Almogaren XXVII/ 1996 Hallein 1996 7 - 83
Werner Pichl er
Libysch-berberische Inschriften auf Fuerteventura
Inhaltsangabe:
1. Vorbemerkung
2. Forschungsgeschichte
3. Die libysch-berberische Schrift
4. Corpus der Inschriften Fuerteventuras
5. Die libysch-berberischen Inschriften der Kanarischen Inseln
5.1. Übersicht über die Fundstellen
5.2. Bewertung der Inschriften
5.3. Bisherige Ansätze zu Transkription und Lesung
5.4. Vergleich der Zeicheninventare
5.5. Das kanarische Alphabet der libysch-berberischen Schrift
5.6. Transkription der Inschriften Fuerteventuras
5.7. Semantische Aspekte
6. Zusammenfassung
Anhang: Versuch einer Systematik der libysch-berberischen Schrift
1. Vorbemerkung
Nicht nur durch die zahlreichen Neufunde latino-kanarischer Inschriften
auf den beiden östlichsten Inseln des Kanarischen Archipels ist neue Bewegung
in die Diskussion um kanarische Felsinschriften gekommen. Auch im
Bereich der libysch-berberischen Inschriften gibt es einige erfreuliche Bereicherungen
des bisher fast nur von Hierro und Gran Canaria stammenden
Untersuchungsmaterials zu melden. Auf diesen beiden Inseln gibt es Neufunde,
daneben aber auch erstmals solche auf Lanzarote und Tenerife, neuerdings
sogar auf Gomera. Damit ist dieser Schrifttypus nunmehr auf allen Inseln
belegt und hat auch quantitativ ein Ausmaß erreicht, das statistische Analysen
und Vergleiche ermöglicht. Das Verwirrende an dieser Inschriftengruppe
ist u.a. die Vielzahl der grafisch unterschiedlichen Zeichen: Ca. 80 optisch
unterscheidbare Zeichen haben in der Vergangenheit vielfach zu großen Un-
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sicherheiten und Fehldeutungen geführt. Zweifel kamen auf, ob es sich überhaupt
um eine libysch-berberische Schrift handle und wenn ja, ob sie nicht
von zahlreichen „fremden" Zeichen durchsetzt sei.
Hauptgegenstand der vorliegenden Arbeit aber sind die neuerdings auf
Fuerteventura entdeckten Inschriften des libysch-berberischen Typs, Ergebnis
intensiver eigener Feldforschungstätigkeit in den Jahren 1992 - 94. Neben
ihrer Dokumentation und einer Untersuchung ihres Zeichenbestandes sollen
auch Überlegungen angestellt werden über ihre Datierung, ihre Urheber und
ihren möglichen Inhalt. Alle diese Überlegungen sind nur dann sinnvoll, wenn
man die Inschriften Fuerteventuras im Kontext aller libysch-berberischen Inschriften
der Kanarischen Inseln betrachtet und diese wiederum in Vergleich
stellt mit den libysch-berberischen Inschriften Nordafrikas. Deshalb muß die
vorliegenden Arbeit zwangsläufig weit über die im Titel genannte Thematik
ausgreifen. Hierin ergeht es mir wie Alvarez Delgado, der in seinem Buch
,,Inscripciones libicas de Canarias" (1964) dem eigentlichen Thema nicht einmal
ein Zehntel des Gesamtumfanges widmet. Da die Arbeiten zu diesem
Thema zum Großteil weit verstreut sind in schwer zugänglichen Publikationen
und in fünf Sprachen verfaßt, scheint es angebracht, zum besseren Verständnis
der Spezialthematik einen Überblick über die bisherige Forschungsgeschichte
zu geben.
2. Forschungsgeschichte
Der Beginn der Felsbildforschung auf den Kanarischen Inseln reicht bis in
das 18. Jh. zurück. 1776 berichtet Viera y Clavijo in seinen „Noticias de la
historia general des las islas de Canaria" über die Entdeckung von Felsbildern
in der Höhle von Belmaco (La Palma). Dieser Fund bleibt jedoch völlig vereinzelt.
Es vergehen fast 100 Jahre bis zur nächsten Entdeckung: 1870 beschreibtAquilino
Padr6n erstmals den spektakulären Fundplatz Los Letreros/
El Julan auf Hierro. In den folgenden Jahren kommt es auch zu den ersten
Funden auf Fuerteventura.
