Ahnogaren XXV I / 1995 Hallein 1995 351 - 361
Matthias Marschik
Die Suche nach San Borondön -
über einige Bedingungen und Folgen von "Forschung"
Wer sich heute mit den Problemen und Fragestellungen der AltkanarenForschung
auseinandersetzt, der hat es prinzipiell mit vier voneinander getrennten
Bereichen zu tun: Er sieht sich erstens mit den zeitgenössischen Berichte
der spanischen, venetianischen oder portugiesischen Eroberer und Seefahrer
konfrontiert, die es zu lesen, einzuordnen und zu interpretieren gilt;
zweitens existieren Überreste der vorspanischen Besiedlung in der Gestalt von
unbelebter Materie, meist von Steinen, Knochen, Malereien oder Schriftzeichen;
drittens gilt es, die aktuellen Quellen, also Forschungsberichte von Kolleginnen
und Kollegen, meist aus dem XIX. oder XX. Jahrhundert, zu berücksichtigen;
und schließlich existieren noch jene Mythen und Vorstellungen, die gerade für
die Kanarischen Inseln sehr reichlich und widersprüchlich vorhanden sind.
Wer sich der Forschung zum Thema Alt-Kanaren widmet, wird sich wohl
all dieser Möglichkeiten bedienen: Er wird die eigenen Beobachtungen und
Entdeckungen mit anderen Forschungsergebnissen vergleichen und wird
zeitgenössische Quellen heranziehen. Aber auch mit den kanarischen Mythen
schließlich wird der Kanaren-Forscher, ob willentlich oder nicht, konfrontiert
sein, auch wenn die heutige Aufassung von Wissenschaftlichkeit versucht, die
Einflüsse solcher Mythen möglichst auszuschalten. Wir legen heute sehr strenge
Maßstäbe an die Richtigkeit und Korrektheit unserer Arbeit an. Es ist eine
sehr "moderne", "aufklärerische" Aufassung von wissenschaftlicher Arbeit,
die z.B. von einem rationalen wissenschaftlichen Denken ausgeht und auch
davon, daß wir, wenn wir nur lange genug und intensiv genug forschen, der
Wahrheit zumindest sehr nahe kommen. Zu fragen ist freilich, wie jene Wahrheit
generiert wird, wie sie zustandekommt: Eine der wesentlichen Fragen besteht
aber auch darin, ob nicht trotz aller intendierten Wissenschaftlichkeit die
(kanarischen) Mythen dennoch durch die aufklärerische Oberfläche durchscheinen
(Erdheim 1981, S.505).
Ein Trend der Sozialwissenschaften hat sich in den letzten Jahren auch auf
andere Wissensgebiete der Geisteswisenschaften, etwa die Geschichte und die
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Archäologie, ausgeweitet: Das Verständnis einer Kultur beruht wesentlich auch
auf dem Versuch, alltagskulturelle Vorgänge zu rekonstruieren, und zwar in
ihren spezifischen politischen und ökonomischen Konstellationen. Nicht die
Vorgänge selbst können dabei allerdings in ihren Alltagsdimensionen rekonstruiert
werden, lediglich die Texte, die uns solches Wissen überliefern, sind
hinsichtlich ihres "rhetorischen Repertoires" (Freedman 1992, S. 613) zu befragen.
Es ist also durchaus korrekt, wenn Werner Pichler (1992, S.27) etwas ironisch
feststellt, daß neuere Arbeiten über die Vorgeschichte Fuerteventuras zwar
sehr oft den Begrif der "sozioökonomischen Verhältnisse" bemühen, schlußendlich
aber doch wieder nur verschiedene Fundstätten auflisten und beschreiben,
weil es ihnen eben an ethnohistorischer Literatur mangelt. Torriani wird
zitiert, der lediglich von Häusern aus Trockenmauerwerk und engen Straßen
berichtet, und auch Galindo fügt dem nur die Beschreibung der kleinen und
engen Häusereingänge hinzu. Die übrige Literatur sei noch weniger ergiebig.
