). Eines Abends ging einer von ihnen allein fort, bekleidet mit seinen schöns-ten Gewändern und bewaffnet mit seinem Speer (58). Da das Zeltlager, zu dem er sich begab, ziemlich nahe lag, ging er zu Fuß los. Als er eine Stunde gegangen war, bemerkte er, dass der Ort, den er aufsuchen wollte, verlassen war (59). Ein Löwe (60) trieb sich dort auf Futtersuche herum. Als dieser den Jüngling sah, erschrak er, begann zu brüllen und sprang hoch. Der Bursche 24MMALMOGAREN 46-47/2015-2016 reagierte blitzschnell und begann sich zu verteidigen. Er warf seinen Speer auf das Raubtier und durchbohrte seine linke Vorder- und Hinterpfote. Doch trotz der durch die Waffe verursachten Behinderung konnte der Löwe mit seiner gesunden Pfote nach dem Jüngling schlagen; er tötete und zerfetzte ihn. Am nächsten Morgen, als der andere Targi seinen Bruder nicht zurück-kommen sah, wurde er von einer starken Unruhe erfasst. Er bewaffnete sich mit seinem Speer, seinem Schild und seinem Schwert und machte sich auf die Suche, indem er den Spuren folgte. Als er am Ort des schrecklichen Gesche-hens angekommen war, konnte er schnell die hier abgelaufenen Ereignisse rekonstruieren und den fatalen Ausgang konstatieren. Da er ein beherzter jun-ger Mann war, wollte er nicht in sein Lager zurückkehren, ohne seinen Bruder gerächt zu haben. Er überzeugte sich, dass sein Schwert leicht aus der Scheide ging, ergriff seinen Schild und packte seinen Speer. Bereit zum Kampf, be-gann er mehrmals aus Leibeskräften zu schreien: "Arr arr rrrinek!" (Dieser Schrei besitzt anscheind die Kraft, den Löwen wütend zu machen.) Bald darauf erschien der Löwe mit gesträubter Mähne und furchterregenden Augen. Wieder stieß der Bursche seinen Schrei aus, worauf das wütende Tier hochsprang, soweit dies seine verwundeten Pfoten zuließen. Sofort warf der Targi seinen Speer, der aber den Löwen verfehlte. Dieser versuchte den Jüng-ling mit einem Prankenschlag zu töten, der aber konnte den Angriff mit sei-nem Schild abwehren. Es gelang ihm sein Schwert zu zücken und mit einem Hieb den Kopf des Löwen abzuschlagen. Mit der Trophäe und dem zerbroche-nen Speer seines Bruders kehrte er zu seinem Zeltlager zurück, wo er von allen Anwesenden als großer Held gefeiert wurde. Thema III: Geister und Dämonen Eine nicht unbedeutende Rolle in den gerne am nächtlichen Lagerfeuer vorgetragenen Erzählungen nehmen die spirituellen Wesen und Dämonen ein. Sie werden allgemein Kel-esuf: "die Wesen (Grundbedeutung: Leute) der Lee-re, der Abgeschiedenheit" genannt, ein anderer Name lautet Kel-tenere: "die Wesen der Einöde, der Wüste". Erklärend muss dazu gesagt werden, dass im Verständnis der Twareg ein tiefer Gegensatz zwischen einer von Menschen bewohnten Örtlichkeit und der leeren Wüste besteht – folglich dort, wo Geselligkeit herrscht und wo Gespräche geführt werden, und andernorts, wo der Mensch einsam (usaf) ist. Für die Twareg ist die Wüste ein nach Gottes Plänen wohlgeordneter Raum, in dem jedes Lebewesen und jeder Strauch eine ganz eigene Qualität bekommt und daher schon deshalb die Gemeinsamkeit zwischen Menschen, Tieren und ALMOGAREN 46-47/2015-2016MM25 Pflanzen viel stärker hervortritt. Als Bedrohung für diese Ordnung werden die überall vorkommenden Kollektivgeister angesehen, die Unheil und Krank-heiten unter Menschen und Tieren verbreiten können. Dieser Geisterglaube steht in keinem Widerspruch zum Islam, da selbst der Prophet die Existenz von Geistwesen anerkannt hat (s. Koran, Sure 72: die Djinn = Dämonen, die eine Art Mittelklasse zwischen Mensch und Engel bilden). Eine weitere Bezeichnung der allen Twareg bekannten Geister ist Kel-ama al: "die Wesen der Erde, des Bodens". So werden Wasserbehälter immer an hölzerne Pfosten gehängt, damit sie nicht mit dem Erdboden, auf dem die Geister wohnen, in Berührung kommen. Verbreitet ist auch der Name Kel-aho : "die Wesen der Nacht", woraus hervorgeht, dass sie als Geister des äu-ßeren Randes verstanden werden, die sowohl einen Bezug zur Erde wie auch zur Dunkelheit haben. Ihr Erscheinen kann vom Vollmond begünstigt werden, der die Erde erhellt und so die Nacht zu einer erweiterten Welt der Geister macht. Aber auch am Tage, in der Zeit der großen Sonneneinstrahlung, strei-fen sie umher. Sie versammeln sich mit Vorliebe an Plätzen, wo Tiere ausge-nommen werden, was ihre große Affinität zum Blut bezeugt. Sie wählen ihre Behausungen in Quellen, einsamen Bergen, Schluchten, Grotten und Dünen, an Begräbnisorten oder in bestimmten Bäumen. Als "Geisterbäume" gelten Acacia albida (abse ), Maerua crassifolia (aǧar), Balanites aegyptiaca (taburaq) und der Baobab. Um sie von dort zu vertreiben, verletzen die Twareg den Baumstamm mit einem Schwerthieb, mit dem Messer (die Kel-esuf meiden das Eisen) oder durch einen Steinwurf; sie zupfen sieben Dornen des taburaq- Baumes ab und rufen Allah mit dem Ruf Bismillah an oder legen Steine auf einen Fels nahe dem Platz, der als gefährlich gilt. Die Kel-esuf gelten als antropomorph und man schreibt ihnen sowohl männ-liches wie weibliches Geschlecht zu, wie auch die Fähigkeit zur Fortpflan-zung. Sie müssen Nahrung zu sich nehmen und sind sterblich. Sie ernähren sich von Wurzeln und Kadavern, und auch von der Milch der Tiere, die abends nicht mehr gemolken wurden. Von den Kel-Ahaggar wird daher eine die gan-ze Nacht in den Eutern verbliebene Milch nie verwendet, sondern weggeschüt-tet. Die Kel-esuf reisen viel und unwahrscheinlich schnell, sie leben als No-maden und Hirten ähnlich den Twareg und manifestieren sich in diversen Naturerscheinungen (Feuer, Wind, ...). Für Menschen sind die Kel-esuf im Allgemeinen unsichtbar (nicht für Tie-re), obwohl einige Twareg behaupten, ihnen in sehr entlegenen Orten begeg-net zu sein oder nachts ihr Feuer gesehen zu haben. Wenn z.B. der Wind über die Kämme der Dünen streicht und der Sand zu "singen" beginnt, dann sind es stets die Kel-esuf, die nun trommeln, sprechen oder streiten. Stets treten sie 26MMALMOGAREN 46-47/2015-2016 als vom Menschen mit Gestalt und Willen begabte Mächte seines Erlebens auf. Üblicherweise sind sie jedoch dem Menschen gegenüber nicht strikt feind-lich gesinnt, verhalten sich aber grundsätzlich hinterlistig und unberechenbar, manche auch bösartig. Die Erfahrungen und Erlebnisse mit den Kel-esuf sind sehr zahlreich. Jeder Targi kennt seine eigenen, die er in den abendlichen Stun-den seinen aufmerksamen Zuhörern erzählt. 14 Der verschwundene Brei Es geschah kurz vor Einbruch der Nacht, als ein Targi, dessen Name heute schon in Vergessenheit geraten ist, in einem Tal einige Feuer leuchten sah. Er lenkte sein Kamel auf sie zu und kam in ein kleines, aus wenigen Zelten be-stehendes Lager, dessen Bewohner gerade im Begriff waren, ihre Speise zu sich zu nehmen. Kaum war er vom Kamel gestiegen, als man ihn auch schon zum Essen einlud. Da er sehr hungrig war, verkürzte er die üblichen Grußfor-meln (61) und setzte sich auf die für ihn ausgebreitete wunderschöne Decke (62). Er beobachtete die Leute, die zwar wie Twareg gekleidet waren, deren Stammeszugehörigkeit er aber nicht erkennen konnte und die keine Ähnlich-keit mit seinen Bekannten besaßen. Alles schien ihm seltsam, aber der Höhe-punkt war, als man ihm die Speise (63) in einer Schüssel (64) aus Gold (65) servierte. Augenblicklich begriff er, dass er sich hier in einem Lager der Kel-esuf befand. Rasch bemächtigte er sich der Schüssel, eilte zu seinem Kamel, das glücklicherweise nicht abgesattelt war und floh damit in die Nacht hinaus. Nach einiger Zeit hielt er sein Tier an, um die Speise zu betrachten. Doch diese war – oh Wunder! – verschwunden. Diese Tatsache bestärkte ihn, dass er das Opfer von Geistwesen geworden war, die in diesem Tal ihr Lager bezo-gen hatten. 15 Talhint (66) en-Šiši – Der Geist von Šiši Diese Erzählung berichtet von einem Geist in Frauengestalt, der sich in der Einöde zu einem allein reisenden Targi gesellte und ihn bei allen Tätigkeiten nachäffte. Sie ist bei den Twareg gut bekannt, die dafür den im obigen Titel angeführten Ausdruck bereits sprichwörtlich gebrauchen. Es war einmal ein Adliger namens Šiši, der ganz allein mit seinem Kamel unterwegs war. Man weiß heute nicht mehr, ob er aus dem Ahaggar oder dem Ajjer stammte. Jedenfalls war es bei Einbruch der Nacht, als plötzlich eine groß gewachsene Frau vor ihm stand, eingehüllt in ein weites Gewand (67). Sie war viel größer als der Mann, der ihr aufrecht stehend nur bis zu den Schultern reichte. Er ließ sein Kamel in die Knie gehen (68) und schon be-gann die Frau es abzusatteln. Der Mann nahm die Waffen herunter – die Frau ALMOGAREN 46-47/2015-2016MM27 entfernte die Sattelpolsterung (69). Der Mann löste den Gegengurt (70) – die Frau zog am Sattelgurt (71). Der Mann stellte den Sattel auf den Boden – die Frau ergriff die Satteldecken (72) und legte sie auf den Sattel. Der Mann nahm sein Kamel und fesselte es an den Vorderbeinen – die Frau machte den Zügel (73) ab. Der Mann sammelte Holz (74) ein – die Frau tat desgleichen. Der Mann entfachte ein Feuer – die Frau nahm Holzstücke und warf sie in das Feuer. Der Mann entnahm aus einem kleinen Sack (75) Mehl – die Frau schnür-te den kleinen Sack wieder zu ... Diese Fürsorge und Nachahmung aller seiner Tätigkeiten beunruhigte den Targi, der immer mehr zu der Überzeugung kam, in dieser sich andienenden Person einen Agg-esuf vor sich zu haben. Er begann in einer Grube aus Sand sein Fladenbrot (taǧella) durch Überschichten mit heißer Asche und Glut zu backen – die Frau wiederholte jede seiner Bewegungen. Der Mann legte daraufhin seinen Kopfschleier (76) ab, ergriff ein brennendes Holzstück und fuhr sich damit schnell mit dem nicht vom Feuer erfassten Ende in seine Haa-re. Die Frau nahm ebenfalls ein brennendes Holzstück und ahmte seine Bewe-gung nach, irrte sich aber mit dem Endstück, so dass ihre Haare Feuer fingen. Sie stieß laute Schmerzensschreie aus und rannte davon; er sah sie nie wieder. Nach seiner Rückkehr erzählte er, dass sie sehr, sehr schön gewesen war. Er behauptete sogar, noch nie eine solch schöne Frau gesehen zu haben: inna ur iney tameÐ ti t tula tihusay. 16 Ǧelwan, die Tochter der Einöde Ǧelwan ist ein weiblicher Dämon mit hundert offenen Mäulern, die alle unaufhörlich schreien und fressen wollen. Es war in alten Zeiten, als ein vornehmer Targi mit seinem Kamel auf eine Reise ging. Eines Abends kam er in ein großes Tal, wo er ein Feuer sah. Er ritt näher, hielt sein Kamel an und ließ es in die Knie gehen (77). Eine Frau kam auf ihn zu, sagte kurz ma n ewin (78) und kehrte wieder auf ihren Platz zu-rück. Der Mann war der Ansicht, dass diese Frau ein menschliches Wesen sei. Er setzte sich und wartete, dass sie ihm das übliche Mahl der Gastfreund-schaft (amaǧaru) anbieten würde – vergeblich. Als er alle Hoffnung darauf verloren hatte, stand er auf und ging sein Kamel holen. Da sah er, dass die Frau das Tier getötet hatte. Er hörte aufeinanderfolgend immer nur den Schrei: "Ich, ich, ich!" Als er sich umsah, bemerkte er eine Kreatur mit hundert Mäu-lern. Ihr ganzer Körper bestand aus Mäulern und mit allen Mäulern fraß sie. Wenn sie Fleisch in eines derselben steckte, schrie ein anderes Maul: "Ich!", alle Mäuler schrien "Ich, ich, ich!" 28MMALMOGAREN 46-47/2015-2016 Ganz verblüfft fragte der Mann: "Wer bist du?" Sie antwortete: "Ich bin Ǧelwan, die Tochter der Einöde (welt-esuf)!" Als er diese Worte vernahm, floh er schleunigst. 17 Ǧelwan, die wundersame Kuh In dieser Erzählung tritt Ǧelwan in Tiergestalt auf. Ein Mann hatte einen Sohn und eine Tochter namens Ayer und Tayert (79). Leider starb die Mutter der beiden Kinder früh und der Vater heiratete noch einmal. Aber die Stiefmutter liebte weder das Mädchen noch den Knaben. Die leibliche Mutter hatte ihren Kindern als einziges Vermögen eine Kuh (80) hinterlassen, um die sich Tayert liebevoll kümmerte. Diese Kuh schied zur großen Überraschung der Geschwister anstelle von Kot und Urin Datteln und Duros (81) aus. Wohlweislich versteckte das Mädchen die Datteln in ihren langen, zu Zöpfen geflochtenen Haaren (82). Eines Tages, als die böse Mutter kam, um Tayert zu kämmen (83) und nach Läusen abzusuchen (84), fand sie die Datteln und fragte das Mädchen: "Woher hast du sie?" "Die sind von meinem Bruder, der sie mir in die Haare gesteckt hat", ant-wortete Tayert. Doch die Stiefmutter glaubte ihr nicht und bedrängt von den Fragen gab das Mädchen zu, dass die Datteln von der Kuh Ǧelwan stammten, die sie ausgeschieden hatte. Als eines Tages der Vater schwer erkrankte, beschloss die Frau, die Kuh zu töten, um ihren Mann mit dem Fleisch kräftigen zu kön-nen. Die Kinder weinten, aber Ǧelwan wurde dennoch getötet. Als die Kuh tot war und ihr Fleisch aufgeteilt wurde, konnte es von keinem Menschen verzehrt werden, und man bezichtigte Tayert der Zauberei (85). Man befahl ihr das Unglück abzuwenden, welches das Fleisch ungenießbar gemacht hat. Aber Ayer und Tayert liefen davon und erreichten die bis dahin versteckt ge-haltene Färse (86), die Ǧelwan geworfen hatte und – wie ihre Mutter – Milch, Datteln und Duros ausschied. Die Kinder wurden verfolgt, doch sie kletterten auf einen sehr hohen Baum in der Hoffnung, so ihren Häschern zu entkom-men. Aber sie wurden entdeckt und das herbeigerufene Oberhaupt des Stam-mes befahl Ayer herunter zu kommen. "Nein", widersprach der Knabe, "denn man wird meine Schwester töten, wenn ich sie alleine lasse." Da fiel der Blick des amenukal auf das Mädchen. Er sah wie schön sie war und verliebte sich in sie. Er rief: "Kommt beide herunter! Ich werde deiner Schwester einen 'goldenen' Teppich (87) und viele andere Geschenke geben." "Das ist aber nicht, was ich für sie will", antwortete Ayer, "gib ihr ein festes Haus, das man verschließen kann, um uns zu schützen." ALMOGAREN 46-47/2015-2016MM29 "Meinetwegen", sagte der amenukal, "sie soll es haben." Die Beiden stiegen herab und kurze Zeit später heiratete der amenukal das Mädchen. Als er eines Tages gerade abwesend war, brachten eifersüchtige Frauen Tayert in ihre Gewalt, erwürgten sie mit den eigenen langen Zöpfen und war-fen sie in ein großes Wasserbecken (88). Ayer stürzte heulend zum amenukal und berichtete ihm von der schrecklichen Tat. Gleich am nächsten Tag, nach-dem er eine Untersuchung eingeleitet hatte und alle Frauen umbringen ließ, begab er sich zu dem zwischen hohen Felsen liegenden Wasserbecken. Dort – oh Wunder der Liebe! – fand er Tayert lebend wieder, die aus dem Wasser zu ihrem geliebten Ehemann stieg. Gott beschützt die Schwachen und fesselt die Hände der Bösen! 18 A u-sakka (89) – der Jungkamelräuber Er ist jener Geist, den die Iwllemmeden Kel-Denneg am meisten fürchten. Einige wenige haben ihn gesehen: Er hat das Aussehen eines jungen Kamels, aber er hat nur ein Bein. Er ist von sehr weißer Farbe und unglaublich schnell ("es ist der Lauf in ihm"). Der Klang seiner Stimme ist je nach seinem Belie-ben der eines Jungkamels oder eines Rindes oder auch der einer Ziege. Er wohnt zwischen den hohen, festliegenden Dünen und den Bergausläufern (abada) wie auch in den igorasan (90). Wenn er ein menschliches Wesen ge-fangen hat, durchlöchert er dessen Kopf und trinkt durch das Loch sein Ge-hirn. Am Tage bleibt er in seiner Behausung. Hörst du ihn, musst du mit dei-nen Waffen Lärm machen, andernfalls wird er kommen (um dich zu töten). Anmerkungen: (1) wörtl. telellit, mask. elelli: a) freie Person im Sinne von Nicht-Sklave-Sein, frei von Geburt oder (wenn Sklave) durch Freilassung; b) adlige Person (der Twareg) (von Geburt), egal welchem Land, welchem Volk oder welcher Religion sie auch angehören möge. Mit einer anderen Formulierung wird unter einer freien Person jedes Individuum verstanden, welches das Recht hat, sich am politischen Gesellschaftsleben zu beteiligen. (2) wörtl. ales: a) "Mann" im Sinne eines verantwortlichen Erwachsenen, oft mit dem Beiklang von gut, mutig und reif, d.h. ein "echter" Mann im Alter von etwa 25-40 Jahren mit Lebenserfahrung; b) verheirateter Mann, Ehe-mann (mit Kindern). (3) esali: glatter, blanker Fels, der jegliches Begehen erschwert. (4) wörtl. tadent: (weißes) Fett vom Menschen oder Tier, lebend oder tot; im Gegensatz zu esim: geschmolzenes Tierfett, Mark. 30MMALMOGAREN 46-47/2015-2016 (5) wörtl. tillemin, sg. talemt: die im Ahaggar sehr gebräuchliche Bezeich-nung für "Kamelstute", während imnas, sg. amis, die am meisten gebrauchte Form für ein männliches Kamel (kastriert oder nicht kastriert) ist. (6) wörtl. ahiyo : Krätze, Räude; wird bei Kamelen oft durch Zecken hervor-gerufen. (7) wörtl. esker: Huf, Kralle, Klaue; Finger-/Zehennagel. (8) wörtl. iškan (pl. koll.): Gras, besonders frisches Weidegras, zarte Weide-pflanzen, Grünzeug und Gewächse, auch Gemüse und Teeblätter; iškan n-amadel: "Kieferpflanzen", d.h. wohlschmeckende ("kiefergerechte") Pflan-zen oder Gräser. (9) wörtl. imaytalen, sg. amaytal: besonderer, kissenartiger Lastsack aus der gegerbten Haut einer Ziege oder eines Schafes, früher auch aus der Haut eines jungen Mähnenschafes oder eines anderen Tieres gleicher Größe. Bei seiner Anfertigung wird die gegerbte Haut – mit der Glattseite nach innen – in der Mitte der Länge nach gefaltet und Rand auf Rand mit einem einfa-chen Vorstich zusammengenäht; der Hals bleibt offen, die Beinansätze hän-gen getrennt und frei außerhalb der Nähnaht und werden verknotet. Die Verwendung erfolgt in der Regel paarweise auf dem Kamelrücken, wobei ein Sack vor und der andere hinter dem Höcker zu liegen kommt, so dass beide zusammen einen druckstabilen Ringpolster für aufgelegte Lasten (Salz, Stricke der Wasserschläuche