1874 stößt Don Luis Benitez de Lugo, Marques de la Florida, bei Aushubarbeiten
für eine Zisterne auf seinem Landgut im Süden der Insel auf Ruinen
von Gebäuden der Ureinwohner. Dabei findet man u.a. ,,un fragmento de
inscripci6n lapidaria con signos grabados muy parecidos a los de Los Letreros
de la Isla de Hierro" (Berthelot 1879/1980: 142). Don Luis Benitez teilt diese
Entdeckung dem französischen Botschafter Sabin Berthelot mit, verstirbt jedoch,
ohne sich - wie geplant - der näheren Erforschung der Fundstätte gewidmet
zu haben, im Jahre 1877.
In der neueren spanischen Literatur gibt es manche Konfusion rund um
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diesen ersten Fund. Vor allem wird er immer wieder auf der Halbinsel Jandia
lokalisiert (z.B. bei Le6n Hernandez et al. 1988: 176). Diese Verwechslung
beruht auf der verwirrenden Formulierung Berthelots, die Fundstelle liege
von Puerto Cabras „hacia el sur y en esta parte de Fuerteventura formada por
la casi isla de Jandia" (Berthelot 1879/1980: 143). Das war wohl eher gemeint
im Sinne von „von Puerto Cabras in Richtung Jandia", denn im selben Satz
präzisiert Berthelot, die Fundstelle liege 23 km von Puerto Cabras entfernt
( das kann niemals auf Jandia zutrefen) und unweit des Barranco de la Torre.
Abenteuerlich sind die Interpretationen dieser Inschrift. Da der Stein heute
nicht mehr aufindbar ist, beruhen sie alle auf der Abbildung in Berthelots
,,Antigüedades" (1879/1980: Grab. No. 9, Fig. 4). Wie ernst man diese Abzeichnungen
nehmen darf, wird dann deutlich, wenn man Berthelots Geländeskizzen
(z.B. des EI Castillo: Grab. No. 9, Fig. 5) oder Felsbildabzeichnungen
(z.B. Candia: Grab. 18, Fig. 1-5) mit der Realität vergleicht. Die Zeichenfolge
ist bei Berthelot waagrecht abgebildet und besteht außer 6 senkrechten Strichen
aus einem Kreis, einem Halbkreis und einem V (Abb. 1.2). Trotz dieser
recht neutralen Zeichenformen sehen sich einige Autoren in der Lage, exakte
Transkriptionen und Lesungen vorzulegen.
,fe;g.J
1.1 1.2
Hernandez Benitez (1955: 184 f) deklariert sie als lateinische Votivinschrift
eines römischen Richters an den Gott Jupiter:
Centum Vir lulius Iovi Optimo Maximo.
Er datiert die Inschrift aufgrund der speziellen Form des M in das 3. Jh. unserer
Zeitrechnung. Abgesehen von allen anderen Waghalsigkeiten dieser Deutung
ist die Darstellung des M durch vier senkrechte Striche keineswegs typisch
für das 3. Jh.
Alvarez Delgado (1964: 399) geht von der Annahme aus, daß es sich um
eine libysch-berberische Inschrift handelt. Er dreht daher die Zeichenfolge
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um 90°, transkribiert sie nach dem „saharanischen" Alphabet als „mdlmy"
und bietet dafür zwei aus dem Tuareg abgeleitete Übersetzungen an:
amadel-aranah = mandibula atada (festgebundener Unterkiefer)
amadal-iranay = tierra mala (schlechtes Land)
Abgesehen von der Unsinnigkeit, etwas Derartiges in einen Stein zu ritzen,
macht Galand (1973: 74) darauf aufmerksam, daß die Lesart amadal ein emphatisches
d enthalten müßte.
Im Jahre 1878 erhielt Berthelot Nachricht von einem weiteren Inschriftenfund.
