Anhang:
Hans-Joachim Ulbrich
Zum Thema "linear-geometrischer Stil" auf Lanzarote:
Versuch einer Interpretation der von H.-M. Sommer
vorgestellten Felsritzungen
Bei den von Herrn Sommer entdeckten Felsritzungen (Abb. la-lg, 5-12, 15,
17-20) handelt es sich durchwegs um den von Lanzarote und anderen Kanarischen
Inseln bekannten "linear-geometrischen Stil", der durch eine meist
chaotische Ansammlung von Linien (mehr oder weniger parallel und überkreuzend),
Kurven und einfachen geometrischen Figuren(\/, Netze, ZickzackLinien,
Kreise/Ovale, Dreiecke, Rechtecke usw.) charakterisiert ist. Die deutliche
Mehrzahl der Paneele auf Lanzarote zeigt diesen StiP. Eine besondere
Schwierigkeit besteht darin, dass nicht immer eindeutig zu erkennen ist, ob
es sich im Einzelfall um ein bestimmtes Zeichen (Kreuz, V, Dreieck, Netz
usw.) handelt oder um eine Form, die aufgrund der chaotischen Einritzung
von Linien zufällig entstanden ist. Nahezu alle der hier vorgestellten Paneele
würde ich dem chaotischen Bereich zurechnen wollen (Abb. la-lg, 5-10, 12,
15, 18, 19) und nur einige wenige dem gewollt geometrischen (Abb. 11, 17, 20).
Was kann einen prähispanischen Bauern oder Hirten dazu gebracht haben,
mühsam Linien und Kurven in den meist basaltischen Stein zu ritzen (oberflächlich)
oder zu gravieren (tiefergehend)? Ein viel zu wertvolles Metall-Messer
wird er dazu nicht benützt haben, da es aufgrund der nahezu auszuschließenden
(bzw. nach heutigem Wissensstand nur sehr sporadischen) Kontakte
zum Festland keinen Nachschub an Metallgegenständen gab. Er wird auf den
vulkanischen Inseln einen bzw. mehrere Splitter aus Basalt oder härterem Obsidian
verwendet haben, sodass die "Felsbilder" je nach Ritztiefe und Linienmenge
einen erheblichen Zeitaufwand erfordert haben dürften. Meiner Meinung
nach kann man sich total von der Vorstellung lösen, dass er diese Ritzungen
und Gravuren aus Langeweile vornahm, z.B. beim Beaufsichtigen
grasender Ziegen und Schafe. V ielmehr kann aus seinen Lebensumständen -
Notwendigkeit einer fruchtbaren Ernte bzw. Tierhaltung in einer dafür nicht
immer günstigen, zeitweise ariden natürlichen Umgebung - auf den Wunsch
geschlossen werden, seine Kommunikation mit göttlichen Wesen, die diese
1 Siehe Grafik A. Die Grafiken (A/B) entstammen dem Vortrag Hans-Joachim Ulbrich:
Elements of the prehispanic rock-art of Lanzarote (Canary Islands).- "ler. Simposio de
Manifestaciones Rupestres de! Archipielago Canario y Norte de Africa" Las Palmas de
Gran Canaria April 1995 (Die Kongressakten wurden leider nie veröfentlicht.)
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Umstände verbessern können, zu intensivieren. Er wird dafür auch das Medium
Stein genutzt haben.
Den Einfluss von Sonne und Regen auf das Wachstum von Pflanzen (Getreide,
Futtergräser/-kräuter) hat er zweifellos gekannt. Wie auf der Iberischen
Halbinsel2 so kann auch für die Kanarischen Inseln die Darstellung von Sonnenstrahlen
und Regen angenommen werden; auch an Mondlicht ist zu denken.
Dies wird durch zwei Beobachtungen unterstützt: Laut den Berichten
der frühen Besucher und Konquistadoren des 14. und 15. Jahrhunderts übten
die Altkanarier einen Astralkult aus, in dem Sonne und Mond angebetet wurden.
Wir können vermuten, dass es sich dabei um physische Konkretisierungen
mediterraner Gottheiten beiderlei Geschlechts handelt, die für die Vorgänge
in der Natur zuständig waren3
• Es kommt hinzu, dass auf Lanzarote
nahezu alle vorspanischen Felsbild-Paneele auf der Südost-/Süd-/ SüdwestSeite
der Felsen liegen (siehe Grafik B)4, also dem Sonnenlauf gegenüber -
dies kann kein Zufall sein. Ich vermute in den chaotischen Linien eine Unterstützung
und Verstärkung der bei kultischen Zusammentreffen abgehaltenen
Bittzeremonien für Regen; diese werden zwar für Lanzarote nicht explizit
erwähnt, wohl aber für andere Inseln des Archipels. Am Rande sei erwähnt,
dass die Funktion der auf Lanzarote gefundenen Lithophone noch nicht geklärt
ist und dass diese Klangsteine möglicherweise mit solchen Zeremonien,
die den Ernteerfolg betrafen, in Zusammenhang stehen; man denke an den
chtonischen Charakter der Großen Mutter.