etc.) bilden. Die Füllung besteht meistens aus Hirse, Mais oder Bohnen, ersatzweise aber auch (nach Ver-kauf oder Verbrauch) aus Heu oder Stroh, Ziegen- oder Kamelmist als unerläßlichem Polsterballast. Das Fassungsvermögen eines amaytal schwankt zwischen 20 und 50 Litern. Die Karawanenleute aus dem Ahaggar bringen diese Säcke aus Niger mit, wo sie hergestellt werden. (10) wörtl. tenere: oft gebrauchte Bezeichnung für eine ausgedehnte Wüsten-ebene ohne Berge oder Dünen, in der sich jedoch Weiden befinden können. (11) wörtl. ahel imda newey tenere: "den ganzen Tag waren sie auf dem Weg durch die Wüste." (12) wörtl. tinse: Zehe beim Menschen; Pfote, Vorfuß (= vom Fuß bis zum Knie) beim Tier. (13) wörtl. tahwart: a) kleine, mehrfarbige Decke bzw. kleiner, bunter Teppich jeder Art; b) kleine ahwar-Decke, hergestellt aus Wolle oder Kamelhaar, rechteckig (etwa 1,50 x 4-5 m) und durchgehend bunt (überwiegend rot) gestreift; dient als Bodendecke, als Teppich oder als Schlafbedeckung, aber nicht als Gewanddecke. Herkunft Algerien, Tunesien und Tripolitanien. (14) Im Sinne von "Leittier": amalway. (15) wörtl. Ameqqar, eine sehr häufige Benennung für Gott (Allah). ALMOGAREN 46-47/ 2015-2016MM31 (16) wörtl. tamhit: mittelgroßer Lastsack aus der gegerbten Haut einer Ziege, eines Schafes, früher auch aus der eines jungen Mähnenschafes oder eines anderen Tieres gleicher Größe; die Narbung des Leders liegt innen. Die Öffnung wird durch den Tierhals gebildet, die Aufhängung ist dieselbe wie beim Wasserschlauch abayo (s. Anm. 17), d.h. sie erfolgt an den vier Bein-ansätzen, an denen Stricke befestigt werden. Der Sack dient vor allem zum Transport von Trockennahrungsmitteln (z.B. Korn) während der Wander-züge, befindet sich aber gelegentlich auch im Zeltinneren, wo er die Aufga-be eines Proviantsackes erfüllt. Sein Fassungsvermögen liegt je nach Grö-ße zwischen 20 und 70 Litern. (17) wörtl. abayo , ar. Gerba: Lederschlauch zum Aufbewahren und Transport von Wasser (auch Milch, Hirsesoße etc.), hergestellt aus der kompletten, nicht enthaarten Haut einer meist weiblichen Ziege. Auch wird das Fell-kleid von Ziegenböcken verarbeitet, das jedoch – besonders am Hals und am Rückenkern – weniger geschmeidig ist; früher wurden auch Gazellen-und andere Tierhäute (z.B. vom Wildschaf) verwendet, neuerdings auch Autoschläuche, die aber keinen Kühleffekt haben. Wasserschläuche müs-sen sehr schonend gegerbt werden, damit die Haut nicht brüchig wird. Das Fassungsvermögen eines abayo beträgt etwa 15-25 Liter, manchmal bis 40 Liter und mehr. (18) wörtl. tellah: Euphorbia granulata Forsk. var. involucrata (im Ahaggar). Alle Euphorbia-Arten führen einen gelblich-weißen Milchsaft, der verschie-dene giftige Inhaltsstoffe mit haut- und schleimhautreizender Wirkung ent-hält. Der giftige Latexsaft der E. granulata wird "Milch" oder "Molke" ge-nannt, daher die Benennung tell-ah: "sie hat Milch" bzw. im Arabischen umm-el-lebîna: "Mutter der Molke". (19) wörtl. ales: s. Anm. 2. (20) wörtl. tanwart: dünnwandiger, enthaarter Lederschlauch von Gerba – Grundform zur Aufbewahrung von Wasser, (saurer) Milch und dem Hirse-getränk bzw. der Hirsesoße a ehara (in Sahel a ejira/a ešira genannt); häu-fige Verwendung auch als Butterungssack oder –schlauch. Nach dem Ge-brauch wird der Balg mit Luft gefüllt, seine Öffnung hermetisch verschlos-sen, und dann im Zelt oder in der Hütte aufgehängt. (21) Gewöhnlich eignen sich die aus Leder, Ziegenhaar oder Pflanzenfasern bestehenden Bindematerialien nicht immer gut zum Verknoten und müs-sen daher nicht selten mittels spezieller Schlaufen, Knopf-Ösen-Verschlüsse oder anderer Hilfskonstruktionen verbunden werden. (22) Nach dem Gerbungsprozess eines Lederschlauches wird die Anusöffnung mit Baumwollstreifen verschlossen, die über den Einschnitt gelegt und mit 32MMALMOGAREN 46-47/2015-2016 Lederfäden zusammengenäht werden. Die Öffnungen der vier Beine blei-ben von einer Naht verschont, sie werden am äußeren Ende verknotet und bilden somit vier Befestigungsschlaufen, tidekmar, sg. tadekmert, genannt. An den zwei vorderen und den zwei hinteren Schlaufen wird ein Strick festgemacht, um den Schlauch (oder den Ledersack) aufhängen bzw. befes-tigen zu können; dieser Strick heißt ebenfalls tadekmert. (23) wörtl. abuleǧ, syn. adawal: Jungbock, noch nicht ganz ausgewachsen; kastriert oder nicht kastriert. Ein kastriertes Tier jeglicher Art wird aǧur genannt. (24) Gewöhnlich wird zum Anbinden von Jungziegen, Lämmern und Jungkälbern ein langes Seil (eseddi, "Kälberleine") verwendet, von dem ein Ende an dem in die Erde geschlagenen Holzpflock (anatter oder tamdit) befestigt wird, während das andere Ende eine Halsschlaufe bildet. Häufig sind es mehrere, in geeigneten Abständen angebrachte Laufschlingen, mit-tels derer die Jungtiere nachts angeleint werden. (25) Zum Kochen von Fleischgerichten verwenden viele Twareg metallene Kochtöpfe, während der Gebrauch von Tontöpfen eng mit der Zubereitung von Hirsebrei verbunden bleibt. Zu unterscheiden sind: a) der früher bei den Kel-Ahaggar weit verbreitete, heute jedoch selten gewordene große Henkeltopf aus (verzinntem) Kupfer; er wird, wie das "rote" Kupfer selbst, e ir genannt; b) der leichte und billige Henkeltopf aus emailliertem Eisen oder aus Aluminium; c) der bauchige Schmortopf namens el katkot (ar.) aus Aluminiumguss mit enger Öffnung und zwei Griffen. (26) Üblicherweise erfolgt die Übermittlung des förmlichen Heiratsantrages an die Brautfamilie durch einen oder mehrere Hochzeitsboten/Brautwer-ber, im Ahaggar abadrah, pl. ibadrahen, genannt; bedreh Wa-nnes i Ta-nnes or merewen-nit: "für den Wa-nnes und die Ta-nnes bei ihren Eltern anhal-ten." Angesprochen werden in der Regel der Brautvater, die Mutter wie auch die Braut selbst. Der Mittelsmann ist entweder ein enger Verwandter des Bräutigams (Vater, älterer Bruder, Vetter, ...) oder ein einflussreicher, anerkannter Mann der Gemeinschaft, insbesondere ein Korangelehrter (aneslem). (27) Die Namensgebung eines neugeborenen Kindes findet gemäß dem muslimischen Gesetz am 7. Tag (dem ahel n-isem) nach der Geburt statt. Ein wesentliches Element der Zeremonie ist dabei das Abscheren der ers-ten Haare durch einen Korangelehrten oder Handwerker (Schmied). Es sind dies die "Heidenhaare" (im aden n-akafer), die danach in der Regel ver-brannt werden. Den ersten Namen (isem) erhält das Kind von Seiten des Vaters oder Paten, wobei heute meist ein islamischer oder Koran-Name ALMOGAREN 46-47/2015-2016MM33 gewählt wird (z.B. Musa = Moses, Yunes = Jonas), der unter zeremonieller Leitung eines aneslem verliehen wird. Früher wurden auch gerne Namen von Wildtieren entlehnt (z.B. Ebeggi = Schakal, Amayas = Gepard, Ahar = Löwe als männliche Vornamen, oder Tenirt und TahenkoÐ = jeweils Gazelle, Temerwelt = Häsin als weibliche Vornamen), seltener von Pflanzen (z.B. Te a in = Samenkörner als weiblicher Vorname) oder Naturphänomene. Der zweite Name ist ein Beiname (taselfest), der sich auf eine bestimmte phy-sische Besonderheit des Neugeborenen oder auf ein Ereignis vor oder bei seiner Geburt bezieht und von Seiten der Frauen (Mutter, Tante, Patin) ge-geben wird. Die meisten davon werden akzeptiert, andere sind verletzend und daher nur von kurzer Dauer. Daneben existieren viele alte Namen, die aus Überlieferungen entlehnt werden und deren Bedeutung oft nicht mehr bekannt ist, z.B. Ahamuk, Amastan (mask.), Šekuku, Tanbelaku (fem.) etc. Einem solchen Namen wird dann jener des Vaters (und nicht der Mutter) angehängt, z.B. Musa agg Amastan = Musa, der Sohn von Amastan oder Dassin welt Ihemma = Dassin, die Tochter von Ihemma. (28) wörtl. tam art: ältere, würdige, im Allgemeinen verheiratete Frau im Sin-ne einer Autoritätsperson. (29) wörtl. hullan, hullan, hullan: "sehr, sehr, sehr" oder "viel, viel, viel". (30) wörtl. Kel-imenas: "Kamelleute"; agg-amenis: "Mann/Sohn des Kamels". (31) wörtl. tawset: Stamm – eine durch Verwandtschaft zusammengehörige gesellschaftliche Gruppe, die sich durch ihren Namen definiert und durch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Kategorie gekennzeichnet ist. Elwanit tewsatin er-kallen wim-maje en: "die Stämme sind im Land der Twareg äußerst zahlreich". (32) Eine sprichwörtliche Redensart über eine leidenschaftliche, glühende Liebe; über eine innige und unübertreffliche Treue zwischen Mann und Frau. (33) wörtl. izekrah, sg. azekrih: Garten bzw. künstlich bewässertes Feld (um-friedet oder nicht umfriedet), syn. iferǧan, sg. afaraǧ; in Erweiterung: Ge-hege, Verschlag sowie jede Art von Einzäunung (Hecke, Pferch, Zaun). Gelegentlich wurden die Sklaven deffer-afaraǧ: "hinter/nach der Hecke" genannt, da sich in den Lagern ihre Behausungen jenseits der Tiergehege befanden. (34) wörtl. amenukal: einst oberster politischer Chef einer Twareg-Konföde-ration (teǧehe) sowie der "Trommelgruppen" (eÐÐebel) und den ihnen zuge-hörigen Abhängigen und Verbündeten. (35) wörtl. eǧen: a) planvolle Unternehmung bzw. Durchführung eines Raub-zugs; b) Raubzugtruppe; e eǧ: auf Raubzug ausziehen gegen. Der Raubzug 34MMALMOGAREN 46-47/2015-2016 war stets ein ehrenhaftes Unternehmen, an dem gewöhnlich 15-20 Mann oder mehr teilnahmen und ganz im Gegensatz zum heimlichen, völlig ehr-losen und verpönten Diebstahl (tikra) durch Einzelne stand. (36) Großer arabischer Kamelnomadenstamm, der wahrscheinlich mit der Hilalischen Wanderung im 11. Jahrhundert in seinen heutigen, zwischen Wargla–Tougourt–El Golea liegenden Lebensraum kam. Die fast zwang-hafte Suche nach Möglichkeiten für Überfälle, Raubzüge und Scharmützel als Mutprobe des Einzelnen oder Kraftprobe von Gruppen haben zu offe-ner Feindschaft und unverhohlenem Misstrauen bei nahezu allen Nachbarn geführt, insbesondere bei den Twareg. (37) wörtl. taǧulmust: (meist) indigoblauer Baumwollstoff sudanesischer Fab-rikation, der als Gesichtsschleier (vor Stirn und Mund) und Turban der Männer dient. Das ziemlich dünne Stoffstück ist rechteckig: 1,50-4 m lang und 0,20-0,50 m (manchmal noch mehr) breit, wobei die Breite (aǧulmus) durch Aneinanderreihen von mehreren schmalen Gewebestreifen (tiswa ) erreicht wird, die 0,02-0,20 m breit sein können. (38) Die Kel-Ahaggar nennen den angepflanzten Oliven- oder Ölbaum (Olea europaea L.) tehatimt. Er ist in den nordafrikanischen Gebieten weit ver-breitet, fehlt jedoch im Ahaggar. Dort wächst in Höhenlagen von 1600-2600 m als endemische Wildform der 1-4 m hohe Olea Laperrini Batt. et Trab., von den Twareg aleo genannt. Nicht selten steht er mit seinem dicken Stamm auf nacktem Fels ohne die geringste Feinmaterialauflage, und folgt mit seinen langen Wurzeln den Klüften, um dort seinen Wasserbedarf de-cken zu können. Er trägt nicht jedes Jahr Früchte, die aber dann etwa die halbe Größe einer gewöhnlichen Olive erreichen. (39) wörtl. elbaru (ar.): Gewehr, Karabiner, Stutzen, allg. Früher besaßen die Twareg u.a. die einschüssige Berberflinte namens suri (ar.) und das zwei-schüssige Gewehr mit Zündhütchen oder Schlagbolzen namens ežžeweyža (ar.). Um sie auf ihre Qualität zu prüfen, wurde auf einen gefüllten Wasser-schlauch gezielt: durchschlug die Kugel den vollen Behälter, wurde das Gewehr als gut befunden. (40) Gemeint ist das riesige Gebiet zwischen dem Grand Erg Oriental (Erg: ausgedehnte Region großer Dünen) und den subsaharischen Randgebieten = Sahel (ar.: "Ufer"). Die Sahelländer umfassen im Wesentlichen das Ge-biet des Bilad es Sudan (das "Land der Schwarzen"), wie die Araber des Mittelalters das Herrschaftsgebiet der historischen "Sudanreiche" zwischen Senegal und Äthiopien nannten. Die Twareg haben weder für den Sahel noch für den Sudan einen eigenen Namen, verwenden aber gelegentlich die Vokabel Sudan für das Übergangsgebiet zwischen den umherschwei- ALMOGAREN 46-47/2015-2016MM35 fenden und den sesshaften Bevölkerungsgruppen. (41) wörtl. erk aw adem: schlechtes (erk) menschliches Wesen; aw-adem ur en hard: "nichtsnutzige Person" (mask.); in Erweiterung: hales, ein Mann ohne Wert, ein Nichtsnutz. (42) In der Literatur findet sich für amenukal oft die sehr unglücklich gewähl-te Bezeichnung "König", mit der sich nach unserer Vorstellung häufig ein Hofstaat verbindet, was der Twareg-Gesellschaft jedoch völlig fremd ist. (43) sg. amet al: im Ahaggar monetäre Wert- und Hauptrechnungseinheit für Silbergeld, entsprechend 2,50 Francs/Dinar = 1 (kleiner) Mitqal. 1 großer oder Doppel-Mitqal entsprach 1 Silbertaler (Duro). Im 19. Jahrhundert lag die Wertrelation von 1 (großen) Mitqal bei 1000 Kauris; 2,5 Mitqal = 2500 Kauris = 1 spanischer Taler (Duro, Peso duro) oder 1 Maria-Theresien-Ta-ler. Noch in der Mitte des 20. Jahrhunderts zahlte im Ahaggar jeder Krieger 1 Duro Jahrestribut an den amenukal neben Naturalien. (44) wörtl. tiseq: Fingerring, von Frauen und Männern in vielfältigen Formen und Ausführungen getragen und von ihnen als Zeichen der Zuneigung ge-tauscht. Er besteht meist aus Silber (a ref), wobei es sich entweder um rei-nes ("weißes") Silber (als Standard gilt dafür der Maria-Theresien-Taler, s. Anm. 43) oder – viel häufiger – um Silberlegierungen mit variablen Bunt-metallanteilen ("gelbes Silber") handeln kann. Im Ahaggar lassen sich zwei Arten von Fingerringen unterscheiden: a) der einfache, aus Metall spiralig gedrehte Ring (etteli), b) der zusammengesetzte Ring, der aus einem Ring-band mit aufgelöteter Schmuckplatte oder einem plastisch gestalteten Schmuckkörper, oft gebildet aus Silberblech und einem pyramidalen Holz-einsatz, besteht. Die Kuppel kann mit einer Zierniete gekrönt sein, die die-sem Ringtyp den Namen tiseq ti-n-ibuhuten, "Fingerring der übergroßen Frauenbrust", gibt. (45) Kreuzvetter (ababah) und Kreuzkusine (tababaht) sind die prinzipiell be-vorzugten Ehepartner. Sie sind die Kinder zweier Geschwister verschiede-nen ("gekreuzten") Geschlechts, das heißt Kinder der Vaterschwester und des Mutterbruders. Zwischen ihnen besteht eine "Scherzbeziehung" (tehan e it), die ihren Ausdruck in der absichtlichen Übertretung bestimm-ter sozialer Gebote und Tabus (Streiche, Neckereien, provozierende Reden, sexuelle Anspielungen, Scheinkämpfe) findet. (46) wörtl. awdet: "in lebhafter Gangart traben lassen", wobei es sich nicht um eine spezielle Gangart (Trab oder Galopp) handelt, sondern mit diesem Verb wird zum Ausdruck gebracht, dass sich das Kamel vom sehr langsamen Trab (senat-senat) bis zum Galopp (dabete at) in allen Geschwindigkeiten bewegt. 36MMALMOGAREN 46-47/2015-2016 (47) Einer der diversen Kraftausdrücke (Verwünschungen), die zwar als schlimme Beleidigungen gelten, aber als umgangssprachliche Ausrufe ohne Bedeutung oder Wichtigkeit verstanden werden. (48) Die "klassische" Stich- und Stoßwaffe der Twaregkrieger ist die Ganz-metalllanze namens alle (als Überbegriff). Sie ist etwa 1,80-2,10 m lang, hat eine lanzettförmige Spitze und besitzt meist keine Widerhaken. Wie immer, wenn es sich um Eisen handelt, sind hier als Gegenmittel der unrei-nen Substanz Messing- und Kupferinkrustationen in den Schaft eingelas-sen. Ein im unteren Griffbereich hervorspringender Ring dient dazu, sie während eines Marsches gut zwischen den Fingern halten zu können. Die Kel-Ahaggar unterscheiden vier Qualitäten von Ganzmetalllanzen, von denen die tanǧanbat (aǧanba: Krokodil) – ein alter Typ – die dritte Güte-klasse (schmale Spitze, keine Widerhaken) einnimmt. In Verwendung steht auch der Speer mit Holzschaft, s. Anm. 58. (49) wörtl. anu: Brunnen, allg., sowie jedes im weichen Boden gegrabenes Wasserloch von etwas über 2 m Tiefe. (50) wörtl. tafarawt: a) Leder, das als tragbarer Tränktrog dient, d.h. ein kom-plettes Ziegenleder (filali) wird in einer Sandgrube oder in einem aus Stei-nen errichteten Ring ausgelegt, um ein provisorisches Tränkbecken zu bil-den; b) eine Art große Tasche aus (meist) Rindsleder (teserke), die von ei-nem hölzernen Gestell gehalten wird (im Ahaggar selten in Verwendung); c) (Wasser-)Trog, allg. (51) wörtl. awin-de a iǧa Yalla (Allah). (52) wörtl. taweššart: sehr alte, gebrechliche Frau, Greisin (älter als etwa 75 Jahre). (53) wörtl. i ekwan, sg. a ekka, syn. isensa, sg. asensu: zeitgenössisches, isla-misches Grab. Meist wird das Grab von den männlichen Mitgliedern der Familie (früher auch von den Sklaven) angelegt. Es ist eine einfache, recht-eckige und schmale, oft nur einen knappen Meter tief ausgehobene Grube, orientiert in Nord-Süd-Richtung. Der Leichnam wird auf die rechte Seite gelegt, der Kopf nach Süden, das Gesicht nach Osten (Mekka) gerichtet. Entsprechend der islamischen Tradition werden im Ahaggar auf ein Männergrab zwei Steine gesetzt: je ein Stein am Kopf- und am Fußende; das Grab einer Frau bekommt drei Steine: einen Stein am Kopf- und zwei Steine am Fußende, selten auch je einen Stein am Kopf- und am Fußende und einen Stein in der Mitte (über dem Bauch). Es sind dies eine Art Richt-bzw. Mahnsteine, die ihalisen, sg. ehalis, oder imeseknan, sg. emesekni, genannt werden. Um das Grab wird oft ein mit Steinen am Boden abge-grenztes, meist rechteckiges Areal als Gebetsplatz (tamejjida) angelegt; ein ALMOGAREN 46-47/ 2015-2016MM37 kleiner Halbkreis darin markiert die Richtung nach Mekka, eine gegen-über liegende freie Stelle dient als Eingang. Hin und wieder werden an eingesteckten Stöcken (weiße) Stoffbänder befestigt, die an sich nicht mehr als eine Opfergabe an den Verstorbenen sind, ein Mittel, durch welches man sich selbst in Verbindung mit dem Tod und dadurch mit Gott bringt. Auch werden auf den flachen Grabhügel Münzgeld, kleine Tontöpfe, Parfümfläschchen etc. als Sinnbild für das zu Ende gegangene Leben ge-legt. Der