Es sind jedoch nicht die Überlieferungen aus jener Zeit zu befragen, sondern
die historischen Quellen selbst sind hinsichtlich ihres Blickes auf die
Umstände ihrer Entstehung und die Art und Weise ihrer Analysen zu befragen:
Es gilt also, den Blick zu rekonstruieren, den die Spanier und Portugiesen auf
die Alt-Kanarier richteten. Von diesen Chronisten kennen wir ihre Terminologie,
mit der sie die neue Kultur beschrieben und festhielten, wir kennen ihre
Gewichtungen, ihre Beschreibungsmuster, ihre Bedeutungszuschreibungen. Wir
wissen, was die Eroberer für erwähnenswert halten und können daraus schließen,
was sie nicht berichteten, weil es ihnen unwesentlich schien oder weil sie
es nicht berichten wollten. Schon der Philosoph Michel Foucault (1977, S.18)
hat darauf hingewiesen, welche Bedeutung dem eben gerade nicht Gesagten
zukommt.
Wir besitzen aber nicht nur das, was die Eroberer über das eroberte Land
sagten oder eben verschwiegen, wir kennen auch die Aufträge und Ziele der
Eroberer und wir können die Machtstrukturen (Foucault 1976, S.114f.) herausarbeiten,
die zwischen den Auftraggebern, den Ausführenden ( eben den
Eroberern) und den Eroberten (eben der Urbevölkerung) herrschten, ebenso,
wie wir die Verschiebungen in der Hierarchie beobachten können, wenn etwa
gewisse einheimische Adelige für Verwaltungsaufgaben herangezogen wurden
und unter Umständen auch mit den Töchtern der Eroberer verheiratet wurden.
Wir können also ein Bild herausarbeiten, wie die Eroberer selbst die allmählichen
Etablierung einer europäischen Herrschaft interpretierten und können aus
den Veränderungen zumindest schließen, wie es zuvor nicht war.
Die Rekonstruktion historischer Quellen ist ein Weg zu Anäherung an die
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Welt der Altkanarier im Blick der Chronisten, die Beschäftigung mit den Mythen
der Zeit, jenen, die schon vor der Eroberung existierten und jenen, die
durch die Eroberer geschafen, verstärkt oder verändert wurden, ist ein weiterer
Anknüpfungspunkt. Paradigmatisch seien hier einige wichtige Elemente der
Geschichte von San Borond6n kurz referiert. Die Insel soll ihren Namen angeblich
vom HI. Brendan haben, der nach langen Irrfahrten auf dem Meer Gott
angefleht hatte, zwn Ostersonntag einen Messe auf dem Festland lesen zu dürfen.
Daraufhin tauchte vor dem Schif eine Insel aus dem Meer auf, Brendan
und die übrige Besatzung gingen an Land, feierten die Ostermese, doch kawn
war diese beendet, begann die Insel zu beben, Brendan und seine Matrosen
kehrten eilig auf ihr Schif zurück und konnten nur noch beobachten, wie die
Insel wieder im Meer versank (Castellano Gil/Macias Martin 1993, S.163).
Die Eroberungen des XVI. Jahrhunderts brachten eine Renaissance des
Mythos von San Borond6n, der zwn Großteil auf den Berichten Torrianis (1940:
S.217-225) beruht: Torriani, der zugibt, die Insel nicht mit eigenen Augen gesehen
zu haben, bezieht weder für noch gegen ihre Existenz Stellung. Er trägt
lediglich die Schilderungen verschiedener Seefahrer zusammen, Erzählungen,
die er teils selbst gehört hat, teils nur über dritte Personen zu Ohren bekam.
Torrianis berühmte Karte der Insel San Borond6n (Antilia) beruht laut eigenen
Angaben lediglich auf"vertrauenswürdigsten Beobachtungen" englischer und
französischer Korsaren (Toriani 1940, S. 219). Jene Tatsache, daß die Karte
Torrianis auf Schilderungen Dritter beruht, wird heute freilich oft vergessen,
was durchaus Teil des Mythos selbst geworden ist, wie auch das Faktwn
bedenkenswert erscheint, daß die Übersetzung dieses Werkes durch W ölfel im
Jahr 1940 just in einer Zeit der fragwürdigen (Wieder-)Beschäftigung mit den
Kanaren erfolgte, in einer Zeit der "Arisierung von Atlantis" (Müller/Sens
1986, S.54f.).