Mit Vorbehalt (soweit eben nicht dem chaotischen Bereich zuzurechnen)
lassen sich die mehr konkreten Formen der Paneele in den Abb. 11, 12, 17, 18
und 20 möglicherweise wie folgt interpretieren:
2 Beitran Martinez, A. (1983): EI arte esquematico en Ja Peninsula Iberica: origenes e
interrelaci6n. Bases para un debate.-Actas de! Coloquio Intern. sobre Arte Esquematico
de Ja Peninsula Iberica (= Zephyrus XXXVI/ 1983), Salamanca, S. 39
3 Eine Untersuchung, um welche Gottheiten der verzweigten mediterranen Theogonie es
sich hier handelt, würde den Rahmen dieses Anhangs sprengen. Möglichkeiten, besonders
im Bereich der Großen Mutter und der mit ihr zusammenhängenden männlichen
Götter, gäbe es zahlreich. Man denke u.a. an phönizische und römische Kultureinflüsse,
vielleicht auch an ägyptische, griechische und Glockenbecher-orientierte. Zur Interpretation
vergleiche man auch die Ausführungen bei Ulbrich, H.-J. (2000): Eine Spur der
Großen Mutter auf Lanzarote (Kanarische Inseln).- Almogaren XXXI [S. 71-87 dieses
Jahrbuchs]. Von Gran Canaria z.B. kennen wir die Darstellung weiblicher und männlicher
Gottheiten in Form von Statuetten und Statuen.
4 Man sehe auch die entsprechenden Textstellen zu Ritztechnik, Positionierung und Rillentypen
in Ulbrich, H.J. (1991): Felsbildforschung auf Lanzarote.- Almogaren XXI / 2 /
1990, Hallein 1991.
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Prehispanic rock art on Lanzarote - Statistics
Frequency of panels
ldeograms 80 %
(linear-geometric)
lnscriptions
15 %
Pictograms
5%
Orientation of panels towards the sun
ROCK
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© H.-J. Ulbrich 1995
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- V-Zeichen, Dreiecke und Ovale als Symbole für weibliche Geschlechtsteile
und damit vor allem als Fruchtbarkeitssymbole, wie sie bereits in anderen
Paneelen Lanzarotes nachgewiesen werden konnten.
- Rechtwinkelige Netze möglicherweise als Symbol für Felder bzw. Ackerbau
und landwirtschaftliche Topographie.
Zahlreiche Statuetten der Großen Mutter weisen auf ihrem Unterleib solche
Netzmuster auf, die die Göttin mit großer Wahrscheinlichkeit als Bewahrerin
und Förderin des Ackerbaus und des bäuerlichen Besitzes kennzeichnen.
Diese Netze können auf den Kanaren z. T. mit Glückssymbolen, die sich aus
antiken, in den Fels geritzten "Spielbrettern" ableiten, verwechselt werden.
- Kreuze ebenfalls als Attribute der Großen Göttin.
Wir finden solche Kreuze (allein oder als Innenkreuz eines Kreises) z.B. im
Bereich megalithischer Felsbildkunst, aber auch auf Keramik und auf Statuetten
der Großen Mutter. Gimbutas ( 1996: 218, 392)5 bezeichnet sie als
Symbole des Werdens und der Kraft. Ich würde sie darüberhinaus gerne
dem Kreis der Fruchtbarkeitssymbole zurechnen wollen.
Wenn diese Interpretationen zutrefen, dann unterstützen sie ebenfalls die
Annahme eines Kultes der Großen Mutter auf Lanzarote.
Da sie im weiteren Sinne Felsbearbeitung darstellen, sei kurz auf die Näpfchen
(span. cazoletas / Abb. lh-li, 2-4, 13, 16) eingegangen. Interessant ist,
dass die imAjaches-Gebirge (Süden) und im Jable-Gebiet (Zentrum) entdeckten
Cazoletas nun durch weitere Funde im Zentrum und Norden der Insel ergänzt
werden, so dass mit der Herstellung solcher Vertiefungen überall auf
der Insel zu rechnen ist6
• Nach meiner Einschätzung können auch die Cazoletas
dem Kult der Großen Mutter zugerechnet werden. Sie - ihr Körper und besonders
ihre Vulva - ist das "Gefäß" schlechthin, aus dem Leben und lebenspendende
Flüssigkeiten (man vergleiche u.a. ihr zugeschriebene Quell-Heiligtümer)
entspringen. Die lanzarotischen Näpfchen mögen in diesem Zusammenhang
für Libationen (Flüssigkeitsopfer) genutzt worden sein.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die von H.-M. Sommer gefundenen
Paneele wie überhaupt die Mehrzahl der lanzarotischen Felsritzungen
einen kultischen Zweck haben und höchstwahrscheinlich auf die Verehrung der
Magna Mater Mediterranea und einer mit ihr verknüpften männlichen Gottheit
(Sonne) hindeuten (weitere Argumente zu letzterem in einer geplanten Arbeit).
5 Gimbutas, Marija (1996'): Die Sprache der Göttin. Das verschüttete Symbolsystem der
westlichen Zivilisation.- 2001-Verlag, Frankfurt/M., 416 S.
6 Zu den Neufunden von Näpfchen und künstlichen Rinnen sehe man auch Cabrera Perez,
J.C.; Perera Betancort, M.A.; Tejera Gaspar, A. (1999): Majos. La primitiva poblaci6n de
Lanzarote (Islas Canarias).- Col. Torcusa 6 (Fund. Cesar Manrique), Madrid (D.L.), 389 S.
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