Der bekannte Majorero Ram6n Castafieyra teilte ihm mit, daß er unweit
des Barranco de la Torre unter den Ruinen einer Eingeborenensiedlung eine
weitere Steinplatte mit Ritzungen gefunden habe, die denen des ersten Fundes
glichen. Castafieyra selbst fand Ähnlichkeiten der Zeichen mit denen der
keltischen Inschriften des Castellon de la Plena und denen des Felsen von
Douglas auf der Insel Man. Wieder sind es wie bei Fund 1 sechs gerade Striche,
diesmal ergänzt durch ein S-förmiges und einY-förmiges Zeichen.
Berthelot bildet die Zeichenfolge in zwei senkrechten Reihen ab: Grab. No.9,
Fig.3 (Abb. 1.1).
Hemandez Benitez sieht darin wiederum eine lateinische Inschrift und
dreht sie daher in die Waagrechte. Für die zweite Zeile bietet er zwei Lesungen
an:
entweder: S = Tironische Note für „1000 Schritte"
YIIII = neun (Y= V)
also: 9000 Schritte
oder: S = piedra Miliaria (Meilenstein)
Y = fünf
IIII = M(illias)
also: Meilenstein: 5 Meilen.
Alvarez Delgado beläßt es bei der senkrechten Darstellung, seine grafische
Wiedergabe (Fig. 64b) ist aber insofern nicht ganz korrekt, als sie aus dem Yförmigen
Zeichen ein V-förmiges macht, was nicht ganz gleichgültig ist, da es
in dem „saharanischen" Alphabet, nach dem er transkribiert, beide Zeichen
gibt. Indem er wie Hernandez Benitez die beiden isolierten Striche ignoriert,
transkribiert er die übrige Zeichenfolge als „idyn" und bietet als Übersetzung
den Plural des berberischen Wortes eidi ( eher: aydi) an: iudayan = Hunde,
Dämonen. Abgesehen davon, daß der Plural eher „idan" heißen müßte, wäre
auch in diesem Wort ein emphatisches d anzunehmen (Galand 1973: 74).
Die Konfusionen setzen sich auch in den neuesten Arbeiten fort. So wird
in einem Beitrag in TEBETO I von Le6n Hernandez et.al. (1988) in der Übersetzung
der Inschrift 1 durch Hernandez Benitez der Gott „Jupiter" in einen
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,,Julius" umgewandelt und den beiden Inschriften jeweils die falsche Übersetzung
Alvarez Delgados zugeordnet.
Tatsache ist, daß beide Inschriftensteine abtransportiert wurden und seither
nicht mehr aufgetaucht sind. Ein Originalmanuskript von Castafieyra enthält
jedenfalls im Anhang ein Verzeichnis von Objekten, die er an das Kabinett
der Wissenschaften von Santa Cruz de Tenerife abschickte. Unter Nr. 12
steht in diesem Verzeichnis: ,,Ein Stein mit Inschriften gefunden in La Torre".
Die restlichen 11 Objekte trafen in Santa Cruz ein, die Inschrift aber nicht
(Castro Alfin 1987: 300).
Inzwischen waren auf anderen Kanarischen Inseln (besonders auf Hierro)
zahlreiche Inschriften entdeckt worden, die große Afinitäten mit nordafrikanischen
aufwiesen und es hatte eine rege Diskussion über ihre Zuordnung
und Datierung eingesetzt.
Die nächsten Inschriftenfunde auf Fuerteventura, die man als libysch-berberisch
deklarierte, datieren aus den Jahren 1981 und 1984 (Abb. 2). Sie stammen
aus dem Barranco del Cavadero und werden erstmals 1988 in der oben
genannten Arbeit in T EBETO I publiziert. Beide Inschriften bestehen aus
senkrecht angeordneten Zeichenfolgen und wurden in der Technik der
Punzierung auf den senkrechten Flächen von Felsblöcken angebracht und
zwar an der Stelle des Barrancos, die wegen der bläulich-grauen Farbe des
Gesteins auch Barranco Azul genannt wird.
Inschrift 1 (Tebeto I, Abb S. 197): Die Wiedergabe ist bis auf das unterste
-
=.s
'-1
2.1
.,.,
1;
D
r
2.2
Zeichen, das unvollständig ist,
korrekt.
Inschrift 2 (Tebeto I, Abb. S.
198): Die Zeichenfolge wurde
irrtümlich um 180° gedreht,
die Wiedergabe der Zeichen
entspricht nicht der Realität.