Nach Torriani sollen etliche portugiesische Seefahrer die Insel etwa 350
km nordwestlich von La Palma gesichtet haben, andere gaben eine wesentlich
größere Entfernung an und wieder andere meinten überhaupt, die Insel läge
fast an der amerikanischen Küste. Angesichts dieser diferierenden Angaben
wundert es nicht, daß etliche Kapitäne die Insel nicht finden konnten. Auf der
anderen Seite gibt es aus der gleichen Zeit viele Hinweise, daß die Insel als
Versteck für portugiesische, englische und französische Piraten gedient habe
und Torriani berichtet auch von konkreten Gerüchten, daß bereits die Karthager,
Cäsar und später spanische Flüchtlinge vor den Mauren die Insel gekannt hätten.
Torriani zitiert hier einen Pietro de Medina aus Sevilla, der nicht nur diese
Fluchtbewegung im 8. Jahrhundert berichtet, sondern auch eine Neuentdeckung
der Insel, auf der sich sieben Städte gebildet hätten, denen ein Erzbischof mit
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sechs Bischöfen vorstehe. Die Inseln seien reich an Lebensmitteln wie an Reichtümern.
Die Seefahrer des 16. Jahrhunderts berichteten Torriani andere Einzelheiten:
Da ist nicht nur von den starken Strömungen die Rede, die ein Landen auf
der Insel verunmöglichten, manche Seefahrer behaupten auch, an Land gegangen
zu sein. Die einen erzählten von langen Sandstränden, andere von einer
dichten Bewaldung, die bis an das Ufer reiche. Die einen errichteten ein
Holzkreuz, die anderen ergriffen angesichts von riesigen Fußabdrücken gleich
das Weite. Torriani jedenfalls berichtet all diese Erzählungen ohne Wertung
und war sich selbst über die Existenz der Insel nicht im Klaren, berichtet er
doch von einem Freund, der "noch dieses Jahr ausgehen will, sie zu suchen"
(Torriani 1940, S.225). Was Torriani durch seine Zurschaustellung einer unvoreingenommenen
Haltung demonstriert, ist seine Selbstdarstellung als der Wissenschaft
verpflichteter Schreiber. Bis heute jedenfalls gibt es Leute, die behaupten,
von La Palma oder Tenerifa ließe sich bei günstigem Wetter die Insel
erkennen. Die moderne Wissenschaft hingegen hat sich mit ihren technischen
Möglichkeiten davon überzeugt, daß San Borond6n nicht existiert und nie existiert
habe. Doch es gibt die Insel, wenn auch nicht als reale sichtbare Erhebung,
als "historische und geologische Wahrheit", so doch als psychische Erscheinung,
als "ein Überschuß, ein Luxus, jenseits der Ökonomie" (Müller 1986,
S.20).
In den Geschichten von San Borond6n laufen nun die Fäden zusammen:
Auf der einen Seite gehört die Insel zu jenen Erscheinungen, die heute unter die
Mythen der Kanarischen Inseln subsumiert werden. Zusammen mit den scheinbar
stets aktuellen Versuchen, die Kanaren als Rest des sagenumwobenen Atlantis
darzustellen und mit den nach wie vor zahlreichen Rätseln um die kanarischen
Urbewohner gehören auch die Geschichten von San Borond6n zu den mythischen
Erzählungen und fiktionalen "Überschüssen", die sich gerade rund um die
Kanarischen Inseln besonders hartnäckig behaupten (Lopez Herrera 1978).