weiße Quarzitstein, mit dem der Verstorbene bei der Leichen-wäsche abgerieben wurde, wird am Kopfende des Grabes platziert. (54) wörtl. elkera (ar.): Miete, Mietlohn, Mietpreis (für Kamel); in Erweite-rung: (Arbeits-)Lohn, "Besoldung", Mietarbeit. (55) im Sterben liegen: yebuk ed-iǧma iman: "er ist soweit, dass seine Seele aus ihm herausgeht". (56) Wie die ethnographischen Berichte der frühkolonialen Zeit zeigen, heira-teten früher die Twareg erst im fortgeschrittenen Alter: 25-35 Jahre die Männer, 20-25 Jahre die Frauen. Heute finden Hochzeiten in einem viel früheren Alter statt, besonders was die Frauen betrifft. Eheschließungen von Mädchen mit erst 14 Jahren und sogar jünger sind nicht mehr unge-wöhnlich. Diese Verbindungen geschehen im Allgemeinen mit jungen Männern, aber gleichermaßen – und immer häufiger – mit betagten Männern, ein Wandel, der von den Kel-Ahaggar einer immer stärker wer-denden Arabisierung ihrer Gesellschaft zugeschrieben wird. (57) wörtl. ihallen, sg. ahal: festliches Treffen zwischen meist unverheirateten Männern und Frauen, aber auch verheirateten Männern, die fern von ihren Ehefrauen sind und sich im Alter des Hofierens befinden. Gelegentlich nehmen auch junge Eheleute gemeinsam daran teil oder verheiratete Frau-en in einem bereits gewissen Alter, doch eher als Zuschauer denn als Ak-teure; ältere Männer kommen nicht. Der ahal ist eine ungezwungene litera-risch- musikalische Zusammenkunft, die – manchmal unter der Leitung einer erfahrenen Frau – eng mit den Künsten des Singens, Vortragens und Musizierens verbunden ist. Begleitet vom hellen Klang der einsaitigen Geige (im ad) besingen die Frauen die Tapferkeit und das würdevolle Ver-halten der Männer, die ihrerseits die Melodie des Instrumentes summend begleiten, aber auch individuell ein Loblied auf die Schönheit und Anmut der Frauen anstimmen. Der ahal ist eine echte Prüfung, in deren Verlauf jeder seine Noblesse beweisen muss. (58) wörtl. ta da: Speer mit hölzernem Schaft, allg., im Gegensatz zur Ganz-metalllanze namens alla (s. Anm. 48). Unterschieden werden drei Qua-litätsklassen, worüber obige Erzählung nichts Näheres erwähnt. Frühe 38MMALMOGAREN 46-47/2015-2016 Autoren bemerken, dass immer nur die Adligen die Eisenlanze führten, während der Speer mit Holzschaft den sozial tiefer stehenden Schichten vorbehalten war; in kriegerischen Auseinandersetzungen wurden beide Varianten benützt. Heute verwenden besonders Hirten den Speer oder Spieß mit seinem leicht fächerartig verbreiterten Endstück zum Abschneiden von Ästen, Ausgraben von Wurzeln, Ausheben von Löchern für die Zeltpfosten und Ähnlichem. (59) wörtl. tamahart: verlassener Platz eines früheren Zeltlagers. Das Wort bezeichnet auch einen Platz, wo ein einzelner Reisender sein Nachtlager aufgeschlagen hatte oder wo früher mehrere Zelte monatelang aufgestellt waren. (60) wörtl. ahar: Löwe (Panthera leo L.), davon sieben Unterarten in Afrika, von denen die nördlichste, der Atlas- oder Berberlöwe (Panthera leo leo L.), bereits ausgestorben ist. Der Löwe ist ein typischer Gast von Halb-wüsten bis Trocken- und Feuchtsavannen. In der Sahara, einem Land mit wenig Wasser und wo das Wild selten ist, hätte er nicht überleben können. Dennoch gibt es alte Erinnerungen an das Auftreten dieses Raubtieres, z.B. im Azawagh-Gebiet, wo 1914 "bei der Jagd nach einem Löwen, der ein Kamel gerissen hatte, die Verfolger auf 50 Löwen (!) stießen, von denen sie 14 töteten und 7 verwundeten" (Alojaly 1975: 166ff.). (61) Bei den üblichen Grußformeln informiert man sich zunächst gegenseitig über das persönliche Wohlbefinden, um dann anschließend jenes der aus-gedehnten Familie zu erfragen. Nach dieser Phase folgen detaillierte Höflichkeitsfragen, wobei man öfter einander langsam und ruhig über die Innenfläche der Hand streicht. Die Standardformeln für die Antwort lau-ten: elkhir as, "nur das Gute (alles in Ordnung)" oder le-bes/la-bas (ar.), "es gibt nichts Schlechtes". Die Grußformeln für den Abschied lauten: ar assa at, "bis später"; ar tufat, "bis Morgen!" (im Sinne von "gute Nacht!"); emir iyen, "auf ein andermal"; s-el afyet, "mit Frieden" etc. Man legt dabei die Hand auf das Herz und führt in arabischer Weise zwei Finger der rech-ten Hand an die Lippen, zum Zeichen dafür, dass man es gut miteinander meint und das Gehörte wohl für sich behalten werde. (62) wörtl. asefte , syn. tafteq: Decke, insbesondere (schwere) Bodendecke, Matte (auch Bettmatte), Teppich bzw. als Teppich dienende Unterlage. (63) wörtl. esink: dick gekochter Brei aus einem Gemisch von Wasser und frisch gemörsertem oder gemahlenem Hirsemehl (im Norden auch Wei-zen- oder Gerstenmehl), aber auch zerstoßenem Trockengemüse, Reis, Nudeln, Kuskus, etc. Der fast ganz von saurer oder frischer Milch bedeckte Kloß wird manchmal mit Butter übergossen und schließlich in einer Holz- ALMOGAREN 46-47/2015-2016MM39 schüssel serviert. Der große Saharaforscher Theodor Monod definiert: "Ein grauer, schmutziger Brei, manchmal ohne Salz oder Fett und daher auch noch fade, obwohl mit Ziegen- (oder Menschen-)haaren, Strohresten und wunderbar knirschendem Sand verfeinert ... Nach dem Essen leckt man sich die Finger ab – vor allem die Hohlräume dazwischen, was noch einen gu-ten Bissen zutage bringt – und wischt sie dann an den herrlich sauberen, blanken, glatten, während der ganzen Strecke vom Sand gescheuerten Fuß-sohlen ab." (64) wörtl. ta lalt: mittelgroße, tief halbkugelige bis hyperbolisch geformte Holzschüssel mit breitem, oft schnitzverziertem Rand, dunkelbraun oder schwarz durch Russ-Fett-Imprägnierung; Fassungsvermögen etwa 6-15 Liter. Gilt (wie die größere Ausführung namens a lal) als die "charakteris-tische" Holzschüssel der Twareg. (65) wörtl. ure : Gold, das bei den Twareg als unreines Metall gilt und deshalb abgelehnt und nicht verarbeitet wird. Als Schmuckmaterial wird Silber verwendet. Das Wort ure findet sich aber – vielleicht als Gedanke an ein edles Wertmetall – oft in poetischen Metaphern und Sprichwörtern. (66) talhint, mask.: alhin (ar.), syn. amdun: Dämon, böser Geist; ar.: Djinn. (67) wörtl. abro : feste, weiße Gewanddecke, bestehend aus reiner Wolle oder gemischt mit Baumwolle, rechteckig (ca. 1,50 x 5 m); gilt im Ahaggar als absolutes Luxus-Bekleidungsstück und hoch geschätztes Wintergewand, das tagsüber als Umhang und nächtens zum Einrollen beim Schlafen dient. Herkunftsgebiet ist Gourara in der algerischen Sahara. (68) wörtl. ajjen: hockenlassen, "Hockplatz"; segen: hocken/hinknien lassen, was auf zwei Arten geschehen kann: a) auf den abgewinkelten Vorder- und Hinterbeinen knien oder liegen, der Bauch berührt dabei den Boden; b) mit abgewinkelten Vorderbeinen knien, wobei die Hinterbeine gerade bleiben und der Bauch den Boden nicht berührt. (69) Gemeint ist eine abro -Decke (s. Anm. 67) zur Sattelpolsterung. (70) wörtl. aserǧu: ein etwa 0,75-1 m langer "Gegengurt", der auf der linken Seite des Kamelreitsattels am unteren Teil eines Metallringes (tawinest) fixiert ist. Ebenfalls an diesem Ring ist ein Ende des vorderen und des hinteren Sattelriemens (ase lu, pl. ise la) angenäht, während sein anderes Ende eine Öse formt. Die beiden ise la sind fixe Bestandteile eines jeden Kamelreitsattels für Männer und befinden sich unter den Holzteilen, wel-che die Karkasse der Sitzflächen (ifedyan) bilden. (71) wörtl. ahayif: Sattelgurt, dessen eines Ende durch die beiden Ösen der ise la (s. oben) geführt und dort festgemacht wird, während das andere rechtsseitige Endstück mit mehreren frei herab hängenden, üppigen Zier- 40MMALMOGAREN 46-47/2015-2016 quasten (tattulin) aus Ziegenhaar (Rundgeflecht und bunte Schussfäden) versehen ist. Reittiergurte werden immer aus Ziegenhaar gefertigt. (72) wörtl. iseÐfar, sg. aseÐfer: Satteldecke, Polsterung, Schutzabdeckung des Tierrückens unter dem Reit- oder Lastsattel; aseÐfer n-amis: Kamel-satteldecke, im Ahaggar fast immer eine Baumwolldecke. Ihre Zahl hängt von der Qualität wie auch von der körperlichen Konstitution des Tieres ab, doch meistens werden zwei als ausreichend betrachtet. (73) wörtl. ta ant: Zügel (Führungsstrick) aus einem gedrehten Ledergeflecht. Seine Befestigung erfolgt mittels Knopfverschluss an einem Kupferring (tiǧemt) im rechten oberen Nasenflügel des Reitkamels, von wo er unter der Kehle hindurch zur linken Seite des Reiters führt. Der Zaum kann sehr aufwändig verziert sein, indem manche Teile kunstvoll in mehrfarbigem Leder geflochten und/oder mit Lederfransen behängt sind. (74) wörtl. ise iren, sg. ese ir: trockenes, verdorrtes (Stück) Holz, Brennholz; in Erweiterung auch für Akazie (allg.) verwendet. (75) wörtl. tabelboÐ: kleiner Sack oder Beutel aus unterschiedlichen Leder-sorten (Hase, Ziege, Waran) oder aus Stoff hergestellt. (76) wörtl. eššaš: aus dem Arabischen entlehnter Name für einen aus industri-ellem Gewebe bestehenden Stirn- und Gesichtsschleier. Er wird sowohl zur Arbeit als auch bei Festen getragen und ist viel billiger als die indigoblauen Baumwolltücher aus dem Sudan. Seine Länge variiert zwischen vier und zwölf Metern und seine Breite ist mit 0,80-0,90 m ziemlich einheitlich vor-gegeben. Früher bestand der eššaš fast ausschließlich aus weißem, seltener aus dunkelblauem oder schwarzem Musselin europäischer Fabrikation. Heute überwiegt importiertes Gewebe aus China in allen möglichen Far-ben – von dottergelb über olivgrün bis feuerrot: eine große Verlockung für junge Männer! Bei festlichen Anlässen werden gerne zwei Tücher unter-schiedlicher Farbe verwendet: der meist weiße eššaš verhüllt Stirn und Gesicht und lässt nur einen schmalen Spalt für die Augen frei, während der indigoblaue, glänzende taǧulmust (s. Anm. 37) oder aleššo die von seinem Gegenstück vorgeformte Krone bildet. (77) s. Anm. 68. (78) Eine Grußformel der höflichen Nachfrage: "Wie geht es?", "Wie ist das Befinden, der Zustand?" etc. (79) Die beiden Namen sind Homophone von Wa-nnes und Ta-nnes, s. Erzäh-lung 8 und 9. Im eigentlichen Sinn ist Ayer der Name einer Gebirgsregion in Niger (Ayr) und Tayert jener des Twareg-Dialektes in der Ayr-Region. (80) wörtl. tesut: Kuh, allg. Im Ahaggar können Rinder kaum gehalten wer-den, da sie in Bezug auf das Futter viel zu anspruchsvoll und auf reichli- ALMOGAREN 46-47/ 2015-2016MM41 ches Tränken angewiesen sind. Abgesehen von ganz kleinen Versuchs-herden werden daher Rinder eher als Prestigeobjekte reicher Twareg gehal-ten, die aber in Dürreperioden, wenn Weiden und Wasser fehlen, meist zugrunde gehen. (81) wörtl. timet alin, sg. tamet alt (ar.): Duro, s. Anm. 43. (82) Im Allgemeinen beginnen die Mädchen ab dem Alter von 7-8 Jahren bis zur Pubertät (etwa 14 Jahre) ihre Haare wachsen zu lassen, die dann mit Hilfe ihrer Mutter, einer Schwester oder Freundin zu Zöpfen geflochten werden. Dieser Frisurtyp heißt asakat ("Kleinmädchen-Zopf") und ist das Merkmal der jungen Mädchen dieser Altersstufe; es selbst wird tamessekat genannt. (83) Als Kamm dient ein Gerät aus Holz oder Metall, zum Trennen und Schei-teln der Haare ein aus gleichem Material gefertigtes stilettähnliches "Fri-siermesser" (tazze leyt), ersatzweise auch ein Holzstäbchen als Frisierstift. (84) Die Frisuren der Mädchen und Frauen sind sehr aufwändig und werden daher nicht jeden Tag neu gefertigt. Die gebutterten Haare bleiben oft über Wochen ungewaschen und sind Sammelstellen unzähliger Milben und Läu-se, die sich die Frauen gegenseitig entfernen. Ein Mittel gegen Läusebefall ist das Einmassieren von mit Tabakpulver versetzter Butter in Haar und Kopfhaut (um gegen Kleiderläuse vorzugehen, wird die Kleidung über of-fenem Feuer ausgeschüttelt). (85) wörtl. ekelew: böser Zauber (Magie) im Sinne einer unerklärlichen und verderblichen Einwirkung (zu unterscheiden vom sog. "bösen Blick"). (86) wörtl. tah ut: Färse (vom 1.-2. Lebensjahr inklusive); notabene: sobald das Kalb zwei Zähne hat und relativ groß ist, gilt es als Rind. (87) wörtl. tage anfest (ar.): dicke Decke aus reiner Wolle, rechteckig (ca. 1,50 x 5 m), entweder rein rot oder rot mit bunten Streifen (dunkelblau, dunkel-grün, gelb); diese Farbstreifen werden tehatin (sg. tehit) genannt. Wie die Gewanddecke abro (s. Anm. 67) liegt ihre Herkunft im Gourara-Gebiet (Timimoun); sie dient als Decke oder als Teppich. (88) wörtl. aǧelmam (ar.: Gelta): permanentes oder temporäres natürliches Wasserreservoir, sei es ein See, ein Becken, ein Tümpel oder eine Pfütze. Häufig liegt ein aǧelmam in einer Felsstufung als eine Art Becken eines Steilabsturzes. (89) a u: (aus)rauben, überfallen, plündern (im Dialekt der Süd-Twareg); asaka: ein exemplarisches Beispiel für "Jungkamel" mit erheblichen Diffe-renzen in den Altersstufen: unter einem Jahr bei den Iwllemmeden Kel- Denneg; ein- bis zweijährig bei den Kel-Adrar; eineinhalb- bis dreijährig bei den Iwllemmeden Kel-Ataram; drei- bis vierjährig bei den Kel-Ayr und 42MMALMOGAREN 46-47/2015-2016 zwei- bis sechsjährig bei den Kel-Ahaggar. (90) igorasan, sg. egoras: Wildnis, Buschland, Wald, Tal; dey egoras: "draußen in der Wildnis, im Busch" (Gegensatz zur "Stadt"). Erläuterungen zur Aussprache: , , (dh, th, dz) pharyngalisierte, so genannte emphatische Konsonanten ǧ (dj) stimmhaftes dsch wie im italienischen giorno h (kh, x) am Gaumen gebildetes, gepresstes ch wie in deutsch Bach j/ž, š (ch, sh, sch) entsprechen dem deutschen sch wie in Schaf q uvulares k r gerolltes Zungenspitzen-R (gh, rh) schnarrender Kehllaut, ähnlich dem deutschen Hinter-zungen- R y palataler Halbvokal, entspricht dem deutschen j Abkürzungen: allg. allgemein, im Allgemeinen Anm. Anmerkung(en) ar. arabisch bzw. beziehungsweise d.h. das heißt fem. Femininum, weiblich mask. Maskulinum, männlich pl. Plural s. siehe sg. Singular syn. Synonym wörtl. wörtlich z.B. zum Beispiel Quellenhinweise: Erzählung 1: Hanoteau 1860: 146-151, no. VII (Ahaggar). 2a:Masqueray 1896: 188, no. 26 (Ahaggar). 2b:Foucauld und Calassanti-Motylinski 1922: 147f., no. 33 (Ahaggar). 3: eine im Twareg-Gebiet weit verbreitete Erzählung; jene aus dem Ahaggar hat Elyas als Hauptakteur, veröffentlicht von Masqueray 1896: 166f., no. V; die hier wiedergegebene Version mit Aniguran als Protagonisten stammt aus dem Ayr, s. unter anderem Casajus 1979 und Casajus & Khawad 1979. ALMOGAREN 46-47/2015-2016MM43 4, 5, 6 und 7: Rivaillé und Decoudras 2003: 35f., 37-40, 25f. und 29f., aufge-nommen im Ayr 1988-1991. 8: Foucauld und Calassanti-Motylinski in T.T.P. 1984: 299, no. 178 (Ahaggar). 9: Ennou ag Gamanrassa (Enu ag Gaman asa) und seine Mutter, in G.P.L.M. 1970 (Ahaggar). 10:Masqueray 1896: 263f., no. LXII (Ahaggar). 11: oft erzählt und aufgenommen: Hanoteau 1856 und 1860: 152-169, no. VIII; Neuwirth 1946: 35-41 (Ahaggar). Die hier wiedergegebene Version ist ver-kürzt und gewisse Abschnitte sind frei übertragen. 12:Hanoteau 1860: 143-145, no. VI (Ahaggar). 13 und 14: Blanguernon 1955: 145f. und 131 (Ahaggar). 15: Foucauld und Calassanti-Motylinski, in T.T.P. 1984: 294f., no. 174; Blan-guernon 1955: 131 (Ahaggar). 16: Foucauld und Calassanti-Motylinski, in T.T.P. 1984: 296, no. 175 (Ahaggar). 17: Ennou ag Gamanrassa (Enu ag Gaman asa) und seine Mutter, in G.P.L.M. 1970 (Ahaggar?). 18: Nicolas 1956: 953f., no. LXIII (SO-Twareg). Literatur: Alojaly, Ghoubeïd (1975): Histoire des Kel-Denneg. Kopenhagen: Akademisk Forlag. Alojaly, Ghoubeïd (1980): Lexique Touareg-Français. Kopenhagen: Akade-misk Forlag. Blanguernon, Claude (1955): Le Hoggar. Paris: B. Arthaud. Casajus, Dominique (1979): Une serie de mythes touareg. In Tisuraf 3: 83-98 (96f.). Casajus, Dominique et Makhmoud Khawad (1979): Quatre contes touareg. In Tisuraf 3: 63-78 (67 und 73f.). Claudot-Hawad, Hélène (1993): Les Touaregs. Portrait en fragments. Aix-en- Provence: Edisud. Foucauld, le Père Charles de (1951-52): Dictionnaire Touareg-Français. Dialecte de l'Ahaggar. 4 Bände, Paris: Imprimerie nationale de France. Foucauld, Charles de et Adolphe de Calassanti-Motylinski (1922): Textes Touareg en Prose (dialecte de l'Ahaggar). Publiés par René Basset. Alger: Jules Carbonel. G.P.L.M. (1970) = Grenier de poésies, légendes, maximes d'autrefois. Mor-ceaux choisis de littérature targuita; retrouvées et transcrites sous la direction de Kodja Abdelkader ben El Hadj Ahmed et Ahmera ag Acherf. 64 Text-seiten in Tifina und ein Heft mit 17 Seiten teilweiser Übertragungen. Paris. 44MMALMOGAREN 46-47/2015-2016 Hanoteau, Adolphe (1856): Le Targui et la fiancée du Chaambi. In Bulletin Africaine 1: 309-311. Hanoteau, Adolphe (1860): Essaie de grammaire de la langue Tamachek', renfermant les principes du language parlé par les Imouchar' ou Touareg. Paris: Imprimerie impériale. Masqueray, Emil (1896): Observations grammaticales sur la grammaire touareg et textes de la tamahaq des Taïtoq. Publiés par René Basset et Gaudefroy-Demombynes. Paris : Ernest Leroux. Neuwirth, Arnulf (1946): Märchen und Geschichten aus der Wüste. Wien: F. Beck, (S. 35-41). Nicolas, Francis (1956): Textes ethnographiques de la Tamâjeq des Iullemme-den de l'est. In Anthropos, 51: 949-966. Ritter, Hans (2009): Wörterbuch zur Sprache und Kultur der Twareg. Bd. I: Twareg-Französisch-Deutsch, Bd. II: Deutsch-Twareg (in Zsarb. mit Karl- G. Prasse). Wiesbaden: Harrasowitz. Rivaillé, Laurence et Pierre-Marie Decoudras (2003): Contes et légendes touaregs du Niger. Des hommes et des djinns. Paris: Karthala. T.T.P. (1984) = Textes touaregs en prose, de Charles de Foucauld et A(dolphe) de Calassanti-Motylinksi. Ed. crit. avec trad. par S. Chaker, H. Claudot, M. Gast. Aix-en-Provence: Edisud.
Click tabs to swap between content that is broken into logical sections.