Eine hundertprozentig sichere
Abzeichnung ist wegen der
rauhen Gesteinsoberfläche
auch gar nicht mehr möglich.
Insofern stellt die Wiedergabe
bei Pichler (1993d) nur einen
Rekonstruktionsversuch dar. Beide Inschriften werden von den Autoren als
libysch-berberisch bezeichnet ohne mit einem Wort auf die Zeichenformen
oder ihre phonetische Wertigkeit einzugehen. Im Verlauf meiner Feldforschungstätigkeit
der letzten Jahre konnte ich durch die Dokumentation weite-
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rer punzierter Inschriften im Barranco del Cavadero nachweisen, daß es sich
in Wirklichkeit um latino-kanarische Inschriften (Typus der Ostinselschrift)
handelt (Pichler 1993d: 323).
In den 80er-Jahren erschienen einige Veröfentlichungen, die das Vorhandensein
libysch-berberischer Inschriften auf Fuerteventura negieren bzw.
generell in Abrede stellen. 1983 schreibt Hernandez-Rubio Cisneros im fast
tausendseitigen ersten Band seiner Fuerteventura-Monographie: ,,En Fuerteventura
. . . no se han encontrado . . . signos, que pudieron ser interpretados
como inscripciones alfabeticas" (1983: 561 ). Die „sogenannten Petroglyphen"
Fuerteventuras - er setzt dieses Wort konsequent in Anführungszeichen, da er
es weder in einem Wörterbuch noch in einer Enzyklopädie gefunden hat -
versieht er mit den Attributen „garrapatos" (gekritzelt) und „mamarrachos"
(geschmiert, gekleckst), die einschlägigen Arbeiten von Wölfel, Jimenez
Sänchez, Alvarez Delgado und Marcy werden von ihm generell als „fantasias"
und „camelancias" abqualifiziert.
Renate Springer (1987: 115) schreibt in ihrer kurzen Abhandlung über die
libysch-berberischen Inschriften der Kanarischen Inseln, daß es auf Fuerteventura
(und Gomera) keine „inscripciones bereberes" gäbe.
Ebenso behandelt Militarev (1988) bei seinem Versuch, kanarische Inschriften
mittels der Sprache der Tuareg zu lesen, nur Inschriften von Hierro.
Hernändez Bautista (1987: 59) nimmt weder die Funde des vorigen Jahrhunderts
noch die des BarrancoAzul in das Inventar der libyschen Inschriften
des Kanarischen Archipels auf, da beide Gruppen seiner Meinung nach nicht
mit Alphabeten libyscher Struktur korrespondieren. Drei Jahre später (1990:
94) nennt er jedoch neben dem BarrancoAzul als zweite Fundstelle libyscher
Inschriften die Montafia Blanca. Er schreibt von 21 Zeichen von 2 cm Höhe,
unter denen kein punktförmiges sei, ergänzt aber leider keine Abbildung.
Tejera Gaspar (1991) erwähnt in Bezug auf die beiden im vorigen Jahrhundert
entdeckten Inschriften nur die beiden unterschiedlichen Auslegungen
ohne selbst Stellung zu beziehen. In der Folge macht er den Vorschlag, zu
überlegen, ob die neuerdings gefundenen „kursiv-pompejanischen" Inschriften
nicht in Wirklichkeit prä-libysche seien.
Einen quantitativ beachtlichen Sprung in Hinsicht auf die Registrierung
neuer Felsbild-Fundstellen auf Fuerteventura stellt der wahrscheinlich 1992
erschienene Ausstellungskatalog „Los grabados rupestres de la isla de
Fuerteventura" dar. Auch er vermag jedoch die Kenntnisse über libysch-berberische
Inschriften nur minimal zu erweitern. Die Autoren Hernändez Diaz
und Perera Betancor unterscheiden nach der Anbringungstechnik 2 Typen
libysch-berberischer Schrift:
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TypA)
Technik: punziert
Fundstelle: Barrranco del Cavadero (2 Fundstellen mit jeweils 3 Paneelen)
TypB)
Technik: geritzt
Fundstellen: Montafia Blanca (1 Paneel mit 2 Zeilen zu je 4 Zeichen)
Morrete de Tierra Mala (1 Paneel mit 3 Zeilen).