Auf der anderen Seite aber sind die Berichte über die Insel ein wichtiges
Element in der Konstruktion von sozioökonomischen und vor allem soziokulturellen
Bedingungen. Anhand der verschiedenen Geschichten, die über die
achte Kanareninsel überliefert sind, erfahren wir zwar wenig über die Insel
selbst, Vieles aber über die Vorstellungen der Eroberer jener Zeit, wenn auch
diese Vorstellungen abermals gefiltert zu uns kommen, nämlich durch den Bericht
Torrianis.
Wenn wir nun versuchen, in gerafter Form die Berichte über San Borond6n
zusammenzufassen, so gibt es zunächst einmal die Hinweise auf die starke
Strömungen, von denen die Insel umgeben ist. Die Verwendung dieses Bildes
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ist einsichtig, dient sie doch entweder dazu, die besondere Tüchtigkeit jener
Seefahrer zu betonen, die trotz allem an Land gehen konnten, oder aber zu
erklären, warum manche Schife trotz der Heldenhaftigkeit des Kapitäns die
Insel nicht erreichten. Die Hinweise, San Borond6n hätte als Unterschlupf für
Piraten gedient, hat einen ebenso naheliegenden Hintergrund: Wenn sie nämlich
auf einer bisher unbekannten Insel sich verbergen konnten, ist es nicht
verwunderlich, daß man ihrer so schwer habhaft werden konnte.
Zavallos, ein spanischer Pirat und zugleich als Edelmann tituliert, berichtet
vom Waldreichtum der Insel und von wunderschönen V ögeln, die zahm seien
und sogar mit der Hand eingefangen werden könnten. Dies war vermutlich
seine Vorstellung vom Paradies. Seine baldige Abreise begründete er mit riesigen
Fußspuren, die er am Strand gesehen hatte. Daß er im Gegensatz zu anderen
Seefahrern nichts von anderen Schätzen der Insel berichtete, lag wohl daran,
daß er sich nicht der Frage ausetzen wollte, warum er ohne Beute heimgekehrt
war oder warum er nicht nochmals, beser bewaflhet, die Insel aufsuchen wollte.
Einen ähnlichen Grund haten wohl die Erzählungen von den sieben Dörfern
mit den sieben Bischöfen: Wenn die Insel bereits christianisiert war, gab es
keinen Grund, sie "Im Namen des Hern" nochmals zu besuchen. Und auch die
Schätze, die auf der Insel angeblich zu finden seien, wären so ja bereits in
Guten Händen.
Es handelt sich also bei allen Geschichten über San Borond6n um fiktive
Vorstellungen, um Projektionen der Seefahrer, um Dinge, die sie nicht gesehen
haben, sondern sehen wollten. Was sie aber an Berichten ablieferten, das läßt
sich aus der jeweiligen Situation der Erzähler ableiten, aus ihren eigenen Erfahrungen,
aus der Notwendigkeit, ihr Scheitern beim Aufinden der Insel verständlich
zu machen, ohne dabei an Ruhm, Ehre oder Ansehen einzubüßen.
Insoferne erzählten oder phantasierten sie nicht irgendwelche Geschichten von
San Borond6n, sondern ganz bestimmte Geschichten, die ihnen zugute kamen.
Sie verwendeten den Mythos von San Borond6n zu ihrem eigenen Vorteil. Sie
sahen, was sie sehen wollten, was sie aber sehen wollten, das war bestimmt von
dem, was sie sehen hätten können, also von ihrer eigenen Vorstellungswelt, von
ihrem Wissenshorizont. Zugleich waren sie natürlich entscheidend geprägt von
den Machtstrukturen, in die sie eingebettet waren, also etwa seitens ihrer Auftraggeber
oder aber durch das Bild, das Piraten jener Zeit von sich verbreiten
wollten.