Calificación | |
Colección | Almogaren |
Título y subtítulo | Erzählungen der Twareg am nächtlichen Lagerfeuer |
Autor principal | Trost, Franz |
Entidad | Institutum Canarium |
Publicación fuente | Almogaren |
Numeración | Número 46-47 |
Tipo de documento | Separata |
Lugar de publicación | Wien |
Editorial | Institutum Canarium |
Fecha | 2015-2016 |
Páginas | pp. 007-044 |
Materias | Prehistoria ; Islas Canarias |
Copyright | http://biblioteca.ulpgc.es/avisomdc |
Formato digital | |
Tamaño de archivo | 1000287 Bytes |
Texto | ALMOGAREN 46-47/2015-2016MM3 ICDIGITAL Separata 46-47/1 ALMOGAREN 46-47/2015-2016 IC 4MMALMOGAREN 46-47/2015-2016 ICDIGITAL Eine PDF-Serie des Institutum Canarium herausgegeben von Hans-Joachim Ulbrich Technische Hinweise für den Leser: Die vorliegende Datei ist die digitale Version eines im Jahrbuch "Almogaren" ge-druckten Aufsatzes. Aus technischen Gründen konnte – nur bei Aufsätzen vor 1990 – der originale Zeilenfall nicht beibehalten werden. Das bedeutet, dass Zeilen-nummern hier nicht unbedingt jenen im Original entsprechen. Nach wie vor un-verändert ist jedoch der Text pro Seite, so dass Zitate von Textstellen in der ge-druckten wie in der digitalen Version identisch sind, d.h. gleiche Seitenzahlen (Pa-ginierung) aufweisen. Der im Aufsatzkopf erwähnte Erscheinungsort kann vom Sitz der Gesellschaft abweichen, wenn die Publikation nicht im Selbstverlag er-schienen ist (z.B. Vereinssitz = Hallein, Verlagsort = Graz wie bei Almogaren III). Die deutsche Rechtschreibung wurde – mit Ausnahme von Literaturzitaten – den aktuellen Regeln angepasst. Englischsprachige Keywords wurden zum Teil nach-träglich ergänzt. PDF-Dokumente des IC lassen sich mit dem kostenlosen Adobe Acrobat Reader (Version 7.0 oder höher) lesen. Für den Inhalt der Aufsätze sind allein die Autoren verantwortlich. Dunkelrot gefärbter Text kennzeichnet spätere Einfügungen der Redaktion. Alle Vervielfältigungs- und Medien-Rechte dieses Beitrags liegen beim Institutum Canarium Hauslabgasse 31/6 A-1050 Wien IC-Separata werden für den privaten bzw. wissenschaftlichen Bereich kostenlos zur Verfügung gestellt. Digitale oder gedruckte Kopien von diesen PDFs herzu-stellen und gegen Gebühr zu verbreiten, ist jedoch strengstens untersagt und be-deutet eine schwerwiegende Verletzung der Urheberrechte. Weitere Informationen und Kontaktmöglichkeiten: institutum-canarium.org almogaren.org Abbildung Titelseite: Original-Umschlag des gedruckten Jahrbuches. Institutum Canarium 1969-2016 für alle seine Logos, Services und Internetinhalte ALMOGAREN 46-47/ 2015-2016MM5 Inhaltsverzeichnis (der kompletten Print-Version) Franz Trost Erzählungen der Twareg am nächtlichen Lagerfeuer ................................ 7 Alain Rodrigue, Francis Auvray, Jean-Pierre Levallois & Mado Villet New rock engravings at Imaoun (Morocco) .................................................. 45 Enrique Gozalbes Cravioto & Helena Gozalbes García Nuevos datos sobre el círculo megalítico de Mezora (Marruecos) ................ 55 Hans-Joachim Ulbrich Script mixing on ancient Fuerteventura and Lanzarote ................................ 69 Andoni Sáenz de Buruaga & Mark Milburn Documentation of burial practices around the Tingefuf E-1 goulet (Dougaj, West Sahara) .................................................. 87 Pablo Martín-Ramos, Jesús Martín-Gil, María del Carmen Ramos-Sánchez, María Teresa Periáñez-Ramos & Francisco Javier Martín-Gil Sobre las puntas de flecha procedentes del noroeste del Sáhara (especialmente, aterienses y neolíticas) ..................................... 101 Marcos Sarmiento Pérez Las investigaciones de Richard Greeff en Lanzarote en 1866-1867 ............ 113 Susan Searight-Martinet Nomenclature of engravings of axes in Moroccan protohistoric rock art .....131 Hans-Joachim Ulbrich Canarian "pyramids" revisited – are they pre-Hispanic or recent? .............. 139 Georgia Lee, Paul Horley, Paul Bahn, Sonia Haoa Cardinali, Lilian González Nualart & Ninoska Cuadros Hucke Secondary applications of rock art at coastal sites of Easter Island (Rapa Nui) ........................................................................ 157 Hartwig-E. Steiner Eine Kult-Höhle auf der Osterinsel am Kratersee ›Rano Aroi / Rapa Nui, Polynesien ...................................... 211 • 6MMALMOGAREN 46-47/2015-2016 Trost, Franz (2016): Erzählungen der Twareg am nächtlichen Lagerfeuer.- Almogaren 46-47/2015-2016 (Institutum Canarium), Wien, 7-44 Zitieren Sie bitte diesen Aufsatz folgendermaßen / Please cite this article as follows: ALMOGAREN 46-47/2015-2016MM7 Franz Trost Erzählungen der Twareg am nächtlichen Lagerfeuer Keywords: Sahara, Twareg, oral traditions, narratives, stories Zusammenfassung: Der vorliegende Artikel enthält mehrere Erzählungen eines vielseitig begabten, alten Nomadenvolkes, dessen Kultur und Existenz als ethnische Gruppe heute ernsthaft be-droht sind. Die Themen beschränken sich auf den natürlichen Lebensraum, sie handeln von Liebe und Tod, von besonderen Ereignissen, von Geistern und Dämonen. Ergänzt wird der Artikel mit dem Versuch, diverse Termini und Definitionen aus dem Dialekt-bereich der Twareg in den Rahmen einer erklärenden Annäherung zu stellen. Abstract: This article shows narratives of an old, very gifted, nomadic people, whose culture and existence as an ethnical group is seriously threatened today. The topics are bound to their natural environment, telling from love and death, of special occurences, of ghosts and demons. The article is completed with the attempt to bring together the terms and definitions of the twareg dialectical peculiarities with the adequate german expressions. Résumé: L'article présent contient plusieurs contes d'un ancien peuple nomade, amplement doué, dont la culture et l'existence en tant que groupe ethnique sont gravement menacées. Les sujets se limitent à son terrain habituel; il s'y agit d'amour et de la mort, d'événements spéciaux, d'esprits et de démons. Pour compléter l'article j'ai essayé de mettre nombre de termes et de définitions du domaine dialecte des Touareg dans un cadre de rapprochement interprétable. Die Twareg besitzen ein beachtliches Repertoire an mündlichen Überliefe-rungen, die von einem extrem ausgebildeten Sinn für Poesie und Prosa zeu-gen. Verse zu zitieren und aus dem Stehgreif formen zu können, gehörte bis vor wenigen Jahren zum festen Bestandteil der Kindererziehung. Meistens waren es die auf der sozialen Rangstufenleiter oben stehenden Aristokraten, die sie praktizierten und aus diesen Schöpfungen die privilegierten Ausdrucks-formen der herrschenden Ethik machten. Mit der Dichtkunst eng verbunden ist die Sangeskunst. So war es (und ist es auch heute noch) für einen Mann wichtig, ein guter Sänger wie ein guter Krieger zu sein! Bei den Frauen ist im Allgemeinen das Liederrepertoire geringer entwickelt als bei den Männern, Almogaren 46-47 Wien 2016 7 - 44 8MMALMOGAREN 46-47/2015-2016 die bei jeder sich bietenden Gelegenheit ihre Singstimme erklingen lassen. Derlei Darbietungen werden vom Publikum stets gerne und aufmerksam ge-hört, wobei es weniger auf die Stimmqualität des Sängers (oder der Sängerin) ankommt und auch kaum auf eine reichhaltige Tonfülle geachtet wird, son-dern viel mehr auf den Text, der zu wiederholten Begeisterungsrufen veran-lassen kann. Für das persönliche Ansehen ebenso von Bedeutung ist es, über umfangrei-che Kenntnisse in Bezug auf Geschichten, Erzählungen, Anekdoten und Fa-beln zu verfügen – ein literarisches Genre, das mit dem Namen taneqqist, pl. tineqqas, bezeichnet wird. Meistens besitzen die Schilderungen und Berichte einen fiktiven, oft belehrenden Inhalt, sie sind humoristisch gefärbt oder kön-nen in Gleichnisform (z.B. bei den Tierfabeln) auftreten. Auch gehören dieser Gattung das Gerede (zum Nachteil anderer), das Geschwätz und der Klatsch an. Ein anderer Begriff lautet tanfust, pl. tinfusin, der (vor allem bei den Kel- Ahaggar und Kel-Adrar) für eine Heldentat oder kriegerische Glanzleistung, im Allgemeinen aber meist für eine historische Erzählung (einer tatsächlichen, länger vergangenen Begebenheit) in Verwendung steht. Der Wechsel zwischen den Themen ist dabei fließend und an keine fixe Regel gebunden. Der Vortra-gende kann wählen, er kann weglassen oder erweitern und alles nach seiner seelischen Verfassung, seinen Sorgen, seinen Freuden, seinen Hoffnungen etc. zum Ausdruck bringen. Man braucht nur auf den Pisten in Begleitung eines verschleierten Targi zu gehen, um bald zu merken, wie sein Geist von der überwältigenden Atmosphäre der ihn umgebenden Landschaft beeinflusst wird. Es ist jedoch am nächtlichen Lagerfeuer, wenn sich alle um die züngeln-den Flammen versammeln, wo die Twareg am meisten ihre Vorliebe für die Erzählkunst, für die Musik und die Gesänge zum Ausdruck bringen. Mit die-sen Aktivitäten untrennbar verbunden sind die sog. ihallen, sg. ahal, "galante" Festversammlungen, die vor allem auf die jungen Menschen eine außeror-dentliche Anziehungskraft ausüben (s. Anm. 57). Durch neu entstandene Le-bensbedingungen sind diese Zusammenkünfte praktisch schon fast zur Gän-ze verschwunden und leben nur noch in der intimen Form des Hofierens wei-ter. Geblieben aber ist bis auf den heutigen Tag die hohe Zahl an mündlichen Überlieferungen, an Erzählungen und Legenden, in der sich die poetische Seele der Twareg prächtig entfalten kann. Es wird erzählt, dass in der mythischen Ur- und Schöpfungszeit der Stein noch "weich" war – ein symbolisches Bild, das die Fragilität und Plastizität jener Materialien illustriert, die zur Ausbildung der noch in den Anfängen steckenden und noch unentwickelten Gesellschaft dienten. Später härtete sich ALMOGAREN 46-47/ 2015-2016MM9 der Stein und es begann sich ein Wandel zu vollziehen, der – wie es heißt – "vom natürlichen Unterstand (Abri, Höhle) zum beweglichen Zelt, vom plum-pen Dialekt zur vollendeten Sprache, vom Kleintier zum Kamel, vom Heiden zum Muslim, ... führte". Man ahnt hier etwas von der Rechtfertigung der heu-tigen Twareg über die Zerschlagung der saharischen Ureinwohner. Diese werden Ijebbaren, sg. Ajebbar, genannt, ein Name, der auf die arabische Vo-kabel Jabbar mit der Wurzel j-b-r ( ) zurückgehen dürfte und "Wesen von gewaltiger Größe" und im erweiterten Sinn "starker Mann" bedeutet. Entspre-chend ihrem Körpermaß hinterließen diese Ijebbaren imposante Grabmonu-mente und Steinsetzungsformen wie auch eine unendlich hohe Zahl an Stein-artefakten, Felsbildern und Inschriften; letztere sind bereits mit der Tifina - Schrift verwandt, aber noch nicht ganz zu entziffern. Die Twareg anerkennen wohl die ungeheure Kraft und phänomenale Produktion ihrer legendären Vor-fahren, sehen aber in ihnen eher ungeschlachte, naive und friedliche Indivi-duen – Eigenschaften, die in einer Gesellschaft, die dem Raub und dem Krieg einen hohen Wert beimessen, nicht gerade lobenswert erscheinen. Auch wird ihnen die Ausübung von Götzendienst zugesagt, eine für die Twareg eher sym-patische Schwäche, über die sie sich abends in ihren Zelten lustig machen. In jener Zeit, als "der Stein sich härtete", kam ein kulturstiftender Urheros auf die Welt, der bei den SO-Twareg Amerolqis heißt. Gemäß dem Ursprungs-mythos (bes. dem der Kel-Nan) gilt er als der Erfinder der Sprache und des Tifina -Alphabetes, der Musik und des Geigeninstrumentes der Twareg. Amerolqis war der Besitzer des Wissens und der Klugheit wie auch ein großer Liebhaber der Frauen. Damals war der Koran noch nicht "herabgekommen" und der Name des weisen Helden dürfte auf den vorislamischen arabischen Dichter Amr-u-l-Qays zurückgehen. Bei den Kel-Ayr (bes. den Kel-Ferwan), Iwllemmeden Kel-Denneg und Kel- Geres wird der mythische Gründungsheros Aniguran (bei gewissen Iwlle-meden Aliguran) genannt, bei den Nord-Twareg trägt er den Namen Ama-mellen. Er gilt als Schöpfer der höfischen Literatur, der Kunst des Geigen-spielens und der Tifina -Schrift; auch werden ihm jene arteigenen Felsbilder zugesprochen, welche die charakteristischen Szenen des noch heute zu beob-achtenden Nomadenlebens zeigen. Mit ihm begann der Aufbruch in eine Epo-che der Klarheit, der Intelligenz und der Kreativität, die als Höhepunkt der Twareg-Kultur betrachtet wird. Von dieser Zeit zu erzählen ist Teil der Erzie-hung, die jedes Twareg-Kind im Schoße seiner Familie erhält. Um Amamellen/Aniguran verteilen sich verschiedene familiäre Rollen, die besonders durch seine Schwester, seinen Neffen mütterlicherseits und seinen eigenen Sohn verkörpert werden – eine Dreiheit, welche die Hauptprotago- 10MMALMOGAREN 46-47/2015-2016 nisten der Verwandtschaft veranschaulichen. Weitere Darsteller sind eine im Dienst der Familie stehende Sklavin mit ihrem Sohn, gelegentlich auch ein Handwerker (Schmied) und dessen Gattin. Der mit als Hauptakteur auftreten-de Schwestersohn (wörtl. agg-elet-ma: "Sohn der Tochter der Mutter") wird von den Nord-Twareg Elyas (Elias) und von den Kel-Ayr und einigen SO-Twareg Adelase genannt. Ein anderer, selten gebrauchter Name ist Batis, abgeleitet von aba ti-s: "sein Vater existiert nicht". Tatsächlich kommt sein Vater in den verschiedenen Versionen dieser Erzählungen nie vor und Elyas/ Adelase tritt immer als der Neffe mütterlicherseits von Amamellen/Aniguran auf – eine Situation, welche die Wichtigkeit der matrilinearen Verwandschaft bekräftigt, die jenseits von individuellen Strategien ihre Regeln erhält. In den Erzählungen erscheint der Neffe als der unvermeidliche und stets zu Späßen aufgelegte Partner seines Onkels mütterlicherseits (annet-ma), der ihn ver-geblich versucht auszuschalten oder gar zu töten. Elyas/Adelase verkörpert mithin eine mythische Idealfigur, die durch Intelligenz, List und Tüchtigkeit in der Lage ist, seinen Onkel (als klassifikatorischen Vater) vor allem auf dem Gebiet zu übertreffen, das er selbst in hohem Maß besitzt: die Intelligenz! Wenn auch der Onkel als maßgebende Autorität immer als Feind seines exis-tenziell gefährdeten Neffen figuriert, so erlauben andererseits dessen Wissen, ja Weisheit, ihn als vollwertig anzuerkennen und sich mit ihm gleich zu stel-len. Was hier dauernd vor Augen geführt wird, ist einerseits die Rivalität und andererseits die Verwandtschaft der beiden Protagonisten: beide besitzen in höchstem Grad Wissenseigenschaften, die sie von den anderen Personen un-terscheiden und beide gehören derselben weiblichen Kernfamilie (ebawel) an. Letzteres bedeutet im übertragenen Sinn, dass sie aus "demselben Zelt" her-vorgegangen sind und "dieselbe Milch" getrunken haben. Wenn daher in ei-ner Erzählung gleichzeitig Amamellens eigener Sohn und der uterine Neffe auftreten, so wird immer der Erstgenannte zu seinem Nachteil gezeigt, der hinsichtlich "Wissen" nie mit Elyas konkurrieren kann. Es bekräftigt dies die Tatsache, dass einem adligen Targi der Sohn seiner Schwester lieber ist als sein eigener (und seine Schwester ihm lieber ist als seine Gattin). Die über Amamellen/Aniguran und Elyas/Adelase verfassten Erzählun-gen, Parabeln, Rätsel und sprichwörtlichen Gedanken werden stets mit neuen Zusammenhängen bereichert und dem täglichen Leben der Twareg angepasst. Anschließend werden sieben Beispiele angeführt (Erzählung 1-7), die diesem Zyklus angehören. Thema I: Familie 1 Taneqqist-n-Amamellen d Elyas – Die Geschichte von Amamellen und Elyas Amamellen hatte eine Schwester, und sooft diese einen Knaben zur Welt ALMOGAREN 46-47/2015-2016MM11 brachte, tötete er diesen. Das ging bis zu jenem Tage, an dem sie zur gleichen Zeit wie ihre Sklavin niederkam. Die Schwester von Amamellen gab ihren Sohn der Sklavin und nahm deren Sohn mit sich. Sie vertauschte also die beiden Knaben. Amamellen kam, ergriff das Kind und tötete es. Der Sohn der freien Frau (1) blieb bei der Sklavin, er wuchs heran und wurde ein Mann (2); sein Name war Elyas. Amamellen wartete nur darauf, Elyas eine Falle zu stellen und ihn zu töten. Aber Elyas war schlauer als er, so dass dieser sein Vorhaben nicht ausführen konnte. Eines Tages wurde Elyas von großem Durst geplagt. Amamellen kannte die Wasserstelle auf dem Berg, gab aber deren Lage nicht bekannt. Immer wenn es Nacht wurde, ging Amamellen heimlich mit seinen Sklaven auf den Berg, um dort die Herden zu tränken und kehrte zurück, solange die Leute noch schliefen. Da der Boden des Berges aus glattem Fels (3) bestand, der keine Fußabdrücke hinterließ, griff Elyas zu einer List: Er bestrich die Sanda-len der Sklaven mit Fett (4), wartete den nächsten Morgen ab und folgte sodann ihren Spuren. Dort, wo die Sandalen den Fels berührt hatten, hinterließen sie gut sichtbare, fettige Abdrücke, die bis zum Wasser führten. Amamellen merkte das Treiben Elyas' und folgte ihm. In dem Moment, als sich Elyas über das Wasser beugte um zu trinken, sah er darin den Schatten von Amamellen, der gerade sein Schwert zog und im Begriff war, damit seinen Hals zu treffen. Rasch sprang er auf die andere Seite des Wassers und floh. Amamellen kehrte zu seinem Zelt zurück. Eines Tages ging er in ein gro-ßes Tal und machte dort mit den Füßen von toten Tieren Spuren von Kamelen (5), Ziegen, Schafen und Eseln. Auch setzte er drei alte Kamele (imuǧar) aus, von denen das eine einäugig, das andere krätzig (6) war und das dritte einen abgeschnittenen Schwanz hatte. Danach kehrte er wieder in sein Zelt zurück. Am folgenden Tag sprach er zu Elyas: "Geh doch in jenes Tal dort und berich-te uns, was du gesehen hast." Elyas ging in das Tal und als er zurückkam fragte ihn Amamellen: "Hast du das Tal besucht?" "Ja", antwortete Elyas, "ich habe es besucht." "Und was hast du gesehen? Gefällt es dir oder gefällt es dir nicht?" "Es gefällt mir, bloß es gibt in ihm die Fußspur (7) von toten Tieren und drei alten Kamelen, von denen eines einäugig ist, das andere krätzig und das dritte einen abgeschnittenen Schwanz hat." "Wie unterscheidest du die Fußspur eines lebenden von der eines toten Tie-res?" fragte ihn Amamellen. "Die Fußspur eines lebenden Tieres kommt auf sich selbst zurück [d.h. der Fuß wirft Sand hinter sich], während dies bei einem toten Tier nicht der Fall 12MMALMOGAREN 46-47/2015-2016 ist", antwortete Elyas. "Woran erkennst du, ob ein altes Kamel einäugig ist oder beide Augen hat?" fragte Amamellen weiter. "Das einäugige Kamel frisst gewöhnlich auf der Seite seines guten Auges an den Bäumen." "Und woran erkennst du den Unterschied zwischen jenem Kamel, das krät-zig ist und jenem, das es nicht ist?" "Jenes, das krätzig ist, schabt sich an allen Bäumen, denen es begegnet." "Und was lässt dich ein Kamel mit abgeschnittenem Schwanz von einem mit ganzem Schwanz unterscheiden?" "Wenn ein schwanzloses Kamel Kot auswirft, machen die Kotkugeln einen Haufen, während das andere sich seines Schwanzes bedient, um den Kot zu zerstreuen." Eines Tages ging Amamellen an einen Ort, wo er eine große Menge Gras (8) zusammentrug und es zu mehreren Haufen schichtete. Dann kehrte er zurück und sagte zu Elyas: "Morgen gehst du zu jenem Ort und bringst das Gras, das ich dort aufgehäuft habe." Nachdem er das zu ihm gesagt hatte, eilte er zu dem Ort zurück und ver-steckte sich in einem der Grashaufen. Er wartete auf Elyas, denn er beabsich-tigte ihn endlich zu töten. Elyas kam und sammelte das gesamte Gras bis auf einen Haufen ein, dem er sich nicht näherte. Seine Gefährten sagten zu ihm: "Du hast alle Grashaufen gesammelt, warum lässt du diesen da liegen?" Elyas antwortete: "Dieser atmet [d.h. er bewegt sich mit Amamellens Atem] und die anderen nicht." Als Amamellen das hörte, stand er auf, nahm seine Lanze und warf sie auf Elyas, doch er verfehlte ihn. So rief er: "Gehe, ich verneige mich vor dir, Sohn meiner Schwester, den sie geboren hat und einer Sklavin unterschob!" 