Zusammenfassend kann der Forschungsstand des Jahres 1993 folgendermaßen
umrissen werden:
• Es gibt zwei im vorigen Jahrhundert gefundene und heute nicht mehr überprüfbare
Inschriften, deren Zuordnung zur libysch-berberischen Schrift
überaus fraglich ist.
• Es gibt zwei publizierte Punzierungen des Barranco del Cavadero, die in
Wirklichkeit der lateinischen Kursivschrift zuzuordnen sind.
• Es verbleiben eine Zeile auf dem Morro de la Galera (Los Grabados, Calco
9), zwei Zeilen auf der Montafia Blanca (Calco 2) und drei Zeilen auf den
Morretes de Tierra Mala (Calco 4), insgesamt 19 Zeichen (Abb. 3).
• Die Literatur zum gegenständlichen Thema kann als reichlich verworren
und widersprüchlich bezeichnet werden.
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Abb. 3
3. Die libysch-berberische
Schrift
Dieser Begrif ist heute
üblich als Sammelbezeichnung
für eine Gruppe von
Alphabeten aus verschiedenen
Epochen, verbreitet in
Nordafrika von Libyen bis
Marokko, in der Sahara und
auf den Kanarischen Inseln.
Nach Galand (1989: 2) gibt
es keinen Zweifel an einer
ursprünglichen Einheit der
Schrift, aber bereits zur Zeit
der sogenannten libyschen
Monumentalinschriften hat
sie sich in verschiedene Alphabete
aufgespalten. Was
dieB enennung einzelnerA l-
13
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phabete und ihre Abgrenzung voneinander betrifft, sind sich die Fachleute
sehr uneinig. Auch die lange Zeit proklamierte Aufteilung in ein östliches und
ein westliches Alphabet wird der Vielfalt der Formen nicht gerecht, eine klare
Grenzziehung zwischen beiden ist völlig unmöglich. Auch die seit Rössler
diskutierte Zuteilung der beiden Alphabete zu den Reichen der Massyler und
Masaesyler ist letztlich nur eine Arbeitshypothese. Wo sollen bei dieser Zweiteilung
die alten Felsinschriften Nordafrikas und die saharanischen Inschriften
zugeteilt werden? Auch in sich sind die beiden Gruppen alles andere als
homogen. Innerhalb des Ostlibyschen unterscheidet sich die Schrift der
Epitaphe klar von der der Monumentalinschriften (Abb. 4), ganz abgesehen
von den nicht lesbaren libyschen Inschriften Tripolitaniens, zum Beispiel von
Ghirza (Brogan 1975) oder dem rätselhaften „Libyque de Bu Njem" (Rebufat
1974/75). Auch im Westlibyschen weicht das Zeicheninventar der marokkanischen
Inschriften von dem der algerischen ab, daneben postuliert Galand
(1989) neuerdings ein eigenes „alphabet au chevron". Völlig umstritten ist die
Zuordnung der bisher bekannten kanarischen Inschriften.
Angesichts dieser unklaren Verhältnisse, deren wesentlichste Ursachen in
der geringenAnzahl von Inschriften und dem fast völligen Fehlen von Biliguen
zu suchen sind, empfiehlt Galand (1993: 123), möglichst neutral von „Schriften
des libysch-berberischen Typs" zu sprechen.
Herkunft:
In Bezug auf die Herkunft der libysch-berberischen Schrift ist man weitgehend
auf Spekulationen angewiesen. Eine kurze Literaturübersicht soll die Viel-
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falt der Meinungen dokumentieren
(weitgehend
nach Jensen
1958: 146 f).
Blau (1851) dachte
an eine Ableitung
aus dem Südsemitischen
und zwar von
der sabäischen und
äthiopischen Schrift
(südarabisch). Auch
Littmann(l904) nahm
südsemitischen Ur-
Abb.4
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sprung an, er favorisierte jedoch nordarabische Schriften: das Safatenische
und Thamudische. Im 4. und 3. Jh . v.Chr. hätten arabische Einwanderer die
Schrift zu den Berbern gebracht.
Halevy (1874) urgierte erstmals phönizischen Ursprung, ebenso wie
Lidzbarski (1898), der das Libysch-Berberische von der punischen Kursive
ableitete und die Abweichungen durch das Streben nach Symmetrie erklärte.