Hier gilt es nun, unter Übergehung von etlichen Jahrhunderten und unter
Auslasung der grundsätzlichen Veränderungen des Reisens (Rösner 1990) und
des (wissenschaftlichen) Umganges mit Waser und Meer (Corbin 1990), den
Bogen zur Gegenwart zu schlagen. Denn was sich an der Geschichte von San
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Borond6n zeigen läßt, ist nicht allein ein Kapitel aus der Historie, sondern
zugleich ein wichtiger Hinweis auf den heutigen Umgang mit Mythen. Hier
bietet sich ein Schlüssel zum Verständnis aktueller Forschungspraxen an, daß
nämlich die Beschreibungen von kulturellen, ökonomischen und politischen
Vorgängen in fremden Ländern ebenso wie die Analysemuster unbelebter Gegenstände
sich in erster Linie an dem orientieren, was die Forscher und Forscherinnen
an eigener Erfahrung mitbringen. Georges Devereux formulierte
das aus seiner psychoanalytischen und zugleich ethnologischen Sichtweise hinsichtlich
der subjektiven Einflüsse auf die Forschung: "Das größte Hindernis
auf dem Weg zu einer wissenschaftlichen Erforschung des Verhaltens ist die
ungenügende Berücksichtigung der emotionalen Verstrickung des Untersuchenden
mit seinem Material" (1984, S.28). Was Devereux hier über die ethnologische
Forschung sagt, läßt sich ohne große Einschränkungen auf andere Forschungszweige
übertragen. Jede Untersuchung ist dadurch gekennzeichnet, daß Forscher
die untersuchten Personen, Gegenstände, Zusammenhänge nach ihren
mitgebrachten Vorstellungen sehen, einordnen, bewerten und beurteilen. Ein
Unterschied in der Beurteilung belebter oder unbelebter Materie kann hier nicht
gefunden werden (Devereux 1984, S.37).
Wie auch immer man eine Untersuchung anlegt, die Tatsache bleibt dennoch
bestehen: Der Blickwinkel, aus dem man die Gegenstände betrachtet,
verändert auch den Anblick der Dinge selbst. Die Analysen, die man anstellt,
die Schlüsse, die man zieht, sind stets geprägt durch die Ansichten, die man
mitbringt. Jeder wisenschaftliche Bericht enthält einen Blickwinkel, der sich
von außen an die Dinge heranmacht: Jede Forschung enthüllt weit mehr über
die Person und Psyche des Forschers als über den Forschungsgegenstand. Im
Sinne von Devereux' psychoanalytischer Terminologie interpretiert bedeutet
das, daß jede Beobachtung von unbekannten Dingen oder Verhaltensweisen
Angst und daraus folgend Abwehrreaktionen hervorruft, die dazu führen, daß
der Forscher gewohnte Muster der Interpretation anwendet, um diese Angst zu
mildem (1984, S.109f.). Diese Abwehr findet sich in allen Forschungsebenen,
bei der Datenerhebung, bei der Interpretation, aber auch schon vorher, bei der
Auswahl der Methode. Mehr noch: Indem gewohnte Untersuchungs- und
Denkmuster verwendet werden, baut jede Forschung mit an der Entstehung
neuer Mythologien und Metaphern, an einer "mythischen Rede" (Zakravsky
1990, S. 42 und 52).
Hier spaltet sich nun der Denkstrang wieder auf: Auf der einen Seite läßt
sich hinsichtlich der Berichte über die Alt-Kanaren aus der Zeit der Eroberung
sagen, daß sie uns sehr viel über die damalige Zeit mitteilen, aber eben nur sehr
wenig über die Lebensbedingungen der Urbevölkerung, dafür sehr viel über die
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Chronisten selbst. Auf der anderen Seite zieht sich der Strang in die Gegenwart
fort: Auch die heutigen Berichte verraten uns mehr über die Forscher, ihr Unbewußtes
und die spezifische lnteresenslage ihrer Forschung als über den untersuchten
Gegenstand. Mit anderen Worten: Es existieren spezifische Interessen,
die hinter jeder Forschung stehen: politische, ökonomische, kulturelle und individuelle
Bedingungen.