2 Ansicht gegen Einsicht Das folgende Lehrstück besitzt bei den Kel-Ahaggar bereits sprichwörtli-chen Charakter. a. Amamellen spricht zu Elyas: "Es ist eine Dummheit, wenn ein Mann seine Tochter einkleidet." Elyas spricht zu Amamellen: "Das ist keine Dummheit. Sie vergrößert dort die Schar (den Bestand) von Kindern." b. Variante: "Es ist unsinnig, seine Tochter in eine so arme Familie zu ver-heiraten, dass man selbst nach ihrer Hochzeit genötigt ist, sie zu kleiden." Elyas antwortete: "Das hat wenig zu bedeuten; durch ihre Kinder vergrö-ßert sie doch die Familie." ALMOGAREN 46-47/ 2015-2016MM13 3 Die Wahl des Schwiegersohnes Aniguran hatte eine Tochter, die von zwei Männern geliebt und begehrt wurde. Eines Tages sagte er zu ihnen, dass er sie erst auf die Probe stellen müsse, um zu erfahren, welcher intelligent genug sei, um sein Schwiegersohn zu werden. Er gab den Auftrag, Lastsäcke (9) zu bringen, schlachtete sodann eine Ziege und ließ die Kamele beladen. Dann sprach er zu einem der Anwär-ter: "Steig auf dein Reittier, wir werden gemeinsam eine Tour durch die Wüs-te (10) unternehmen." Sie bestiegen ihre Tiere und ritten in die große, flache Wüste hinaus (11). Sie ritten und ritten bis die Sonne heiß über ihnen stand. Da sagte Aniguran: "Man muss daran denken, der Wüste ihren Teil zu geben." Der andere hieb der Ziege ein Bein (12) ab und warf es auf den Boden. Es wurde spät und sie kehrten zu ihren Zelten zurück, um sich schlafen zu legen. In der Morgendämmerung schnitt Aniguran einer weiteren Ziege die Kehle durch, ließ wieder die Lastsäcke und die Kamele bringen und sagte zu dem anderen Mann: "Komm, wir reiten zusammen in die Wüste hinaus, heute ist es deine Tour." Sie ritten und ritten bis die Sonne heiß über ihnen stand, dann sprach er: "Man muss daran denken, der Wüste ihren Teil zu geben." Sein Begleiter führte sein Kamel neben das von Aniguran und begann mit ihm zu plaudern: "Wir haben das Jahr so und so verbracht, wir haben diese und jene Reise unternommen, wir haben da und dort einen Plünderungszug unternommen, ..." So redete und redete er bis sie in der Dämmerung wieder in ihr Zeltlager zurückkamen. Dort fragte ihn Aniguran: "Was hast du der Wüste als ihren Teil gegeben?" Der andere antwortete: "Der Teil der Wüste ist doch das Gespräch! Nun haben wir sie durchquert und gar nicht bemerkt, wie die Zeit verging; wir haben die Beschwerlichkeit der Reise nicht gespürt." Bevor sie sich niederleg-ten, sprach Aniguran zu ihm: "Nimm das Fleisch heraus." Dieser griff in den Sack und nahm die ganze Ziege hervor. Aniguran gab seine Tochter dem, der mit seiner Intelligenz gewonnen hatte. 4 Aniguran versucht, seinen Neffen zu töten Aniguran dachte, wenn er seinen Neffen aus dem Wege schaffen würde, so müsse er es mit Verstand tun, wie alles, was er unternahm. Er rief ihn also und sprach zu ihm: "Lieber Neffe, ich habe in letzter Zeit viel nachgedacht. Ich konnte sehen, dass du nun ein intelligenter und listenreicher junger Mann geworden bist, und ich verschweige dir nicht, dass ich mir diese Gaben für meinen unwissenden Sohn gewünscht hätte. Ich gestehe dir, dass ich auf dei- 14MMALMOGAREN 46-47/2015-2016 ne Intelligenz eifersüchtig war, aber ich habe nachgedacht: Wo ist der Unter-schied? Wenn ich dem glaube, was mich unsere Ahnen gelehrt haben, so bist du mein Sohn, denn der andere ist wirklich zu dumm, als dass ich schwören könnte, er sei der meinige. So habe ich beschlossen, aus dir einen Mann zu machen: Ich gebe dir die Aufsicht über unsere beste Schafherde. Bring dich aber bei dieser Arbeit nicht um. Wenn die Sonne hoch steht, such dir die Küh-le des Schattens und schlaf einen Augenblick; du wirst es dir wohl verdient haben." Adelase , der die Hartnäckigkeit seines Onkels kannte, war von diesem plötzlichen Zeichen der Zuneigung erstaunt und beschloss, mehr denn je auf der Hut zu sein. Als er sich nun schon einen guten Monat um die Schafe gekümmert hatte, bemerkte er, dass ihm jemand ständig folgte, wovon er aber niemandem ein Wort sagte. Eines Tages ging er wieder auf die Weide und nahm dieses Mal eine Decke (13) mit. Gegen Mittag, als die Sonne am höchsten stand, wählte er einen schönen Schattenplatz, legte dort die "Königin" der Schafe (14) hin, fes-selte sie und kletterte dann über ihr in die Äste eines Baumes. Das Schaf lag gut unter der Decke verborgen und sah einem schlafenden Mann täuschend ähnlich. Einen Augenblick später sprang Aniguran aus dem Dickicht hervor und bohrte seine Lanze in die schlafende Form. Da brach oben in dem Baume sein Neffe in großes Gelächter aus. Aniguran verbarg sein Erstaunen und sei-ne Enttäuschung und suchte nach einer Ausrede, indem er sagte: "Großer Gott (15), ich danke dir! Und ich dachte, dass mein Neffe von dem Tier verschlun-gen worden sei, das da unter der Decke ist... Wie bin ich froh! Komm an mei-ne Brust, dass ich dich umarmen kann, mein Sohn!" Jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, kehrten sie gemeinsam zu ihren Zelten zurück: für Aniguran war es nur eine aufgeschobene Sache. Was Adelase betraf, so versprach er sich, in Zukunft doppelt vorsichtig zu sein. 5 Der zweite Versuch Adelase zu beseitigen Da der erste Versuch fehlgeschlagen war, dachte nun Aniguran einen Un-fall vorzutäuschen. Er bat Adelase , ihn auf einer Reise zu begleiten, die meh-rere Tage dauern würde. Für ihren Proviant ließ er einen mittelgroßen Proviantsack (16) bringen, den er mit ziemlich fettem und gut getrocknetem Fleisch füllte. Die Reise versprach demnach angenehm zu werden. Als Wasser-vorrat nahmen sie nur einen Schlauch (17) mit und zogen sodann zu Fuß ne-ben ihren Kamelen los. Die von ihnen benutzte Route war sehr strapaziös und führte durch hohe Berge. Unterwegs hörte der Onkel nicht auf, seinem Neffen zu wiederholen, dass man Wasser sparen müsse, denn die kommenden Tage ALMOGAREN 46-47/2015-2016MM15 würden noch mühsamer werden. So marschierten sie noch zwei weitere Tage und erreichten schließlich ein kleines, tief in der felsigen Berglandschaft lie-gendes Tal. Dort erklärte Aniguran, dass er sich mit Nomaden treffen müsse, die ihm einige Kamele schuldeten. Er vertraute seinem Neffen auch an, dass sie zu früh gekommen waren und wahrscheinlich zwei oder drei Tage auf die Nomaden warten müssten. Es liege also im eigenen Interesse bis dahin mit dem wenigen verfügbaren Wasser auszukommen. Aber die aus Trockenfleisch bestehende Nahrung verursachte Durst und die kostbare Flüssigkeit begann bald zu fehlen. "Es gibt kein Wasser in der Umgebung", verkündete Aniguran, "du musst also Durchhaltevermögen und Entschlossenheit beweisen, denn wir werden erst trinken, wenn die Nomaden eintreffen. Bis dahin wünsche ich dir mann-haft zu sein, denn ich kenne dich und bin überzeugt, dass du mir bald mit dem Gejammer eines Schwächlings in den Ohren liegen wirst." Adelase hatte keine Wahl und musste resignieren, denn ohne Wasser in sein Zeltlager zurück zu kehren, kam nicht in Frage. Am Morgen erklärte Aniguran seinem Neffen, dass er gegen Mittag auf den Berg steigen werde, um zu schauen, ob er die Nomaden in der Ferne erblicken könne. Bevor er ging, fügte er noch hinzu: "Höre, mein Sohn, es ist in deinem Interesse, gut im Schatten zu bleiben. Denn ich sehe, dass du bereits unter Durst leidest, und ich möchte nicht deinen Tod auf dem Gewissen haben. Bleib also hier, wäh-rend ich mich allein hinauf begebe." Aniguran kam erst zu später Nachmittagsstunde zurück. Adelase litt in-zwischen ernstlich an Durst. Er sah, dass sein Onkel bestens aussah, und die Art, mit der er sich mit dem Fleisch bediente, weckte seinen Argwohn. Es kam ihm der Gedanke, dass sein Onkel einen geheimen Ort kennen müsse, wo er den Durst stillen konnte und dass er beschlossen hatte, ihn verdursten zu lassen. Viel später in der Nacht versicherte sich Adelase , dass sein Onkel fest schlief und öffnete den Proviantsack. Er nahm Fett heraus, holte dann die Sandalen seines Onkels und beschmierte deren Sohlen mit einer dicken wohl-riechenden Schicht. Am Morgen zog Aniguran wie gewohnt seine Sandalen an, ohne etwas zu bemerken und ging auf den Berg, denn das am Abend ver-speiste Fleisch hatte ihn durstig gemacht. Nachdem er sich ausgiebig erfrischt hatte, verließ er die Quelle und stieg wieder zum Lager hinunter. Ihm auf den Berg zu folgen war für Adelase ein Kinderspiel, denn beim Gehen hatten die Sandalen Fettspuren hinterlassen, die sämtliche Ameisen der Gegend anzo-gen. So kam er an jene Stelle, wo sein Onkel nahe einer grünen Euphorbia (18) den Durst gelöscht hatte. Adelase trank ebenfalls recht ausgiebig, schnitt 16MMALMOGAREN 46-47/2015-2016 sodann die Euphorbia ab, welche der Orientierungspunkt für seinen Onkel war, und ersetzte sie durch ein anderes Wegzeichen. Als er wieder im Lager war, fragte ihn sein Onkel, woher er komme. "Ich ging, um mich im kühlen Schatten einer Akazie niederzulegen. Aber hast du dort oben die Nomaden kommen sehen?" "Nein", antwortete Aniguran, "übrigens habe ich mich mit dem Datum der Verabredung geirrt. Sie kommen erst am Sonntag und heute ist erst Mittwoch Abend." Am nächsten Morgen ging Aniguran wie jeden Tag auf den Berg und such-te die Quelle in allen Richtungen, konnte sie aber ohne den gewohnten Orientierungspunkt nicht finden und folglich auch seinen Durst nicht löschen. Müde und durstig stieg er wieder zum Lager hinunter, während sein Neffe heimlich seinen Durst gestillt hatte. Am Abend fand Adelase seinen Onkel erschöpft von Ermüdung und Durst. Er öffnete den Proviantsack und zog einige Fleischstücke heraus, die er zu essen begann. Dann sagte er zu seinem Gefährten: "Lieber Onkel, ich finde diesen Platz sehr schön und ich würde unseren Aufenthalt in diesem Paradies gerne verlängern. Im Übrigen sind unsere Nomadenfreunde unberechenbar und wir müssen sicher noch länger auf sie warten als vorhergesehen." Dann stimmte er ein Loblied auf das herrliche Tal an. Aneguran begriff, dass er seinem Neffen ausgeliefert war, der nun als Einziger die Wasserstelle finden konnte. Er trat also wieder den Rückzug an und versuchte sein Verhal-ten zu erklären: "Höre, mein Sohn, ich weiß, dass du hinter das Geheimnis gekommen bist. Aber glaube mir, dies alles habe ich nur getan, damit du ein Mann (19) wirst und um dich zu lehren, Durst und Müdigkeit zu ertragen sowie um deine Intelligenz in den verzweifeltsten Momenten zu stimulieren! Du hast auf meine Prüfung positiv reagiert und ich bin stolz auf dich! Füllen wir jetzt unseren Wasserschlauch und kehren heim." Aniguran gibt seiner Familie zwei Rätsel auf: 6 Wie trinkt man die Milch? Es kam der Tag, an dem Aniguran beschloss, für einige Zeit zu verreisen. Er versammelte seine Familie um sich und sprach: "Seht diesen Schlauch aus Ziegenleder (20). Ich habe die Öffnung mit einem Knoten verschlossen, der sehr kompliziert ist und den ich mir selbst ausgedacht habe (21). Ich werde jetzt weggehen. Wenn ihr wollt, nehmt alle Milch daraus, aber macht meinen Knoten nicht auf!" Da Aniguran nicht so schnell zurückkehrte, fand Adelase die Familie sehr hungrig um den zugeschnürten Schlauch versammelt. Niemand hatte den Befehl Anigurans zu missachten gewagt und niemand hatte die Lösung des ALMOGAREN 46-47/2015-2016MM17 Problems gefunden. Adelase dachte einige Augenblicke nach, dann nahm er den Schlauch und öffnete ihn vor der verblüfften Familie am Verschluss des Anus. Das ist eine Stelle, an die niemand denkt, denn man näht sie bei der Herstellung des Behälters ein für alle Mal fest zu (22). Adelase verteilte die ganze Milch, füllte danach den Schlauch mit Luft und machte die Anusöffnung wieder zu, ohne jenen Knoten berührt zu haben, den Aniguran am anderen Ende gefertigt hatte. Nach seiner Rückkehr begab sich dieser mit einem zu-friedenen Lächeln auf den Lippen zum Milchbehälter, denn die Luft, welche Adelase hineingepumt hatte, vermittelte den Anschein, als sei er noch ge-füllt. Als er jedoch den Schlauch betastete, um den Inhalt zu prüfen, musste er feststellen, dass er vor seiner ganzen Familie lächerlich gemacht worden war. Er warf seinem Neffen einen wütenden Blick zu, der für die Zukunft nichts Gutes bedeuten konnte. 7 Wie tötet man den Bock und hält ihn doch am Leben? Am nächsten Morgen stand Aniguran ganz fröhlich auf, denn er hatte sich ein noch schwierigeres Rätsel ausgedacht und meinte, dass niemand, auch nicht sein Neffe, diesmal die Lösung finden würde. Er trank genussvoll seine Milch und machte sich freudig fertig. Bevor er seine Kamele holen ging, rief er nochmals seine Frau, wie er es jeden Morgen gewohnt war, wenn er ihr seine Anordnungen für den Tag gab: "Höre, Frau, siehst du den jungen Bock (23), der dort an dem Pflock (24) gebunden ist? Wenn ich zurückkomme, möchte ich ihn tot und kochend in diesem Topf (25) vorfinden, aber auch le-bendig beim Weiden auf dem frischen Gras, das du dort drüben siehst." Die arme Frau war sehr verlegen, denn sie wusste nicht, wie sie es anstel-len sollte, den Bock gleichzeitig zu töten und weidend am Leben zu erhalten. Adelase kam ihr zu Hilfe, dachte einen Augenblick nach und riet ihr Folgen-des: "Nimm dein Messer, schneide dem Bock die Hoden ab und gib sie in den Topf zum Kochen. Verarzte dann den Bock und binde ihn dort beim Gras fest. Genetisch ist der Bock tot, weil er sich nicht mehr fortpflanzen kann und mein Onkel findet ihn sowohl kochend wie auch weidend vor." Bei seiner Rückkehr fand Aniguran sein Rätsel neuerlich gelöst. Er bekam eine große Wut auf seinen Neffen und schwor, sich irgendwann zu rächen. Thema II: Liebe und Zuneigung Eine sehr beliebte und häufig vorgetragene Erzählung ist jene über die gro-ße und treue Liebe zwischen Wa-nnes und Ta-nnes (tera hund ta n Wa-nnes et Ta-nnes); sie entspricht ganz der sensiblen Seele der Twareg. Es gibt davon mehrere Versionen, von denen hier zwei wiedergegeben werden. 18MMALMOGAREN 46-47/2015-2016 8 Wa-nnes und Ta-nnes – Version 1 Zwei Männer aus den Ayr ließen am gleichen Tag ihren Heiratsantrag stel-len (26). Sie heirateten am gleichen Tag und richteten sich zur gleichen Zeit in ihrem Zelt ein; auch wohnten sie am gleichen Ort. Ihre Frauen wurden schwan-ger und blieben bis zur Niederkunft zusammen. Sie entbanden zur gleichen Zeit. Die eine bekam einen Jungen, die andere setzte ein Mädchen in die Welt. Man fragte sie: "Welchen Namen werdet ihr ihnen geben?" (27) Eine alte Frau (28) sagte: "Nennt den Jungen Wa-nnes ('der Ihre') und das Mädchen Ta-nnes ('die Seine'). Wenn der Junge ein Mann (ales) und das Mäd-chen eine Frau (tameÐ) sein wird, werden sie sich miteinander verheiraten. Das ist der Grund, warum ich ihnen die Namen Ta-nnes und Wa-nnes gebe." Sie wuchsen heran und Wa-nnes heiratete Ta-nnes. Sie liebten sich leiden-schaftlich (29) und konnten es nicht aushalten, von einander getrennt zu sein. 9 Wa-nnes und Ta-nnes – Version 2 Zwei Frauen hatten zwei Brüder geheiratet, die zu den besten Kamelreitern (30) zählten. Jede Frau bekam ein Kind: die erste einen Knaben namens Wa-nnes, die andere ein Mädchen namens Ta-nnes. Eines Tages nahmen die Männer an einem Kriegszug teil, von dem keiner lebend zurückkam. Die beiden Frauen zogen ihre Kinder Seite an Seite auf; so wuchsen sie heran. Als sie erwachsen waren, versuchten sie, sich nicht zu trennen und verliebten sich ineinander. Ta-nnes war wunderschön und wurde von mehreren Männern begehrt. Der Stamm (31) ihrer Mutter verlangte, dass sie einen der ihren nehme. Die beiden Mütter lehnten dies ab und hatten nur das Glück ihrer Kinder im Sinn. Wü-tend darüber, überfielen die Männer vom Stamm der Ta-nnes das Mädchen, als es mit den Kamelen zum Trinken am Brunnen weilte, während die Kame-le vom Stamm des Wa-nnes gerade von der Tränke weggezogen waren. Man fesselte das junge Mädchen an zwei Kamele. Das eine wurde bergan, das an-dere bergab getrieben, um es zu zerreißen. Aber Wa-nnes beeilte sich Hilfe zu leisten und seine überaus große Liebe ließ ein Wunder geschehen: Unter sei-ner Umarmung erholte sich Ta-nnes wieder vollständig und blieb am Leben. Die Moral dieser Geschichte: "Die Liebe ist stärker als der Tod!" (32) 10 Poesie über zwei Liebende Die Müdigkeit hat als Heilmittel den Schlaf. Die Liebe ist offenkundig, schmerzlich. Sie wächst wie die von Wa-nnes für Ta-nnes. Sie benagt das Fleisch, es bleibt nichts als Knochen übrig. ALMOGAREN 46-47/2015-2016MM19 11 Die Entführung Diese Erzählung ist im zentralen Saharagebiet gut bekannt. Es gibt davon mehrere Versionen, in denen der Held des Abenteuers bald diesem, bald je-nem Stamm angehört; auch enden sie unterschiedlich. Allen Fassungen ge-meinsam ist jedoch die seit ihrer Kindheit bestehende Verbundenheit der beiden jungen Hauptakteure. In einem Jahr, als wieder Dürre und Misswuchs die wenigen Gärten in den Anbauzentren (33) des Ahaggar heimgesucht hatten, sprach das Oberhaupt (34) zu seinen schweigsamen Männern: "Wir wollen einen Raubzug (35) ge-gen unsere Todfeinde, die Chaamba (36), unternehmen!" In den stummen Gesichtern leuchtete hinter den Gesichtsschleiern (37) sofort die Raublust auf. Alsbald zogen sie auf ihren schnellen Kamelen nordwärts und fielen wie eine Heuschreckenwolke auf die friedlichen Oasen nieder. Sie töteten viele der anwesenden Männer und trieben alles Vieh mit sich. Unter der Beute be-fand sich ein junges Chaamba-Mädchen; sie war schlank wie ein Olivenzweig (38). Als die Krieger um das glimmende Feuer saßen und ein betagter Targi sah, dass jeder das Mädchen für sich haben wollte, brach er das Schweigen und sprach: "Oh, ihr Krieger! Jeder von euch wäre imstande, mit seinem Gewehr (39) einen kleinen Vogel in der schwankenden Schirmkrone einer Akazie abzu-schießen. Eure starken Hände wissen das Schwert zu führen. Eine Handvoll Datteln und ein Schluck Milch genügen euch als Nahrung und Trank für ei-nen ganzen Tag. Ihr seid die gefürchteten Krieger des Ahaggar, der ganzen Wüste bis hin zu den großen Dünen (iǧidan) und bis in den Sudan (40). Wollt ihr in Streit geraten, weil jeder von euch das Mädchen begehrt, dessen Ge-sicht einem weißen Mond gleicht? Oh, ihr Krieger, wie wäre es, wenn unser Oberhaupt (= amenukal) sie zu seiner Frau machen würde, um so die Ursache jeder Zwietracht aus der Welt zu schaffen?" Die Krieger schwiegen zuerst betroffen. Sie stimmten zwar nicht mit ih-rem Herzen zu, nahmen aber doch den Vorschlag des vorausblickenden Alten an. So kam es, dass das Mädchen beim amenukal blieb und dieser sie zur Frau nahm. Im Lande der Chaamba aber, wo man mit unendlichem Fleiß die Gärten neu bewässert und neue Viehherden großgezogen hatte, war der Verlobte des Mädchens zurückgeblieben. Wie durch ein Wunder war er damals dem gro-ßen Gemetzel entgangen, als die Kel-Ahaggar ihren Raubzug unternahmen. Zu ihm sprachen die Chaamba: "Du bist ein schlechter Mann (41)! Deine Braut wurde weggeführt und du, du lebst noch! Bist du vielleicht verwundet, verstümmelt oder gebrechlich? 