Am Beispiel der Kanarischen Inseln zeigten sich solche politische Interessen
natürlich besonders deutlich in der Eroberungszeit, aber auch das FrancoRegime
und der Nationalsozialismus verbanden mit der Erforschung der
kanarischen Urbevölkerung ganz konkrete Ziele. Es müssen aber durchaus
nicht immer so eindeutige politische Absichten zutage treten: auch die Auseinandersetzungen
um den "Zanata"-Stein (Nowak 1994) tragen mehr oder minder
deutlich die Zeichen politischer Interesen. Darunter sind also nicht nur
direkte Beeinflusungen zu verstehen, sondern auch indirekte Auswirkungen
von Forschung, daß etwa das Renommee eines Landes durch Forschungserfolge
oder durch den Fund eines spektakulären Objektes gesteigert werden kann. Ein
weiteres Beispiel aus dem Feld der Archäologie: Als der "Piltown-Mensch",
der lange Zeit als Beweis einer direkten genetischen Kette vom Afen zu Menschen
galt, sich 1953 als Fälschung herausstellte, war das ein schwerer Schlag
für die englische Wissenschaft, aber darüber hinaus auch für ganz England:
"Diese Meldung verursachte eine Art nationaler Trauer" (Di Trocchio 1994, S.
157).
Aber nicht nur Staaten profitieren von wissenschaftlichen Entdeckungen,
dies betrift ebenso auch einzelne Regionen. Einerseits geht es um die Orte, an
denen wissenschaftliche Arbeit geleistet wird, also die Standorte der Universitäten,
Forschungsinstitute und -einrichtungen. Da gibt es etliche Städte, die ihr
Image im Wesentlichen der Beherbergung berühmter Universitäten oder Institute
verdanken, man denke etwa an die "Universitätsstadt" Heidelberg oder an
Oxford und Cambridge. Wissenschaftliche Erfolge eines Landes können
identitätsstiftend wirken. Auf der anderen Seite betrift der Imagetransfer auch
Gegenden, in denen Feldforschung geschieht. Als Beispiele sind hier die Auseinandersetzungen
zwischen österreichischen und türkischen Forschem um die
Ausgrabungen in Ephesus oder der Streit zwischen Nord- und Südtirol um den
berühmten "Ötzi". Der Fundort wie der Ort, wo die wissenschaftlichen Analysen
durchgeführt werden sollten, wurde hier zur regionalen und nationalen
Angelegenheit.
Politische sind meist auch mit ökonomischen und kulturellen Interessen
verknüpft. Wissenschaftliche Untersuchungen bzw. Erfolge wirken sich in einer
gesteigerten Reputation eines Landes, einer Stadt, einer Universität oder
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eines Institutes aus, das denn eben mehr Förderungsgelder erhält. Beim bereits
genannten "Mensch von Piltown" war die öfentliche Empörung war so groß,
daß im Parlament diskutiert wurde, "die jährlichen Zuwendungen an das Britische
Museum zu kürzen, weil es die Öfentlichkeit zu lange betrogen( ... ) habe"
(Di Trocchio 1994, S. 157). Bei Forschungserfolgen geht es um Forschungsgelder,
um die Zuteilung von Posten, aber auch um politischen und gesellschaftlichen
Einfluß, die auf der Basis wissenschaftlicher Reputation erlangt oder eben nicht
erreicht werden können. Fundstätten auf der anderen Seite sind essentiell für
das Interesse, das einem Land oder einer Region entgegengebracht wird, was
sich etwa im Bereich des Fremdenverkehrs gravierend auswirkt (Marschik 1994).
Was jedoch auf keinen Fall übersehen werden darf, ist die Tatsache, daß auch
die Forscher und Forscherinnen mit ihrer Arbeit persönliche Interessen verbinden.
Das bedeutet einerseits, daß sie gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen
Strukturen unterworfen sind, daß sie aber auf der anderen Seite persönliche
Vorlieben hinsichtlich der Forschungsgegenstände wie -praxen entwickeln,
seien diese Präferenzen nun bewußt oder unbewußt. Hier schließt sich
der Kreis zur Ausgangsüberlegung, nämlich zur Frage nach dem Einfluß
altkanarischer Mythen auf die aktuelle Forschung: Dieser Einfluß kommt vor
allem bezüglich der individuellen Entscheidungen, Forschung zu betreiben und
bezüglich der konkreten Forschungssituation zum Tragen.
Worin bestehen also nun die Einflußfaktoren altkanarischer Mythen auf
die rezente Forschungspraxis? - Jeder Wissenschaftler, also jeder, der in irgendeiner
Form wissenschaftliche Forschung betreibt, besitzt dafür konkrete Gründen
und Auslöser, unter der Voraussetzung, daß er innerhalb von Strukturen
lebt, die einen solchen Entschluß überhaupt ermöglichen. Wer sich aber erst
einmal für eine wissenschaftliche Karriere (gleichgültig, ob als Beruf oder als
Hobby) entschieden hat, dem stehen noch immer mannigfache Fachgebiete und
Forschungszweige ofen und innerhalb derer wiederum viele Möglichkeiten
des Ortes und der Art, diese Tätigkeit zu betreiben. In diese Entscheidung
greifen nun, unter anderem,jene mythischen Vorstellungen bewußt oder unbewußt
ein. Sie beeinflussen das Wo und Wie der Forschung, aber auch entscheidend
den Blick auf die Dinge.
Greifen wir das spezielle Terrain der Altkanarenforschung heraus, existieren
manigfache Einflußfaktoren für die Entscheidung, gerade dieses Gebiet
auszuwählen. Exemplarisch seien hier aufgezählt:
• die Randlage der Kanarischen Inseln als äußerster Vorposten Europas, d.h.
die Chance, ferne Länder unter europäischen Bedingungen zu erkunden;
• die klimatischen Bedingungen, die eine angenehme "Atmosphäre" der
Forschung schafen;
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• die Verbindung der Kanaren mit dem Eindruck des "Urlaubsortes", also
die Möglichkeit, eine Verbindung des Wunsches nach Urlaub mit wissenschaftlichen
Zielen vorzunehmen;
• das positive Image der Kanaren gerade in deutschsprachigen Ländern,
indem diese Inseln seit der NS-Ära im deutschsprachigen Rawn eine durchaus
positive Konnotation besitzen.
Es ließen sich hier noch etliche Gründe anführen, die bewußt und noch viel
häufiger unbewußt zwn Tragen kommen. Ein Grund sei jedoch nicht an den
Rand gedrängt, und das sind eben die Mythen von San Borond6n und Atlantis
und die ungelösten Rätsel der alt-kanarischen Ureinwohner: Wer hier forscht,
betreibt nicht nur Detailstudien, sondern findet sich auch auf den Spuren von
etwas "Großem". Mythen erzeugen das Interesse, ihnen nachzugehen bzw. sie
zu entzifern. Sie sind, so oder so, eine Herausforderung. Wer Kanarenforschung
betreibt, sucht nicht allein nach wisenschaftlichen Ergebnissen, sondern der
versucht auch, bewußt oder unbewußt, sich den damit verbundenen Mythen zu
nähern. Es sind "Reisen im Kopf ", die sich zur tatsächlichen Forschungsfahrt
gesellen, es sind phantastische Bilder, die sich zur stringenten Forschungsarbeit
hinzufligen.
Diese Zweigleisigkeit ist allerdings etwas, daß auch in der Analyse des
eigenen Umganges mit den Forschungsinhalten Niederschlag finden sollte. Es
genügt nicht die ständige Hinterfragung, ob wir nach dem westeuropäischamerikanischen
Wissenschaftskanon eine korrekte Forschungsarbeit leisten,
sondern daß es zudem auch nötig ist, unsere eigenen subjektiven Beziehungen
zwn Forschungsgegenstand und die Wirkungen des Forschungsgegenstandes
auf uns immer wieder zu hinterfragen, wn unseren spezifischen Blick auf die
Dinge zu reflektieren.
Eine Anmerkung zwn Abschluß: Es gäbe keinen größeren Fehler, als jetzt
zwn Resultat zu gelangen, die Einbringung persönlicher Vorstellungen und
Phantasien in die Forschung sei abzulehnen. Nicht zuletzt ist es ein Konstituens
aktueller Forschungsrichtungen, etwa auch der postmodernen Wissenschaftskonzepte
(Smart 1992) wie jener der sozialwissenschaftlichen "Cultural Studies"
( Grossberg 1994, Fiske 1992), die eigene Verfaßtheit und Nähe zum Forschungsgegenstand
als Bedingung von Forschung einzuführen, d.h. also, persönliche
Naheverhältnisse zu akzeptieren und positiv anzuwenden, statt sie wie bisher
weitestmöglich auszuschalten.