20MMALMOGAREN 46-47/2015-2016 Hast du kein Herz? Möchtest du nicht Frauenkleider anziehen, da du doch kein Krieger sein kannst oder willst?" Doch der Jüngling besaß das Herz eines Löwen, wenn er auch alle diese Kränkungen schweigend hinnahm. Er veräußerte in aller Stille seine Gärten, kaufte sich um den Erlös ein Kamel und einen Sattel und versorgte sich mit Proviant. Dann ritt er der Morgensonne entgegen. Nach langem Ritt durch die öde, lebensfeindliche Steinwüste (asrir) und durch die schwarzen Berge und Täler des Ahaggar erreichte er eines Tages das Lager eines Hirten. Er grüßte ihn höflich und fragte voll Neugier: "Kannst du mir eine sichere Nachricht über das entführte Mädchen meines Volkes geben?" "Ja, das kann ich", gab dieser bereitwillig zur Antwort, "sie ist bei uns und wurde die Frau des Königs (42)." "Ich gebe dir zehn imet alen (43), wenn du mich zu ihr bringst." "Ich werde dir Zutritt zu ihr verschaffen", versprach der Hirte. Als die Sonne im Begriff war unterzugehen, trieb der Hirte die Ziegen zum Zelt des amenukal, schlich heimlich näher und flüsterte der jungen Frau zu: "Ich bringe Nachricht aus deiner Heimat. Es ist einer der Deinigen, der dich sehen möchte. Aber ich weiß nicht das Verwandtschaftsverhältnis zwischen euch, ob es dein Bruder oder dein Mann ist." Sie aber fauchte ihn an: "Ich kenne niemand mehr aus meiner Heimat!" Am nächsten Morgen streifte der Chaambi einen Ring (44) von seinem Finger, gab ihn dem Hirten und sprach: "Bring diesen Ring zu ihr, sie kennt ihn gut." Wieder ging die Sonne unter und der Himmel wurde veilchenblau, als der Hirte sich in die Nähe der jungen Frau schlich, die gerade beim Ziegenmelken war. Er nahm den Ring aus seiner Tasche und warf ihn in ihre Milchschale (akus). Sie sah den Boten mit ihren dunklen Augen an, nahm den Ring heraus und wurde sehr nachdenklich. Als die Sonne ein drittes Mal hinter den dunkelroten Bergmauern des Ahaggar niedersank, ergriff der Chaambi einen scharfen Dolch. So bewaffnet schlich er zum Zelt der Frau. "Erkennst du mich?" fragte er sie leise. "Gewiss erkenne ich dich wieder," antwortete sie unterwürfig, "du bist mein Verlobter und mein Kreuzvetter (45)." Aber ihr Herz war nicht bei ihm, sondern beim amenukal des Ahaggar. Der Eindringling fragte weiter: "Warum wolltest du nicht mit mir kommen, als ich dir durch den Hirten die Botschaft sandte?" Sie konnte darauf keine Antwort geben. Er zog seinen Dolch aus der Leder-scheide, setzte ihn mit der Spitze an ihre Brust und befahl: "Komm! Wir ge- ALMOGAREN 46-47/2015-2016MM21 hen zusammen oder ich töte dich und schneide dir den Kopf ab!" "Nein", flehte sie, "töte mich nicht, lass uns gemeinsam fliehen!" Der Jüngling nahm sie bei der Hand und führte sie zu seinem Kamel, das schon zum Aufbruch bereit war. Schnell legte er den Sattel und das Gepäck auf, während der Hirte den Wasserschlauch (abayo ), den Behälter mit Milch (tanwart n-ah) und einen Mundvorrat aufpackte. Der Chaambi stieg auf das Tier und setzte die Frau hinter sich. Dann erhob sich das Kamel und trabte mit wiegendem Schritt (46) über den schwarzen Felsboden. So ritten sie mehrere Nächte und die folgenden Tage immer bis in die Mittagshitze hinein. Erst als das Kamel deutliche Zeichen von Ermüdung zeigte, gönnten sie sich eine Rast. Wenn auch die Beiden einen beträchtlichen Vorsprung haben mochten, ahnte der amenukal sofort alles, als er sein Zelt aufsuchte und es leer fand: Seine Frau konnte nur von einem Chaambi entführt worden sein. Im Sand sah er eine schlechte, verwehte Kamelspur nordwärts führen. "Mögen eure Väter sterben!" (47) schrie er und gab seinen Untergebenen den Befehl, sein Kamel zu satteln. Schwer bewaffnet mit Gewehr, Lanzen (alle und taǧanbat) (48), Schwert und Schild bestieg er das Tier. Ganz allein ritt er der untergehenden Sonne entgegen, allein wollte er den Frauenräuber zum Kampfe stellen. Indessen waren die Beiden an eine Stelle gelangt, wo spärliche Tamarisken-büsche in einer sandigen Senke sich vor dem glühenden Wind duckten. Vor-sichtig scharrte der Jüngling den Boden auf, indem er mit den Händen den feinen Sand beiseite schaffte und sich gewandt in das dunkle Wasserloch (49) hinunterließ. Das Kamel starrte indes gurgelnd und mit gierigen Augen auf den Tränktrog (50), wohinein die Frau das Wasser für das Kamel schüttete. Während des Schöpfens erblickte sie ganz in der Ferne einen Reiter und er-kannte das Kamel des amenukal. Sofort begann ihr Herz höher zu schlagen und sie leerte das Tränkwasser jeweils in den Sand. Aus dem Brunnen ertönte die Stimme des Chaambi: "Hat das Tier noch immer nicht genug bekommen?" "Nein", sagte die Frau mit Falschheit, "es ist durstig wie zuvor." Inzwischen sprengte der amenukal im Galopp heran und sprang vom Ka-mel, ehe sich dieses auf die schwieligen Knie fallen lassen konnte. Als der Chaambi hinaufsah, erblickte er die dunkle Gestalt des amenukal gegen den Himmel gezeichnet, in der Hand den Schild und die langen Lanzen, an der Seite das scharf geschliffene Schwert. Wie eine Statue stand er da und rief verächtlich zu dem Burschen hinab: "Möge deine Mutter verrecken! Du woll-test meine Frau entführen. Hättest du doch lieber Frauenkleider in deiner Heimat angezogen. Nun wirst du in Qual und Pein sterben!" Der Chaambi murmelte bloß: "So will es Gott!" (51) Der amenukal ließ einen Strick in das Wasserloch, den sich der Jüngling um den Körper legen 22MMALMOGAREN 46-47/2015-2016 musste und mit dem er dann oben gefesselt wurde. Sein Kamel wurde ge-schlachtet und er selbst in der umbarmherzigen Glut der Mittagshitze neben das brennende Feuer geworfen, mit dem Gesicht zum Boden gewendet. Um seine Qual zu vermehren, legten die Beiden ihm heiße Fleischstücke auf den Rücken. So verbrachten sie vor seinen Augen essend und trinkend den ganzen restlichen Tag. Als die Abenddämmerung sich über die Wüste senkte, erhob sich der amenukal, um sein in der Ferne weidendes Kamel zu holen, das mit dem Maul in den spärlichen Dornensträuchern der Umgebung nach Nahrung suchte. Diesen Augenblick nutzte der Chaambi, um leise zu der Frau zu sprechen: "Gib mir einen Schluck Wasser." "Nein", sagte die Frau, "ich gebe dir nichts." "Warum nicht? Fürchtest du nicht Gott?" entgegnete der Chaambi, "du bist Blut von meinem Blut und nur deinetwegen bin ich in das Unglück geraten, denk daran!" Als die Frau sich erweichen ließ und näher trat, um ihm den Schluck Was-ser zu reichen, schnappte er mit den Zähnen nach ihrer Hand. "Nun binde mich von den Fesseln los, sonst zerfleische ich dir die ganze Hand", sprach er, während sich seine Zähne in ihr Fleisch gruben. So war sie gezwungen, mit der linken Hand seine Lederfesseln zu lösen. Inzwischen kehrte der amenukal mit seinem Kamel zurück. Der Chaambi stürzte sich auf das Gewehr seines Gegners, der seine Unvorsichtigkeit, sich nur wenige Augenblicke davon getrennt zu haben, mit dem Leben bezahlen musste. Von der Kugel getroffen lag er in seinem Blut. Dann hieb der Chaambi dem toten Feind den Kopf ab und befestigte ihn schmachvoll und völlig un-verhüllt auf der Spitze des vorderen Sattelholmes. Stets hatte das Oberhaupt im Leben das Gesicht hinter dem blauen Schleier verborgen getragen, nun im Tode sollte es den höhnischen Blicken aller seiner Feinde preisgegeben wer-den. Als der Jüngling mit der Frau in seinem Lande angekommen war, sprach sie demütig zu ihm: "Du tapferer Held, du bist mein Herr und Gebieter." Doch dieser öffnete ihr die Pulsadern und schickte sie in die weite Wüste zum Sterben hinaus. Die Wüste ist grausam und hart, sie vergibt einen began-genen Fehler nie! 12 Die Geschichte eines Mannes, der das Land suchte, in dem man nicht stirbt Diese Geschichte ist die eines Mannes, dessen Mutter sehr alt (52) war und der für sie ein Land suchte, in dem die Bewohner nicht sterben müssen. Er brach auf und machte sich auf den Weg, dieses Land zu suchen. Wenn er in ALMOGAREN 46-47/ 2015-2016MM23 ein Gebiet kam und dort Gräber (53) sah, zog er sofort weiter und setzte seine Suche fort. Er durchstreifte alle Länder, fand aber keines, wo er nicht auf Gräber stieß. Eines Tages kam ein Mann auf ihn zu und sprach: " Wohin gehst du stets? Du bist unaufhörlich unterwegs, durchwanderst alle Gebiete und lässt deine alte Mutter allein." "Ich suche ein Land, wo es keine Gräber gibt", antwortete dieser. "Wenn du mir eine Belohnung (54) gibst", erwiderte der Mann, "so über-nehme ich es, dir ein Land zu zeigen, wo es keine Gräber gibt." "Wenn du mir ein Land zeigst, in welchem die Bewohner nicht sterben müssen und es daher auch keine Gräber gibt, gebe ich dir alles, was du be-gehrst." Sie brachen zusammen auf und kamen in ein Land, in dem es tatsächlich keine Gräber gab. Sie ließen ihre Kamele bei den dortigen Leuten bis zum nächsten Morgen lagern. Dann sprach der Führer zu seinem Gefährten: "Jetzt kannst du mir meinen Lohn geben, denn ich habe dich in ein Land geführt, wo es keine Gräber gibt." Dieser gab ihm alles, was er besaß und verabschiedete sich von seinem Begleiter, er selbst blieb im Land. Eines Tages besuchte er einen benachbarten Ort und ließ seine Mutter schlafend bei seinen Gastgebern zurück. Als diese sahen, dass die Frau schlief, erwürgten sie die Alte, teilten ihr Fleisch und legten ein Stück für ihren Sohn auf die Seite. Als dieser zurückkam, sagten sie zu ihm: "Deine Mutter lag im Sterben (55), wir haben sie erwürgt und ihr Fleisch geteilt. Hier ist dein Teil, den wir auf die Seite gelegt haben." Bestürzt rief der Sohn aus: "Ich suchte einen Ort, in dem die Bewohner nicht sterben müssen, und ich kam hierher, wo man sie isst!" Nachdem er das gesagt hatte, floh er so schnell er konnte. 13 Die zwei Brüder und der Löwe Man erzählt, dass zwei Brüder, die noch im Zelt ihrer Eltern wohnten, in seltener Zuneigung vereint waren. Sie befanden sich beinahe schon im hei-ratsfähigen Alter (56) und machten öfter den jungen Mädchen in den benach-barten Zeltlagern den Hof. Dort, bei den Festversammlungen der jungen Leu-te (57), zeigten sie sich schon als wahre adelige Twareg (Ihaggaren). Eines Abends ging einer von ihnen allein fort, bekleidet mit seinen schöns-ten Gewändern und bewaffnet mit seinem Speer (58). Da das Zeltlager, zu dem er sich begab, ziemlich nahe lag, ging er zu Fuß los. Als er eine Stunde gegangen war, bemerkte er, dass der Ort, den er aufsuchen wollte, verlassen war (59). Ein Löwe (60) trieb sich dort auf Futtersuche herum. Als dieser den Jüngling sah, erschrak er, begann zu brüllen und sprang hoch. Der Bursche 24MMALMOGAREN 46-47/2015-2016 reagierte blitzschnell und begann sich zu verteidigen. Er warf seinen Speer auf das Raubtier und durchbohrte seine linke Vorder- und Hinterpfote. Doch trotz der durch die Waffe verursachten Behinderung konnte der Löwe mit seiner gesunden Pfote nach dem Jüngling schlagen; er tötete und zerfetzte ihn. Am nächsten Morgen, als der andere Targi seinen Bruder nicht zurück-kommen sah, wurde er von einer starken Unruhe erfasst. Er bewaffnete sich mit seinem Speer, seinem Schild und seinem Schwert und machte sich auf die Suche, indem er den Spuren folgte. Als er am Ort des schrecklichen Gesche-hens angekommen war, konnte er schnell die hier abgelaufenen Ereignisse rekonstruieren und den fatalen Ausgang konstatieren. Da er ein beherzter jun-ger Mann war, wollte er nicht in sein Lager zurückkehren, ohne seinen Bruder gerächt zu haben. Er überzeugte sich, dass sein Schwert leicht aus der Scheide ging, ergriff seinen Schild und packte seinen Speer. Bereit zum Kampf, be-gann er mehrmals aus Leibeskräften zu schreien: "Arr arr rrrinek!" (Dieser Schrei besitzt anscheind die Kraft, den Löwen wütend zu machen.) Bald darauf erschien der Löwe mit gesträubter Mähne und furchterregenden Augen. Wieder stieß der Bursche seinen Schrei aus, worauf das wütende Tier hochsprang, soweit dies seine verwundeten Pfoten zuließen. Sofort warf der Targi seinen Speer, der aber den Löwen verfehlte. Dieser versuchte den Jüng-ling mit einem Prankenschlag zu töten, der aber konnte den Angriff mit sei-nem Schild abwehren. Es gelang ihm sein Schwert zu zücken und mit einem Hieb den Kopf des Löwen abzuschlagen. Mit der Trophäe und dem zerbroche-nen Speer seines Bruders kehrte er zu seinem Zeltlager zurück, wo er von allen Anwesenden als großer Held gefeiert wurde. Thema III: Geister und Dämonen Eine nicht unbedeutende Rolle in den gerne am nächtlichen Lagerfeuer vorgetragenen Erzählungen nehmen die spirituellen Wesen und Dämonen ein. Sie werden allgemein Kel-esuf: "die Wesen (Grundbedeutung: Leute) der Lee-re, der Abgeschiedenheit" genannt, ein anderer Name lautet Kel-tenere: "die Wesen der Einöde, der Wüste". Erklärend muss dazu gesagt werden, dass im Verständnis der Twareg ein tiefer Gegensatz zwischen einer von Menschen bewohnten Örtlichkeit und der leeren Wüste besteht – folglich dort, wo Geselligkeit herrscht und wo Gespräche geführt werden, und andernorts, wo der Mensch einsam (usaf) ist. Für die Twareg ist die Wüste ein nach Gottes Plänen wohlgeordneter Raum, in dem jedes Lebewesen und jeder Strauch eine ganz eigene Qualität bekommt und daher schon deshalb die Gemeinsamkeit zwischen Menschen, Tieren und ALMOGAREN 46-47/2015-2016MM25 Pflanzen viel stärker hervortritt. Als Bedrohung für diese Ordnung werden die überall vorkommenden Kollektivgeister angesehen, die Unheil und Krank-heiten unter Menschen und Tieren verbreiten können. Dieser Geisterglaube steht in keinem Widerspruch zum Islam, da selbst der Prophet die Existenz von Geistwesen anerkannt hat (s. Koran, Sure 72: die Djinn = Dämonen, die eine Art Mittelklasse zwischen Mensch und Engel bilden). Eine weitere Bezeichnung der allen Twareg bekannten Geister ist Kel-ama al: "die Wesen der Erde, des Bodens". So werden Wasserbehälter immer an hölzerne Pfosten gehängt, damit sie nicht mit dem Erdboden, auf dem die Geister wohnen, in Berührung kommen. Verbreitet ist auch der Name Kel-aho : "die Wesen der Nacht", woraus hervorgeht, dass sie als Geister des äu-ßeren Randes verstanden werden, die sowohl einen Bezug zur Erde wie auch zur Dunkelheit haben. Ihr Erscheinen kann vom Vollmond begünstigt werden, der die Erde erhellt und so die Nacht zu einer erweiterten Welt der Geister macht. Aber auch am Tage, in der Zeit der großen Sonneneinstrahlung, strei-fen sie umher. Sie versammeln sich mit Vorliebe an Plätzen, wo Tiere ausge-nommen werden, was ihre große Affinität zum Blut bezeugt. Sie wählen ihre Behausungen in Quellen, einsamen Bergen, Schluchten, Grotten und Dünen, an Begräbnisorten oder in bestimmten Bäumen. Als "Geisterbäume" gelten Acacia albida (abse ), Maerua crassifolia (aǧar), Balanites aegyptiaca (taburaq) und der Baobab. Um sie von dort zu vertreiben, verletzen die Twareg den Baumstamm mit einem Schwerthieb, mit dem Messer (die Kel-esuf meiden das Eisen) oder durch einen Steinwurf; sie zupfen sieben Dornen des taburaq- Baumes ab und rufen Allah mit dem Ruf Bismillah an oder legen Steine auf einen Fels nahe dem Platz, der als gefährlich gilt. Die Kel-esuf gelten als antropomorph und man schreibt ihnen sowohl männ-liches wie weibliches Geschlecht zu, wie auch die Fähigkeit zur Fortpflan-zung. Sie müssen Nahrung zu sich nehmen und sind sterblich. Sie ernähren sich von Wurzeln und Kadavern, und auch von der Milch der Tiere, die abends nicht mehr gemolken wurden. Von den Kel-Ahaggar wird daher eine die gan-ze Nacht in den Eutern verbliebene Milch nie verwendet, sondern weggeschüt-tet. Die Kel-esuf reisen viel und unwahrscheinlich schnell, sie leben als No-maden und Hirten ähnlich den Twareg und manifestieren sich in diversen Naturerscheinungen (Feuer, Wind, ...). Für Menschen sind die Kel-esuf im Allgemeinen unsichtbar (nicht für Tie-re), obwohl einige Twareg behaupten, ihnen in sehr entlegenen Orten begeg-net zu sein oder nachts ihr Feuer gesehen zu haben. Wenn z.B. der Wind über die Kämme der Dünen streicht und der Sand zu "singen" beginnt, dann sind es stets die Kel-esuf, die nun trommeln, sprechen oder streiten. Stets treten sie 26MMALMOGAREN 46-47/2015-2016 als vom Menschen mit Gestalt und Willen begabte Mächte seines Erlebens auf. Üblicherweise sind sie jedoch dem Menschen gegenüber nicht strikt feind-lich gesinnt, verhalten sich aber grundsätzlich hinterlistig und unberechenbar, manche auch bösartig. Die Erfahrungen und Erlebnisse mit den Kel-esuf sind sehr zahlreich. Jeder Targi kennt seine eigenen, die er in den abendlichen Stun-den seinen aufmerksamen Zuhörern erzählt. 14 Der verschwundene Brei Es geschah kurz vor Einbruch der Nacht, als ein Targi, dessen Name heute schon in Vergessenheit geraten ist, in einem Tal einige Feuer leuchten sah. Er lenkte sein Kamel auf sie zu und kam in ein kleines, aus wenigen Zelten be-stehendes Lager, dessen Bewohner gerade im Begriff waren, ihre Speise zu sich zu nehmen. Kaum war er vom Kamel gestiegen, als man ihn auch schon zum Essen einlud. Da er sehr hungrig war, verkürzte er die üblichen Grußfor-meln (61) und setzte sich auf die für ihn ausgebreitete wunderschöne Decke (62). Er beobachtete die Leute, die zwar wie Twareg gekleidet waren, deren Stammeszugehörigkeit er aber nicht erkennen konnte und die keine Ähnlich-keit mit seinen Bekannten besaßen. Alles schien ihm seltsam, aber der Höhe-punkt war, als man ihm die Speise (63) in einer Schüssel (64) aus Gold (65) servierte. Augenblicklich begriff er, dass er sich hier in einem Lager der Kel-esuf befand. Rasch bemächtigte er sich der Schüssel, eilte zu seinem Kamel, das glücklicherweise nicht abgesattelt war und floh damit in die Nacht hinaus. Nach einiger Zeit hielt er sein Tier an, um die Speise zu betrachten. Doch diese war – oh Wunder! – verschwunden. Diese Tatsache bestärkte ihn, dass er das Opfer von Geistwesen geworden war, die in diesem Tal ihr Lager bezo-gen hatten. 15 Talhint (66) en-Šiši – Der Geist von Šiši Diese Erzählung berichtet von einem Geist in Frauengestalt, der sich in der Einöde zu einem allein reisenden Targi gesellte und ihn bei allen Tätigkeiten nachäffte. Sie ist bei den Twareg gut bekannt, die dafür den im obigen Titel angeführten Ausdruck bereits sprichwörtlich gebrauchen. Es war einmal ein Adliger namens Šiši, der ganz allein mit seinem Kamel unterwegs war. Man weiß heute nicht mehr, ob er aus dem Ahaggar oder dem Ajjer stammte. Jedenfalls war es bei Einbruch der Nacht, als plötzlich eine groß gewachsene Frau vor ihm stand, eingehüllt in ein weites Gewand (67). Sie war viel größer als der Mann, der ihr aufrecht stehend nur bis zu den Schultern reichte. Er ließ sein Kamel in die Knie gehen (68) und schon be-gann die Frau es abzusatteln. Der Mann nahm die Waffen herunter – die Frau ALMOGAREN 46-47/2015-2016MM27 entfernte die Sattelpolsterung (69). Der Mann löste den Gegengurt (70) – die Frau zog am Sattelgurt (71). Der Mann stellte den Sattel auf den Boden – die Frau ergriff die Satteldecken (72) und legte sie auf den Sattel. Der Mann nahm sein Kamel und fesselte es an den Vorderbeinen – die Frau machte den Zügel (73) ab. Der Mann sammelte Holz (74) ein – die Frau tat desgleichen. Der Mann entfachte ein Feuer – die Frau nahm Holzstücke und warf sie in das Feuer. Der Mann entnahm aus einem kleinen Sack (75) Mehl – die Frau schnür-te den kleinen Sack wieder zu ... Diese Fürsorge und Nachahmung aller seiner Tätigkeiten beunruhigte den Targi, der immer mehr zu der Überzeugung kam, in dieser sich andienenden Person einen Agg-esuf vor sich zu haben. Er begann in einer Grube aus Sand sein Fladenbrot (taǧella) durch Überschichten mit heißer Asche und Glut zu backen – die Frau wiederholte jede seiner Bewegungen. Der Mann legte daraufhin seinen Kopfschleier (76) ab, ergriff ein brennendes Holzstück und fuhr sich damit schnell mit dem nicht vom Feuer erfassten Ende in seine Haa-re. Die Frau nahm ebenfalls ein brennendes Holzstück und ahmte seine Bewe-gung nach, irrte sich aber mit dem Endstück, so dass ihre Haare Feuer fingen. Sie stieß laute Schmerzensschreie aus und rannte davon; er sah sie nie wieder. Nach seiner Rückkehr erzählte er, dass sie sehr, sehr schön gewesen war. Er behauptete sogar, noch nie eine solch schöne Frau gesehen zu haben: inna ur iney tameÐ ti t tula tihusay. 16 Ǧelwan, die Tochter der Einöde Ǧelwan ist ein weiblicher Dämon mit hundert offenen Mäulern, die alle unaufhörlich schreien und fressen wollen. Es war in alten Zeiten, als ein vornehmer Targi mit seinem Kamel auf eine Reise ging. Eines Abends kam er in ein großes Tal, wo er ein Feuer sah. Er ritt näher, hielt sein Kamel an und ließ es in die Knie gehen (77). Eine Frau kam auf ihn zu, sagte kurz ma n ewin (78) und kehrte wieder auf ihren Platz zu-rück. Der Mann war der Ansicht, dass diese Frau ein menschliches Wesen sei. Er setzte sich und wartete, dass sie ihm das übliche Mahl der Gastfreund-schaft (amaǧaru) anbieten würde – vergeblich. Als er alle Hoffnung darauf verloren hatte, stand er auf und ging sein Kamel holen. Da sah er, dass die Frau das Tier getötet hatte. Er hörte aufeinanderfolgend immer nur den Schrei: "Ich, ich, ich!" Als er sich umsah, bemerkte er eine Kreatur mit hundert Mäu-lern. Ihr ganzer Körper bestand aus Mäulern und mit allen Mäulern fraß sie. Wenn sie Fleisch in eines derselben steckte, schrie ein anderes Maul: "Ich!", alle Mäuler schrien "Ich, ich, ich!" 28MMALMOGAREN 46-47/2015-2016 Ganz verblüfft fragte der Mann: "Wer bist du?" Sie antwortete: "Ich bin Ǧelwan, die Tochter der Einöde (welt-esuf)!" Als er diese Worte vernahm, floh er schleunigst. 17 Ǧelwan, die wundersame Kuh In dieser Erzählung tritt Ǧelwan in Tiergestalt auf. Ein Mann hatte einen Sohn und eine Tochter namens Ayer und Tayert (79). Leider starb die Mutter der beiden Kinder früh und der Vater heiratete noch einmal. Aber die Stiefmutter liebte weder das Mädchen noch den Knaben. Die leibliche Mutter hatte ihren Kindern als einziges Vermögen eine Kuh (80) hinterlassen, um die sich Tayert liebevoll kümmerte. Diese Kuh schied zur großen Überraschung der Geschwister anstelle von Kot und Urin Datteln und Duros (81) aus. Wohlweislich versteckte das Mädchen die Datteln in ihren langen, zu Zöpfen geflochtenen Haaren (82). Eines Tages, als die böse Mutter kam, um Tayert zu kämmen (83) und nach Läusen abzusuchen (84), fand sie die Datteln und fragte das Mädchen: "Woher hast du sie?" "Die sind von meinem Bruder, der sie mir in die Haare gesteckt hat", ant-wortete Tayert. Doch die Stiefmutter glaubte ihr nicht und bedrängt von den Fragen gab das Mädchen zu, dass die Datteln von der Kuh Ǧelwan stammten, die sie ausgeschieden hatte. Als eines Tages der Vater schwer erkrankte, beschloss die Frau, die Kuh zu töten, um ihren Mann mit dem Fleisch kräftigen zu kön-nen. Die Kinder weinten, aber Ǧelwan wurde dennoch getötet. Als die Kuh tot war und ihr Fleisch aufgeteilt wurde, konnte es von keinem Menschen verzehrt werden, und man bezichtigte Tayert der Zauberei (85). Man befahl ihr das Unglück abzuwenden, welches das Fleisch ungenießbar gemacht hat. Aber Ayer und Tayert liefen davon und erreichten die bis dahin versteckt ge-haltene Färse (86), die Ǧelwan geworfen hatte und – wie ihre Mutter – Milch, Datteln und Duros ausschied. Die Kinder wurden verfolgt, doch sie kletterten auf einen sehr hohen Baum in der Hoffnung, so ihren Häschern zu entkom-men. Aber sie wurden entdeckt und das herbeigerufene Oberhaupt des Stam-mes befahl Ayer herunter zu kommen. "Nein", widersprach der Knabe, "denn man wird meine Schwester töten, wenn ich sie alleine lasse." Da fiel der Blick des amenukal auf das Mädchen. Er sah wie schön sie war und verliebte sich in sie. Er rief: "Kommt beide herunter! Ich werde deiner Schwester einen 'goldenen' Teppich (87) und viele andere Geschenke geben." "Das ist aber nicht, was ich für sie will", antwortete Ayer, "gib ihr ein festes Haus, das man verschließen kann, um uns zu schützen." ALMOGAREN 46-47/2015-2016MM29 "Meinetwegen", sagte der amenukal, "sie soll es haben." Die Beiden stiegen herab und kurze Zeit später heiratete der amenukal das Mädchen. Als er eines Tages gerade abwesend war, brachten eifersüchtige Frauen Tayert in ihre Gewalt, erwürgten sie mit den eigenen langen Zöpfen und war-fen sie in ein großes Wasserbecken (88). Ayer stürzte heulend zum amenukal und berichtete ihm von der schrecklichen Tat. Gleich am nächsten Tag, nach-dem er eine Untersuchung eingeleitet hatte und alle Frauen umbringen ließ, begab er sich zu dem zwischen hohen Felsen liegenden Wasserbecken. Dort – oh Wunder der Liebe! – fand er Tayert lebend wieder, die aus dem Wasser zu ihrem geliebten Ehemann stieg. Gott beschützt die Schwachen und fesselt die Hände der Bösen! 18 A u-sakka (89) – der Jungkamelräuber Er ist jener Geist, den die Iwllemmeden Kel-Denneg am meisten fürchten. Einige wenige haben ihn gesehen: Er hat das Aussehen eines jungen Kamels, aber er hat nur ein Bein. Er ist von sehr weißer Farbe und unglaublich schnell ("es ist der Lauf in ihm"). Der Klang seiner Stimme ist je nach seinem Belie-ben der eines Jungkamels oder eines Rindes oder auch der einer Ziege. Er wohnt zwischen den hohen, festliegenden Dünen und den Bergausläufern (abada) wie auch in den igorasan (90). Wenn er ein menschliches Wesen ge-fangen hat, durchlöchert er dessen Kopf und trinkt durch das Loch sein Ge-hirn. Am Tage bleibt er in seiner Behausung. Hörst du ihn, musst du mit dei-nen Waffen Lärm machen, andernfalls wird er kommen (um dich zu töten). Anmerkungen: (1) wörtl. telellit, mask. elelli: a) freie Person im Sinne von Nicht-Sklave-Sein, frei von Geburt oder (wenn Sklave) durch Freilassung; b) adlige Person (der Twareg) (von Geburt), egal welchem Land, welchem Volk oder welcher Religion sie auch angehören möge. Mit einer anderen Formulierung wird unter einer freien Person jedes Individuum verstanden, welches das Recht hat, sich am politischen Gesellschaftsleben zu beteiligen. (2) wörtl. ales: a) "Mann" im Sinne eines verantwortlichen Erwachsenen, oft mit dem Beiklang von gut, mutig und reif, d.h. ein "echter" Mann im Alter von etwa 25-40 Jahren mit Lebenserfahrung; b) verheirateter Mann, Ehe-mann (mit Kindern). (3) esali: glatter, blanker Fels, der jegliches Begehen erschwert. (4) wörtl. tadent: (weißes) Fett vom Menschen oder Tier, lebend oder tot; im Gegensatz zu esim: geschmolzenes Tierfett, Mark. 30MMALMOGAREN 46-47/2015-2016 (5) wörtl. tillemin, sg. talemt: die im Ahaggar sehr gebräuchliche Bezeich-nung für "Kamelstute", während imnas, sg. amis, die am meisten gebrauchte Form für ein männliches Kamel (kastriert oder nicht kastriert) ist. (6) wörtl. ahiyo : Krätze, Räude; wird bei Kamelen oft durch Zecken hervor-gerufen. (7) wörtl. esker: Huf, Kralle, Klaue; Finger-/Zehennagel. (8) wörtl. iškan (pl. koll.): Gras, besonders frisches Weidegras, zarte Weide-pflanzen, Grünzeug und Gewächse, auch Gemüse und Teeblätter; iškan n-amadel: "Kieferpflanzen", d.h. wohlschmeckende ("kiefergerechte") Pflan-zen oder Gräser. (9) wörtl. imaytalen, sg. amaytal: besonderer, kissenartiger Lastsack aus der gegerbten Haut einer Ziege oder eines Schafes, früher auch aus der Haut eines jungen Mähnenschafes oder eines anderen Tieres gleicher Größe. Bei seiner Anfertigung wird die gegerbte Haut – mit der Glattseite nach innen – in der Mitte der Länge nach gefaltet und Rand auf Rand mit einem einfa-chen Vorstich zusammengenäht; der Hals bleibt offen, die Beinansätze hän-gen getrennt und frei außerhalb der Nähnaht und werden verknotet. Die Verwendung erfolgt in der Regel paarweise auf dem Kamelrücken, wobei ein Sack vor und der andere hinter dem Höcker zu liegen kommt, so dass beide zusammen einen druckstabilen Ringpolster für aufgelegte Lasten (Salz, Stricke der Wasserschläuche etc.) bilden. Die Füllung besteht meistens aus Hirse, Mais oder Bohnen, ersatzweise aber auch (nach Ver-kauf oder Verbrauch) aus Heu oder Stroh, Ziegen- oder Kamelmist als unerläßlichem Polsterballast. Das Fassungsvermögen eines amaytal schwankt zwischen 20 und 50 Litern. Die Karawanenleute aus dem Ahaggar bringen diese Säcke aus Niger mit, wo sie hergestellt werden. (10) wörtl. tenere: oft gebrauchte Bezeichnung für eine ausgedehnte Wüsten-ebene ohne Berge oder Dünen, in der sich jedoch Weiden befinden können. (11) wörtl. ahel imda newey tenere: "den ganzen Tag waren sie auf dem Weg durch die Wüste." (12) wörtl. tinse: Zehe beim Menschen; Pfote, Vorfuß (= vom Fuß bis zum Knie) beim Tier. (13) wörtl. tahwart: a) kleine, mehrfarbige Decke bzw. kleiner, bunter Teppich jeder Art; b) kleine ahwar-Decke, hergestellt aus Wolle oder Kamelhaar, rechteckig (etwa 1,50 x 4-5 m) und durchgehend bunt (überwiegend rot) gestreift; dient als Bodendecke, als Teppich oder als Schlafbedeckung, aber nicht als Gewanddecke. Herkunft Algerien, Tunesien und Tripolitanien. (14) Im Sinne von "Leittier": amalway. (15) wörtl. Ameqqar, eine sehr häufige Benennung für Gott (Allah). ALMOGAREN 46-47/ 2015-2016MM31 (16) wörtl. tamhit: mittelgroßer Lastsack aus der gegerbten Haut einer Ziege, eines Schafes, früher auch aus der eines jungen Mähnenschafes oder eines anderen Tieres gleicher Größe; die Narbung des Leders liegt innen. Die Öffnung wird durch den Tierhals gebildet, die Aufhängung ist dieselbe wie beim Wasserschlauch abayo (s. Anm. 17), d.h. sie erfolgt an den vier Bein-ansätzen, an denen Stricke befestigt werden. Der Sack dient vor allem zum Transport von Trockennahrungsmitteln (z.B. Korn) während der Wander-züge, befindet sich aber gelegentlich auch im Zeltinneren, wo er die Aufga-be eines Proviantsackes erfüllt. Sein Fassungsvermögen liegt je nach Grö-ße zwischen 20 und 70 Litern. (17) wörtl. abayo , ar. Gerba: Lederschlauch zum Aufbewahren und Transport von Wasser (auch Milch, Hirsesoße etc.), hergestellt aus der kompletten, nicht enthaarten Haut einer meist weiblichen Ziege. Auch wird das Fell-kleid von Ziegenböcken verarbeitet, das jedoch – besonders am Hals und am Rückenkern – weniger geschmeidig ist; früher wurden auch Gazellen-und andere Tierhäute (z.B. vom Wildschaf) verwendet, neuerdings auch Autoschläuche, die aber keinen Kühleffekt haben. Wasserschläuche müs-sen sehr schonend gegerbt werden, damit die Haut nicht brüchig wird. Das Fassungsvermögen eines abayo beträgt etwa 15-25 Liter, manchmal bis 40 Liter und mehr. (18) wörtl. tellah: Euphorbia granulata Forsk. var. involucrata (im Ahaggar). Alle Euphorbia-Arten führen einen gelblich-weißen Milchsaft, der verschie-dene giftige Inhaltsstoffe mit haut- und schleimhautreizender Wirkung ent-hält. Der giftige Latexsaft der E. granulata wird "Milch" oder "Molke" ge-nannt, daher die Benennung tell-ah: "sie hat Milch" bzw. im Arabischen umm-el-lebîna: "Mutter der Molke". (19) wörtl. ales: s. Anm. 2. (20) wörtl. tanwart: dünnwandiger, enthaarter Lederschlauch von Gerba – Grundform zur Aufbewahrung von Wasser, (saurer) Milch und dem Hirse-getränk bzw. der Hirsesoße a ehara (in Sahel a ejira/a ešira genannt); häu-fige Verwendung auch als Butterungssack oder –schlauch. Nach dem Ge-brauch wird der Balg mit Luft gefüllt, seine Öffnung hermetisch verschlos-sen, und dann im Zelt oder in der Hütte aufgehängt. (21) Gewöhnlich eignen sich die aus Leder, Ziegenhaar oder Pflanzenfasern bestehenden Bindematerialien nicht immer gut zum Verknoten und müs-sen daher nicht selten mittels spezieller Schlaufen, Knopf-Ösen-Verschlüsse oder anderer Hilfskonstruktionen verbunden werden. (22) Nach dem Gerbungsprozess eines Lederschlauches wird die Anusöffnung mit Baumwollstreifen verschlossen, die über den Einschnitt gelegt und mit 32MMALMOGAREN 46-47/2015-2016 Lederfäden zusammengenäht werden. Die Öffnungen der vier Beine blei-ben von einer Naht verschont, sie werden am äußeren Ende verknotet und bilden somit vier Befestigungsschlaufen, tidekmar, sg. tadekmert, genannt. An den zwei vorderen und den zwei hinteren Schlaufen wird ein Strick festgemacht, um den Schlauch (oder den Ledersack) aufhängen bzw. befes-tigen zu können; dieser Strick heißt ebenfalls tadekmert. (23) wörtl. abuleǧ, syn. adawal: Jungbock, noch nicht ganz ausgewachsen; kastriert oder nicht kastriert. Ein kastriertes Tier jeglicher Art wird aǧur genannt. (24) Gewöhnlich wird zum Anbinden von Jungziegen, Lämmern und Jungkälbern ein langes Seil (eseddi, "Kälberleine") verwendet, von dem ein Ende an dem in die Erde geschlagenen Holzpflock (anatter oder tamdit) befestigt wird, während das andere Ende eine Halsschlaufe bildet. Häufig sind es mehrere, in geeigneten Abständen angebrachte Laufschlingen, mit-tels derer die Jungtiere nachts angeleint werden. (25) Zum Kochen von Fleischgerichten verwenden viele Twareg metallene Kochtöpfe, während der Gebrauch von Tontöpfen eng mit der Zubereitung von Hirsebrei verbunden bleibt. Zu unterscheiden sind: a) der früher bei den Kel-Ahaggar weit verbreitete, heute jedoch selten gewordene große Henkeltopf aus (verzinntem) Kupfer; er wird, wie das "rote" Kupfer selbst, e ir genannt; b) der leichte und billige Henkeltopf aus emailliertem Eisen oder aus Aluminium; c) der bauchige Schmortopf namens el katkot (ar.) aus Aluminiumguss mit enger Öffnung und zwei Griffen. (26) Üblicherweise erfolgt die Übermittlung des förmlichen Heiratsantrages an die Brautfamilie durch einen oder mehrere Hochzeitsboten/Brautwer-ber, im Ahaggar abadrah, pl. ibadrahen, genannt; bedreh Wa-nnes i Ta-nnes or merewen-nit: "für den Wa-nnes und die Ta-nnes bei ihren Eltern anhal-ten." Angesprochen werden in der Regel der Brautvater, die Mutter wie auch die Braut selbst. Der Mittelsmann ist entweder ein enger Verwandter des Bräutigams (Vater, älterer Bruder, Vetter, ...) oder ein einflussreicher, anerkannter Mann der Gemeinschaft, insbesondere ein Korangelehrter (aneslem). (27) Die Namensgebung eines neugeborenen Kindes findet gemäß dem muslimischen Gesetz am 7. Tag (dem ahel n-isem) nach der Geburt statt. Ein wesentliches Element der Zeremonie ist dabei das Abscheren der ers-ten Haare durch einen Korangelehrten oder Handwerker (Schmied). Es sind dies die "Heidenhaare" (im aden n-akafer), die danach in der Regel ver-brannt werden. Den ersten Namen (isem) erhält das Kind von Seiten des Vaters oder Paten, wobei heute meist ein islamischer oder Koran-Name ALMOGAREN 46-47/2015-2016MM33 gewählt wird (z.B. Musa = Moses, Yunes = Jonas), der unter zeremonieller Leitung eines aneslem verliehen wird. Früher wurden auch gerne Namen von Wildtieren entlehnt (z.B. Ebeggi = Schakal, Amayas = Gepard, Ahar = Löwe als männliche Vornamen, oder Tenirt und TahenkoÐ = jeweils Gazelle, Temerwelt = Häsin als weibliche Vornamen), seltener von Pflanzen (z.B. Te a in = Samenkörner als weiblicher Vorname) oder Naturphänomene. Der zweite Name ist ein Beiname (taselfest), der sich auf eine bestimmte phy-sische Besonderheit des Neugeborenen oder auf ein Ereignis vor oder bei seiner Geburt bezieht und von Seiten der Frauen (Mutter, Tante, Patin) ge-geben wird. Die meisten davon werden akzeptiert, andere sind verletzend und daher nur von kurzer Dauer. Daneben existieren viele alte Namen, die aus Überlieferungen entlehnt werden und deren Bedeutung oft nicht mehr bekannt ist, z.B. Ahamuk, Amastan (mask.), Šekuku, Tanbelaku (fem.) etc. Einem solchen Namen wird dann jener des Vaters (und nicht der Mutter) angehängt, z.B. Musa agg Amastan = Musa, der Sohn von Amastan oder Dassin welt Ihemma = Dassin, die Tochter von Ihemma. (28) wörtl. tam art: ältere, würdige, im Allgemeinen verheiratete Frau im Sin-ne einer Autoritätsperson. (29) wörtl. hullan, hullan, hullan: "sehr, sehr, sehr" oder "viel, viel, viel". (30) wörtl. Kel-imenas: "Kamelleute"; agg-amenis: "Mann/Sohn des Kamels". (31) wörtl. tawset: Stamm – eine durch Verwandtschaft zusammengehörige gesellschaftliche Gruppe, die sich durch ihren Namen definiert und durch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Kategorie gekennzeichnet ist. Elwanit tewsatin er-kallen wim-maje en: "die Stämme sind im Land der Twareg äußerst zahlreich". (32) Eine sprichwörtliche Redensart über eine leidenschaftliche, glühende Liebe; über eine innige und unübertreffliche Treue zwischen Mann und Frau. (33) wörtl. izekrah, sg. azekrih: Garten bzw. künstlich bewässertes Feld (um-friedet oder nicht umfriedet), syn. iferǧan, sg. afaraǧ; in Erweiterung: Ge-hege, Verschlag sowie jede Art von Einzäunung (Hecke, Pferch, Zaun). Gelegentlich wurden die Sklaven deffer-afaraǧ: "hinter/nach der Hecke" genannt, da sich in den Lagern ihre Behausungen jenseits der Tiergehege befanden. (34) wörtl. amenukal: einst oberster politischer Chef einer Twareg-Konföde-ration (teǧehe) sowie der "Trommelgruppen" (eÐÐebel) und den ihnen zuge-hörigen Abhängigen und Verbündeten. (35) wörtl. eǧen: a) planvolle Unternehmung bzw. Durchführung eines Raub-zugs; b) Raubzugtruppe; e eǧ: auf Raubzug ausziehen gegen. Der Raubzug 34MMALMOGAREN 46-47/2015-2016 war stets ein ehrenhaftes Unternehmen, an dem gewöhnlich 15-20 Mann oder mehr teilnahmen und ganz im Gegensatz zum heimlichen, völlig ehr-losen und verpönten Diebstahl (tikra) durch Einzelne stand. (36) Großer arabischer Kamelnomadenstamm, der wahrscheinlich mit der Hilalischen Wanderung im 11. Jahrhundert in seinen heutigen, zwischen Wargla–Tougourt–El Golea liegenden Lebensraum kam. Die fast zwang-hafte Suche nach Möglichkeiten für Überfälle, Raubzüge und Scharmützel als Mutprobe des Einzelnen oder Kraftprobe von Gruppen haben zu offe-ner Feindschaft und unverhohlenem Misstrauen bei nahezu allen Nachbarn geführt, insbesondere bei den Twareg. (37) wörtl. taǧulmust: (meist) indigoblauer Baumwollstoff sudanesischer Fab-rikation, der als Gesichtsschleier (vor Stirn und Mund) und Turban der Männer dient. Das ziemlich dünne Stoffstück ist rechteckig: 1,50-4 m lang und 0,20-0,50 m (manchmal noch mehr) breit, wobei die Breite (aǧulmus) durch Aneinanderreihen von mehreren schmalen Gewebestreifen (tiswa ) erreicht wird, die 0,02-0,20 m breit sein können. (38) Die Kel-Ahaggar nennen den angepflanzten Oliven- oder Ölbaum (Olea europaea L.) tehatimt. Er ist in den nordafrikanischen Gebieten weit ver-breitet, fehlt jedoch im Ahaggar. Dort wächst in Höhenlagen von 1600-2600 m als endemische Wildform der 1-4 m hohe Olea Laperrini Batt. et Trab., von den Twareg aleo genannt. Nicht selten steht er mit seinem dicken Stamm auf nacktem Fels ohne die geringste Feinmaterialauflage, und folgt mit seinen langen Wurzeln den Klüften, um dort seinen Wasserbedarf de-cken zu können. Er trägt nicht jedes Jahr Früchte, die aber dann etwa die halbe Größe einer gewöhnlichen Olive erreichen. (39) wörtl. elbaru (ar.): Gewehr, Karabiner, Stutzen, allg. Früher besaßen die Twareg u.a. die einschüssige Berberflinte namens suri (ar.) und das zwei-schüssige Gewehr mit Zündhütchen oder Schlagbolzen namens ežžeweyža (ar.). Um sie auf ihre Qualität zu prüfen, wurde auf einen gefüllten Wasser-schlauch gezielt: durchschlug die Kugel den vollen Behälter, wurde das Gewehr als gut befunden. (40) Gemeint ist das riesige Gebiet zwischen dem Grand Erg Oriental (Erg: ausgedehnte Region großer Dünen) und den subsaharischen Randgebieten = Sahel (ar.: "Ufer"). Die Sahelländer umfassen im Wesentlichen das Ge-biet des Bilad es Sudan (das "Land der Schwarzen"), wie die Araber des Mittelalters das Herrschaftsgebiet der historischen "Sudanreiche" zwischen Senegal und Äthiopien nannten. Die Twareg haben weder für den Sahel noch für den Sudan einen eigenen Namen, verwenden aber gelegentlich die Vokabel Sudan für das Übergangsgebiet zwischen den umherschwei- ALMOGAREN 46-47/2015-2016MM35 fenden und den sesshaften Bevölkerungsgruppen. (41) wörtl. erk aw adem: schlechtes (erk) menschliches Wesen; aw-adem ur en hard: "nichtsnutzige Person" (mask.); in Erweiterung: hales, ein Mann ohne Wert, ein Nichtsnutz. (42) In der Literatur findet sich für amenukal oft die sehr unglücklich gewähl-te Bezeichnung "König", mit der sich nach unserer Vorstellung häufig ein Hofstaat verbindet, was der Twareg-Gesellschaft jedoch völlig fremd ist. (43) sg. amet al: im Ahaggar monetäre Wert- und Hauptrechnungseinheit für Silbergeld, entsprechend 2,50 Francs/Dinar = 1 (kleiner) Mitqal. 1 großer oder Doppel-Mitqal entsprach 1 Silbertaler (Duro). Im 19. Jahrhundert lag die Wertrelation von 1 (großen) Mitqal bei 1000 Kauris; 2,5 Mitqal = 2500 Kauris = 1 spanischer Taler (Duro, Peso duro) oder 1 Maria-Theresien-Ta-ler. Noch in der Mitte des 20. Jahrhunderts zahlte im Ahaggar jeder Krieger 1 Duro Jahrestribut an den amenukal neben Naturalien. (44) wörtl. tiseq: Fingerring, von Frauen und Männern in vielfältigen Formen und Ausführungen getragen und von ihnen als Zeichen der Zuneigung ge-tauscht. Er besteht meist aus Silber (a ref), wobei es sich entweder um rei-nes ("weißes") Silber (als Standard gilt dafür der Maria-Theresien-Taler, s. Anm. 43) oder – viel häufiger – um Silberlegierungen mit variablen Bunt-metallanteilen ("gelbes Silber") handeln kann. Im Ahaggar lassen sich zwei Arten von Fingerringen unterscheiden: a) der einfache, aus Metall spiralig gedrehte Ring (etteli), b) der zusammengesetzte Ring, der aus einem Ring-band mit aufgelöteter Schmuckplatte oder einem plastisch gestalteten Schmuckkörper, oft gebildet aus Silberblech und einem pyramidalen Holz-einsatz, besteht. Die Kuppel kann mit einer Zierniete gekrönt sein, die die-sem Ringtyp den Namen tiseq ti-n-ibuhuten, "Fingerring der übergroßen Frauenbrust", gibt. (45) Kreuzvetter (ababah) und Kreuzkusine (tababaht) sind die prinzipiell be-vorzugten Ehepartner. Sie sind die Kinder zweier Geschwister verschiede-nen ("gekreuzten") Geschlechts, das heißt Kinder der Vaterschwester und des Mutterbruders. Zwischen ihnen besteht eine "Scherzbeziehung" (tehan e it), die ihren Ausdruck in der absichtlichen Übertretung bestimm-ter sozialer Gebote und Tabus (Streiche, Neckereien, provozierende Reden, sexuelle Anspielungen, Scheinkämpfe) findet. (46) wörtl. awdet: "in lebhafter Gangart traben lassen", wobei es sich nicht um eine spezielle Gangart (Trab oder Galopp) handelt, sondern mit diesem Verb wird zum Ausdruck gebracht, dass sich das Kamel vom sehr langsamen Trab (senat-senat) bis zum Galopp (dabete at) in allen Geschwindigkeiten bewegt. 