V ielmehr ist also eine Auseinandersetzung mit Mythen wie etwa mit jenen
der Kanarischen Inseln durchaus positiv zu beurteilen als Erweiterung menschlicher
Horizonte (Karnper/Sonnemann 1986) und nicht als Störfaktor moderner
Erkenntnis. "Die Wirklichkeit entzieht sich uns zunehmend, und dadurch sehen
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wir sie. Atlantis heißt dann: Weil man die Gegenwart nicht mehr im Grif halten
kann und sie dann keinen festen Boden mehr hergibt, auf dem man sicher steht,
sucht man jetzt woanders einen Punkt, wo man noch stehen kann. Der Punkt
wäre gleichzeitig eine Art Startbahn in phantastische Regionen. Das muß nicht
Flucht sein, und Flucht muß nichts Negatives sein. Nur wenn man sich schuldig
fühlt, ist Flucht etwas Negatives" (Müller 1986, S. 20).
Literatur:
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Kanarischen Inseln, La Laguna.
Corbin, Alain (1990): Meereslust. Das Abendland und die Entdeckung der Küste,
Berlin.
Devereux, Georges (1984): Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften,
Frankfurt/M.
Di Trocchio, Federico (1994): Der große Schwindel. Betrug und Fälschung in
der Wissenschaft, Frankfurt/M.-New York.
Erdheim, Mario (1981): Die Wissenschaften, das Irrationale und die Aggression.
In: H.P.Duerr (Hg.): Der Wissenschaftler und das Irrationale. Erster
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Freedman, Carolyn (1992): Culture, Cultural Studies, and the Historians. In: L.
Grossberg, C. Nelson, P. Treichler (Hg.): Cultural Studies, New York-London,
S. 613-621.
Grossberg, Lawrence (1994): Whats in a Name and where is its Future. IKUSLectures
17/18, Wien.
Kamper, Dietmar; Sonnemann, Ulrich (1986) (Hg.): Atlantis zum Beispiel,
Darmstadt-Neuwied.
Lopez Herrera, Salvador (1978): Die Kanarischen Inseln. Ein geschichtlicher
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Umgang mit Kultur am Beispiel der Kanaren. In: Almogaren 24./25.Jg.,
S.301-310.
Müller, Reiner (1986): ATLANTIS EXTRA. In: Ästhetik und Kommunikation
17.Jg, Heft 64, S. 18-22.
Müller, Lothar; Sens, Eberhard: Einige Anmerkungen zur Legende von Atlantis.
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In: Ästhetik und Kommunikation 17.Jg, Heft 64, S. 41-66.
Nowak, Herbert (1994): Der "Zanata"-Stein von Tenerife. In: Almogaren 24./
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Pichler, Werner (1992): Die Ureinwohner-Siedlungen der Halbinsel Jandia
(Fuerteventura). In: Almogaren 23.Jg., S.279-311.
Rösner, Manfred (1990): Die Übersetzbarkeit der Reise. Eine Skizze zur provisorischen
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Augenschein - ein Manöver reiner Vernunft. Zur Reise J. G. Forsters um die
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Smart, Barry (1992): Postmodernity, London, New York.
Torriani, Leonardo (1940): Die Kanarischen Inseln und ihre Urbewohner. Eine
unbekannte Bilderhandschrift vom Jahre 1590. Hrsg. von D.J. Wölfel, Leipzig.
Zakravsky, Catherina (1990): Terra incognita. Begegnungen im Treibeis. In: M.
Rösner; A. Schuh (Hg.): Augenschein - ein Manöver reiner Vernunft. Zur
Reise J.G. Forsters um die Welt, Wien, S.29-62.
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