36MMALMOGAREN 46-47/2015-2016 (47) Einer der diversen Kraftausdrücke (Verwünschungen), die zwar als schlimme Beleidigungen gelten, aber als umgangssprachliche Ausrufe ohne Bedeutung oder Wichtigkeit verstanden werden. (48) Die "klassische" Stich- und Stoßwaffe der Twaregkrieger ist die Ganz-metalllanze namens alle (als Überbegriff). Sie ist etwa 1,80-2,10 m lang, hat eine lanzettförmige Spitze und besitzt meist keine Widerhaken. Wie immer, wenn es sich um Eisen handelt, sind hier als Gegenmittel der unrei-nen Substanz Messing- und Kupferinkrustationen in den Schaft eingelas-sen. Ein im unteren Griffbereich hervorspringender Ring dient dazu, sie während eines Marsches gut zwischen den Fingern halten zu können. Die Kel-Ahaggar unterscheiden vier Qualitäten von Ganzmetalllanzen, von denen die tanǧanbat (aǧanba: Krokodil) – ein alter Typ – die dritte Güte-klasse (schmale Spitze, keine Widerhaken) einnimmt. In Verwendung steht auch der Speer mit Holzschaft, s. Anm. 58. (49) wörtl. anu: Brunnen, allg., sowie jedes im weichen Boden gegrabenes Wasserloch von etwas über 2 m Tiefe. (50) wörtl. tafarawt: a) Leder, das als tragbarer Tränktrog dient, d.h. ein kom-plettes Ziegenleder (filali) wird in einer Sandgrube oder in einem aus Stei-nen errichteten Ring ausgelegt, um ein provisorisches Tränkbecken zu bil-den; b) eine Art große Tasche aus (meist) Rindsleder (teserke), die von ei-nem hölzernen Gestell gehalten wird (im Ahaggar selten in Verwendung); c) (Wasser-)Trog, allg. (51) wörtl. awin-de a iǧa Yalla (Allah). (52) wörtl. taweššart: sehr alte, gebrechliche Frau, Greisin (älter als etwa 75 Jahre). (53) wörtl. i ekwan, sg. a ekka, syn. isensa, sg. asensu: zeitgenössisches, isla-misches Grab. Meist wird das Grab von den männlichen Mitgliedern der Familie (früher auch von den Sklaven) angelegt. Es ist eine einfache, recht-eckige und schmale, oft nur einen knappen Meter tief ausgehobene Grube, orientiert in Nord-Süd-Richtung. Der Leichnam wird auf die rechte Seite gelegt, der Kopf nach Süden, das Gesicht nach Osten (Mekka) gerichtet. Entsprechend der islamischen Tradition werden im Ahaggar auf ein Männergrab zwei Steine gesetzt: je ein Stein am Kopf- und am Fußende; das Grab einer Frau bekommt drei Steine: einen Stein am Kopf- und zwei Steine am Fußende, selten auch je einen Stein am Kopf- und am Fußende und einen Stein in der Mitte (über dem Bauch). Es sind dies eine Art Richt-bzw. Mahnsteine, die ihalisen, sg. ehalis, oder imeseknan, sg. emesekni, genannt werden. Um das Grab wird oft ein mit Steinen am Boden abge-grenztes, meist rechteckiges Areal als Gebetsplatz (tamejjida) angelegt; ein ALMOGAREN 46-47/ 2015-2016MM37 kleiner Halbkreis darin markiert die Richtung nach Mekka, eine gegen-über liegende freie Stelle dient als Eingang. Hin und wieder werden an eingesteckten Stöcken (weiße) Stoffbänder befestigt, die an sich nicht mehr als eine Opfergabe an den Verstorbenen sind, ein Mittel, durch welches man sich selbst in Verbindung mit dem Tod und dadurch mit Gott bringt. Auch werden auf den flachen Grabhügel Münzgeld, kleine Tontöpfe, Parfümfläschchen etc. als Sinnbild für das zu Ende gegangene Leben ge-legt. Der weiße Quarzitstein, mit dem der Verstorbene bei der Leichen-wäsche abgerieben wurde, wird am Kopfende des Grabes platziert. (54) wörtl. elkera (ar.): Miete, Mietlohn, Mietpreis (für Kamel); in Erweite-rung: (Arbeits-)Lohn, "Besoldung", Mietarbeit. (55) im Sterben liegen: yebuk ed-iǧma iman: "er ist soweit, dass seine Seele aus ihm herausgeht". (56) Wie die ethnographischen Berichte der frühkolonialen Zeit zeigen, heira-teten früher die Twareg erst im fortgeschrittenen Alter: 25-35 Jahre die Männer, 20-25 Jahre die Frauen. Heute finden Hochzeiten in einem viel früheren Alter statt, besonders was die Frauen betrifft. Eheschließungen von Mädchen mit erst 14 Jahren und sogar jünger sind nicht mehr unge-wöhnlich. Diese Verbindungen geschehen im Allgemeinen mit jungen Männern, aber gleichermaßen – und immer häufiger – mit betagten Männern, ein Wandel, der von den Kel-Ahaggar einer immer stärker wer-denden Arabisierung ihrer Gesellschaft zugeschrieben wird. (57) wörtl. ihallen, sg. ahal: festliches Treffen zwischen meist unverheirateten Männern und Frauen, aber auch verheirateten Männern, die fern von ihren Ehefrauen sind und sich im Alter des Hofierens befinden. Gelegentlich nehmen auch junge Eheleute gemeinsam daran teil oder verheiratete Frau-en in einem bereits gewissen Alter, doch eher als Zuschauer denn als Ak-teure; ältere Männer kommen nicht. Der ahal ist eine ungezwungene litera-risch- musikalische Zusammenkunft, die – manchmal unter der Leitung einer erfahrenen Frau – eng mit den Künsten des Singens, Vortragens und Musizierens verbunden ist. Begleitet vom hellen Klang der einsaitigen Geige (im ad) besingen die Frauen die Tapferkeit und das würdevolle Ver-halten der Männer, die ihrerseits die Melodie des Instrumentes summend begleiten, aber auch individuell ein Loblied auf die Schönheit und Anmut der Frauen anstimmen. Der ahal ist eine echte Prüfung, in deren Verlauf jeder seine Noblesse beweisen muss. (58) wörtl. ta da: Speer mit hölzernem Schaft, allg., im Gegensatz zur Ganz-metalllanze namens alla (s. Anm. 48). Unterschieden werden drei Qua-litätsklassen, worüber obige Erzählung nichts Näheres erwähnt. Frühe 38MMALMOGAREN 46-47/2015-2016 Autoren bemerken, dass immer nur die Adligen die Eisenlanze führten, während der Speer mit Holzschaft den sozial tiefer stehenden Schichten vorbehalten war; in kriegerischen Auseinandersetzungen wurden beide Varianten benützt. Heute verwenden besonders Hirten den Speer oder Spieß mit seinem leicht fächerartig verbreiterten Endstück zum Abschneiden von Ästen, Ausgraben von Wurzeln, Ausheben von Löchern für die Zeltpfosten und Ähnlichem. (59) wörtl. tamahart: verlassener Platz eines früheren Zeltlagers. Das Wort bezeichnet auch einen Platz, wo ein einzelner Reisender sein Nachtlager aufgeschlagen hatte oder wo früher mehrere Zelte monatelang aufgestellt waren. (60) wörtl. ahar: Löwe (Panthera leo L.), davon sieben Unterarten in Afrika, von denen die nördlichste, der Atlas- oder Berberlöwe (Panthera leo leo L.), bereits ausgestorben ist. Der Löwe ist ein typischer Gast von Halb-wüsten bis Trocken- und Feuchtsavannen. In der Sahara, einem Land mit wenig Wasser und wo das Wild selten ist, hätte er nicht überleben können. Dennoch gibt es alte Erinnerungen an das Auftreten dieses Raubtieres, z.B. im Azawagh-Gebiet, wo 1914 "bei der Jagd nach einem Löwen, der ein Kamel gerissen hatte, die Verfolger auf 50 Löwen (!) stießen, von denen sie 14 töteten und 7 verwundeten" (Alojaly 1975: 166ff.). (61) Bei den üblichen Grußformeln informiert man sich zunächst gegenseitig über das persönliche Wohlbefinden, um dann anschließend jenes der aus-gedehnten Familie zu erfragen. Nach dieser Phase folgen detaillierte Höflichkeitsfragen, wobei man öfter einander langsam und ruhig über die Innenfläche der Hand streicht. Die Standardformeln für die Antwort lau-ten: elkhir as, "nur das Gute (alles in Ordnung)" oder le-bes/la-bas (ar.), "es gibt nichts Schlechtes". Die Grußformeln für den Abschied lauten: ar assa at, "bis später"; ar tufat, "bis Morgen!" (im Sinne von "gute Nacht!"); emir iyen, "auf ein andermal"; s-el afyet, "mit Frieden" etc. Man legt dabei die Hand auf das Herz und führt in arabischer Weise zwei Finger der rech-ten Hand an die Lippen, zum Zeichen dafür, dass man es gut miteinander meint und das Gehörte wohl für sich behalten werde. (62) wörtl. asefte , syn. tafteq: Decke, insbesondere (schwere) Bodendecke, Matte (auch Bettmatte), Teppich bzw. als Teppich dienende Unterlage. (63) wörtl. esink: dick gekochter Brei aus einem Gemisch von Wasser und frisch gemörsertem oder gemahlenem Hirsemehl (im Norden auch Wei-zen- oder Gerstenmehl), aber auch zerstoßenem Trockengemüse, Reis, Nudeln, Kuskus, etc. Der fast ganz von saurer oder frischer Milch bedeckte Kloß wird manchmal mit Butter übergossen und schließlich in einer Holz- ALMOGAREN 46-47/2015-2016MM39 schüssel serviert. Der große Saharaforscher Theodor Monod definiert: "Ein grauer, schmutziger Brei, manchmal ohne Salz oder Fett und daher auch noch fade, obwohl mit Ziegen- (oder Menschen-)haaren, Strohresten und wunderbar knirschendem Sand verfeinert ... Nach dem Essen leckt man sich die Finger ab – vor allem die Hohlräume dazwischen, was noch einen gu-ten Bissen zutage bringt – und wischt sie dann an den herrlich sauberen, blanken, glatten, während der ganzen Strecke vom Sand gescheuerten Fuß-sohlen ab." (64) wörtl. ta lalt: mittelgroße, tief halbkugelige bis hyperbolisch geformte Holzschüssel mit breitem, oft schnitzverziertem Rand, dunkelbraun oder schwarz durch Russ-Fett-Imprägnierung; Fassungsvermögen etwa 6-15 Liter. Gilt (wie die größere Ausführung namens a lal) als die "charakteris-tische" Holzschüssel der Twareg. (65) wörtl. ure : Gold, das bei den Twareg als unreines Metall gilt und deshalb abgelehnt und nicht verarbeitet wird. Als Schmuckmaterial wird Silber verwendet. Das Wort ure findet sich aber – vielleicht als Gedanke an ein edles Wertmetall – oft in poetischen Metaphern und Sprichwörtern. (66) talhint, mask.: alhin (ar.), syn. amdun: Dämon, böser Geist; ar.: Djinn. (67) wörtl. abro : feste, weiße Gewanddecke, bestehend aus reiner Wolle oder gemischt mit Baumwolle, rechteckig (ca. 1,50 x 5 m); gilt im Ahaggar als absolutes Luxus-Bekleidungsstück und hoch geschätztes Wintergewand, das tagsüber als Umhang und nächtens zum Einrollen beim Schlafen dient. Herkunftsgebiet ist Gourara in der algerischen Sahara. (68) wörtl. ajjen: hockenlassen, "Hockplatz"; segen: hocken/hinknien lassen, was auf zwei Arten geschehen kann: a) auf den abgewinkelten Vorder- und Hinterbeinen knien oder liegen, der Bauch berührt dabei den Boden; b) mit abgewinkelten Vorderbeinen knien, wobei die Hinterbeine gerade bleiben und der Bauch den Boden nicht berührt. (69) Gemeint ist eine abro -Decke (s. Anm. 67) zur Sattelpolsterung. (70) wörtl. aserǧu: ein etwa 0,75-1 m langer "Gegengurt", der auf der linken Seite des Kamelreitsattels am unteren Teil eines Metallringes (tawinest) fixiert ist. Ebenfalls an diesem Ring ist ein Ende des vorderen und des hinteren Sattelriemens (ase lu, pl. ise la) angenäht, während sein anderes Ende eine Öse formt. Die beiden ise la sind fixe Bestandteile eines jeden Kamelreitsattels für Männer und befinden sich unter den Holzteilen, wel-che die Karkasse der Sitzflächen (ifedyan) bilden. (71) wörtl. ahayif: Sattelgurt, dessen eines Ende durch die beiden Ösen der ise la (s. oben) geführt und dort festgemacht wird, während das andere rechtsseitige Endstück mit mehreren frei herab hängenden, üppigen Zier- 40MMALMOGAREN 46-47/2015-2016 quasten (tattulin) aus Ziegenhaar (Rundgeflecht und bunte Schussfäden) versehen ist. Reittiergurte werden immer aus Ziegenhaar gefertigt. (72) wörtl. iseÐfar, sg. aseÐfer: Satteldecke, Polsterung, Schutzabdeckung des Tierrückens unter dem Reit- oder Lastsattel; aseÐfer n-amis: Kamel-satteldecke, im Ahaggar fast immer eine Baumwolldecke. Ihre Zahl hängt von der Qualität wie auch von der körperlichen Konstitution des Tieres ab, doch meistens werden zwei als ausreichend betrachtet. (73) wörtl. ta ant: Zügel (Führungsstrick) aus einem gedrehten Ledergeflecht. Seine Befestigung erfolgt mittels Knopfverschluss an einem Kupferring (tiǧemt) im rechten oberen Nasenflügel des Reitkamels, von wo er unter der Kehle hindurch zur linken Seite des Reiters führt. Der Zaum kann sehr aufwändig verziert sein, indem manche Teile kunstvoll in mehrfarbigem Leder geflochten und/oder mit Lederfransen behängt sind. (74) wörtl. ise iren, sg. ese ir: trockenes, verdorrtes (Stück) Holz, Brennholz; in Erweiterung auch für Akazie (allg.) verwendet. (75) wörtl. tabelboÐ: kleiner Sack oder Beutel aus unterschiedlichen Leder-sorten (Hase, Ziege, Waran) oder aus Stoff hergestellt. (76) wörtl. eššaš: aus dem Arabischen entlehnter Name für einen aus industri-ellem Gewebe bestehenden Stirn- und Gesichtsschleier. Er wird sowohl zur Arbeit als auch bei Festen getragen und ist viel billiger als die indigoblauen Baumwolltücher aus dem Sudan. Seine Länge variiert zwischen vier und zwölf Metern und seine Breite ist mit 0,80-0,90 m ziemlich einheitlich vor-gegeben. Früher bestand der eššaš fast ausschließlich aus weißem, seltener aus dunkelblauem oder schwarzem Musselin europäischer Fabrikation. Heute überwiegt importiertes Gewebe aus China in allen möglichen Far-ben – von dottergelb über olivgrün bis feuerrot: eine große Verlockung für junge Männer! Bei festlichen Anlässen werden gerne zwei Tücher unter-schiedlicher Farbe verwendet: der meist weiße eššaš verhüllt Stirn und Gesicht und lässt nur einen schmalen Spalt für die Augen frei, während der indigoblaue, glänzende taǧulmust (s. Anm. 37) oder aleššo die von seinem Gegenstück vorgeformte Krone bildet. (77) s. Anm. 68. (78) Eine Grußformel der höflichen Nachfrage: "Wie geht es?", "Wie ist das Befinden, der Zustand?" etc. (79) Die beiden Namen sind Homophone von Wa-nnes und Ta-nnes, s. Erzäh-lung 8 und 9. Im eigentlichen Sinn ist Ayer der Name einer Gebirgsregion in Niger (Ayr) und Tayert jener des Twareg-Dialektes in der Ayr-Region. (80) wörtl. tesut: Kuh, allg. Im Ahaggar können Rinder kaum gehalten wer-den, da sie in Bezug auf das Futter viel zu anspruchsvoll und auf reichli- ALMOGAREN 46-47/ 2015-2016MM41 ches Tränken angewiesen sind. Abgesehen von ganz kleinen Versuchs-herden werden daher Rinder eher als Prestigeobjekte reicher Twareg gehal-ten, die aber in Dürreperioden, wenn Weiden und Wasser fehlen, meist zugrunde gehen. (81) wörtl. timet alin, sg. tamet alt (ar.): Duro, s. Anm. 43. (82) Im Allgemeinen beginnen die Mädchen ab dem Alter von 7-8 Jahren bis zur Pubertät (etwa 14 Jahre) ihre Haare wachsen zu lassen, die dann mit Hilfe ihrer Mutter, einer Schwester oder Freundin zu Zöpfen geflochten werden. Dieser Frisurtyp heißt asakat ("Kleinmädchen-Zopf") und ist das Merkmal der jungen Mädchen dieser Altersstufe; es selbst wird tamessekat genannt. (83) Als Kamm dient ein Gerät aus Holz oder Metall, zum Trennen und Schei-teln der Haare ein aus gleichem Material gefertigtes stilettähnliches "Fri-siermesser" (tazze leyt), ersatzweise auch ein Holzstäbchen als Frisierstift. (84) Die Frisuren der Mädchen und Frauen sind sehr aufwändig und werden daher nicht jeden Tag neu gefertigt. Die gebutterten Haare bleiben oft über Wochen ungewaschen und sind Sammelstellen unzähliger Milben und Läu-se, die sich die Frauen gegenseitig entfernen. Ein Mittel gegen Läusebefall ist das Einmassieren von mit Tabakpulver versetzter Butter in Haar und Kopfhaut (um gegen Kleiderläuse vorzugehen, wird die Kleidung über of-fenem Feuer ausgeschüttelt). (85) wörtl. ekelew: böser Zauber (Magie) im Sinne einer unerklärlichen und verderblichen Einwirkung (zu unterscheiden vom sog. "bösen Blick"). (86) wörtl. tah ut: Färse (vom 1.-2. Lebensjahr inklusive); notabene: sobald das Kalb zwei Zähne hat und relativ groß ist, gilt es als Rind. (87) wörtl. tage anfest (ar.): dicke Decke aus reiner Wolle, rechteckig (ca. 1,50 x 5 m), entweder rein rot oder rot mit bunten Streifen (dunkelblau, dunkel-grün, gelb); diese Farbstreifen werden tehatin (sg. tehit) genannt. Wie die Gewanddecke abro (s. Anm. 67) liegt ihre Herkunft im Gourara-Gebiet (Timimoun); sie dient als Decke oder als Teppich. (88) wörtl. aǧelmam (ar.: Gelta): permanentes oder temporäres natürliches Wasserreservoir, sei es ein See, ein Becken, ein Tümpel oder eine Pfütze. Häufig liegt ein aǧelmam in einer Felsstufung als eine Art Becken eines Steilabsturzes. (89) a u: (aus)rauben, überfallen, plündern (im Dialekt der Süd-Twareg); asaka: ein exemplarisches Beispiel für "Jungkamel" mit erheblichen Diffe-renzen in den Altersstufen: unter einem Jahr bei den Iwllemmeden Kel- Denneg; ein- bis zweijährig bei den Kel-Adrar; eineinhalb- bis dreijährig bei den Iwllemmeden Kel-Ataram; drei- bis vierjährig bei den Kel-Ayr und 42MMALMOGAREN 46-47/2015-2016 zwei- bis sechsjährig bei den Kel-Ahaggar. (90) igorasan, sg. egoras: Wildnis, Buschland, Wald, Tal; dey egoras: "draußen in der Wildnis, im Busch" (Gegensatz zur "Stadt"). Erläuterungen zur Aussprache: , , (dh, th, dz) pharyngalisierte, so genannte emphatische Konsonanten ǧ (dj) stimmhaftes dsch wie im italienischen giorno h (kh, x) am Gaumen gebildetes, gepresstes ch wie in deutsch Bach j/ž, š (ch, sh, sch) entsprechen dem deutschen sch wie in Schaf q uvulares k r gerolltes Zungenspitzen-R (gh, rh) schnarrender Kehllaut, ähnlich dem deutschen Hinter-zungen- R y palataler Halbvokal, entspricht dem deutschen j Abkürzungen: allg. allgemein, im Allgemeinen Anm. Anmerkung(en) ar. arabisch bzw. beziehungsweise d.h. das heißt fem. Femininum, weiblich mask. Maskulinum, männlich pl. Plural s. siehe sg. Singular syn. Synonym wörtl. wörtlich z.B. zum Beispiel Quellenhinweise: Erzählung 1: Hanoteau 1860: 146-151, no. VII (Ahaggar). 2a:Masqueray 1896: 188, no. 26 (Ahaggar). 2b:Foucauld und Calassanti-Motylinski 1922: 147f., no. 33 (Ahaggar). 3: eine im Twareg-Gebiet weit verbreitete Erzählung; jene aus dem Ahaggar hat Elyas als Hauptakteur, veröffentlicht von Masqueray 1896: 166f., no. V; die hier wiedergegebene Version mit Aniguran als Protagonisten stammt aus dem Ayr, s. unter anderem Casajus 1979 und Casajus & Khawad 1979. ALMOGAREN 46-47/2015-2016MM43 4, 5, 6 und 7: Rivaillé und Decoudras 2003: 35f., 37-40, 25f. und 29f., aufge-nommen im Ayr 1988-1991. 8: Foucauld und Calassanti-Motylinski in T.T.P. 1984: 299, no. 178 (Ahaggar). 9: Ennou ag Gamanrassa (Enu ag Gaman asa) und seine Mutter, in G.P.L.M. 1970 (Ahaggar). 10:Masqueray 1896: 263f., no. LXII (Ahaggar). 11: oft erzählt und aufgenommen: Hanoteau 1856 und 1860: 152-169, no. VIII; Neuwirth 1946: 35-41 (Ahaggar). Die hier wiedergegebene Version ist ver-kürzt und gewisse Abschnitte sind frei übertragen. 12:Hanoteau 1860: 143-145, no. VI (Ahaggar). 13 und 14: Blanguernon 1955: 145f. und 131 (Ahaggar). 15: Foucauld und Calassanti-Motylinski, in T.T.P. 1984: 294f., no. 174; Blan-guernon 1955: 131 (Ahaggar). 16: Foucauld und Calassanti-Motylinski, in T.T.P. 1984: 296, no. 175 (Ahaggar). 17: Ennou ag Gamanrassa (Enu ag Gaman asa) und seine Mutter, in G.P.L.M. 1970 (Ahaggar?). 18: Nicolas 1956: 953f., no. LXIII (SO-Twareg). Literatur: Alojaly, Ghoubeïd (1975): Histoire des Kel-Denneg. Kopenhagen: Akademisk Forlag. Alojaly, Ghoubeïd (1980): Lexique Touareg-Français. Kopenhagen: Akade-misk Forlag. Blanguernon, Claude (1955): Le Hoggar. Paris: B. Arthaud. Casajus, Dominique (1979): Une serie de mythes touareg. In Tisuraf 3: 83-98 (96f.). Casajus, Dominique et Makhmoud Khawad (1979): Quatre contes touareg. In Tisuraf 3: 63-78 (67 und 73f.). Claudot-Hawad, Hélène (1993): Les Touaregs. Portrait en fragments. Aix-en- Provence: Edisud. Foucauld, le Père Charles de (1951-52): Dictionnaire Touareg-Français. Dialecte de l'Ahaggar. 4 Bände, Paris: Imprimerie nationale de France. Foucauld, Charles de et Adolphe de Calassanti-Motylinski (1922): Textes Touareg en Prose (dialecte de l'Ahaggar). Publiés par René Basset. Alger: Jules Carbonel. G.P.L.M. (1970) = Grenier de poésies, légendes, maximes d'autrefois. Mor-ceaux choisis de littérature targuita; retrouvées et transcrites sous la direction de Kodja Abdelkader ben El Hadj Ahmed et Ahmera ag Acherf. 64 Text-seiten in Tifina und ein Heft mit 17 Seiten teilweiser Übertragungen. Paris. 44MMALMOGAREN 46-47/2015-2016 Hanoteau, Adolphe (1856): Le Targui et la fiancée du Chaambi. In Bulletin Africaine 1: 309-311. Hanoteau, Adolphe (1860): Essaie de grammaire de la langue Tamachek', renfermant les principes du language parlé par les Imouchar' ou Touareg. Paris: Imprimerie impériale. Masqueray, Emil (1896): Observations grammaticales sur la grammaire touareg et textes de la tamahaq des Taïtoq. Publiés par René Basset et Gaudefroy-Demombynes. Paris : Ernest Leroux. Neuwirth, Arnulf (1946): Märchen und Geschichten aus der Wüste. Wien: F. Beck, (S. 35-41). Nicolas, Francis (1956): Textes ethnographiques de la Tamâjeq des Iullemme-den de l'est. In Anthropos, 51: 949-966. Ritter, Hans (2009): Wörterbuch zur Sprache und Kultur der Twareg. Bd. I: Twareg-Französisch-Deutsch, Bd. II: Deutsch-Twareg (in Zsarb. mit Karl- G. Prasse). Wiesbaden: Harrasowitz. Rivaillé, Laurence et Pierre-Marie Decoudras (2003): Contes et légendes touaregs du Niger. Des hommes et des djinns. Paris: Karthala. T.T.P. (1984) = Textes touaregs en prose, de Charles de Foucauld et A(dolphe) de Calassanti-Motylinksi. Ed. crit. avec trad. par S. Chaker, H. Claudot, M. Gast. Aix-en-Provence: Edisud. |
|
|
|
1 |
|
A |
|
B |
|
C |
|
E |
|
F |
|
M |
|
N |
|
P |
|
R |
|
T |
|
V |
|
X |
|
|
|