De Saulcy (1849) versuchte gar eine Herleitung von den ägyptischen Hieroglyphen.
Allen diesen Ansätzen gemeinsam ist die Schwierigkeit, die doch beträchtlichen
Unterschiede zu den verglichenen Schriften zu erklären. Es ist daher
nicht verwunderlich, daß irgendwann der Gedanke an eine individuelle
Schrifterfindung aufkam. Meines Wissens hat Meinhof (1931) diese Idee erstmals
artikuliert. Er dachte dabei an einen „intelligenten Libyer", der in Ägypten
ägyptische und altarabische Schriften kennengelernt hatte und für seine
Muttersprache eine eigene Schriftart erfand.
Auch Jensen (1958) trat für die Idee der selbständigen Schriftschöpfung
ein, nahm aber an, daß die Anregungen dazu eher aus dem älteren Punisch
gekommen waren.
Lhote (1955) war skeptisch gegenüber der Herleitung aus dem Punischen.
Seine Kritik konzentrierte sich auf die Frage, wieso die Libyer dann nicht
gleich das punische Alphabet als Ganzes übernommen hätten, da dieses doch
von hoher Qualität und leichter zu gebrauchen gewesen wäre.
Friedrich (1966) wendete sich zwar gegen eine direkte Entlehnung aus der
semitischen Schrift, dachte aber an eine Parallelentwicklung zu dieser.
Rössler (1979) schloß sich im wesentlichen der Meinung Littmanns an,
indem er das „Numidische" auf ein orientalisch-semitisches Uralphabet des
2. Jahrtausends v.Chr. zurückführte und eine Übermittlung durch nordarabische
V ölker (T hamudier oder Verwandte) annahm.
Haarmann (1990) wiederum schloß sich der Meinung Jensens an und hielt
den Kontakt der Libyer mit der karthagischen Kultur für entscheidend.
Alter:
Die älteste datierte Inschrift in libysch-berberischer Schrift stammt - falls
die Lesung des punischen Textes der Bilingue stimmt - aus dem 10. Regierungsjahr
des Königs Micipsa (138 v. Chr.). Darüberhinaus ist kaum eine der
über tausend Inschriften auch nur annähernd exakt zu datieren . Als Zeitraum
ihrer Entstehung ist die Zeit vom 3. oder 4. vorchristlichen Jahrhundert bis
zum Ende der Römerherrschaft anzunehmen (Galand 1989: 70). Diese Aussagen
gelten allerdings nur für die Monumental- und Grabinschriften. Die
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Felsinschriften Nordafrikas repräsentieren, was ihr Alter betrift, eine ganz
andere Kulturstufe. Camps (1978) datiert die Inschrift von Azib n'Ikkis
(Yagour/Marokko) als älteste in die Zeit vor das 6. Jahrhundert v. Chr.
Schrifttypus:
Schriften des libysch-berberischen Typs sind fast reine Konsonantenschriften.
Anlautende Vokale werden völlig ignoriert, für den vokalischen
Auslaut steht' (= A/H, seltener I oder U). Inlautende Vokale werden im Prinzip
nicht geschrieben. Unter dem Einfluß des Punischen (und vielleicht auch
des Lateinischen), mit dem das Libysch-Berberische von Anfang an in Konkurrenz
stand, kam es allerdings zu sporadischer Vokalschreibung imAn- und
Inlaut. Worte werden normalerweise nicht abgetrennt, es gibt auch keine Verdopplung
von Konsonanten.
Schriftrichtung:
Mit Ausnahme der Monumentalinschriften von Dougga, die in horizontalen
Zeilen (von rechts nach links) angeordnet sind, wurde Libysch-Berberisch
normalerweise in senkrechten Zeilen (von unten nach oben) geschrieben.
Aus technischen Gründen werden im folgenden bei der Wiedergabe libysch-
berberischer Inschriften die Zeichen horizontal (von links nach rechts)
angeordnet, wobei ihre Orientierung beibehalten wird (Leserichtung t: Li =
M; :J = D etc.).
4. Corpus der Inschriften Fuerteventuras
4.1. Dokumentation
Da die libysch-berberische Schrift zum Teil aus sehr einfachen geometrischen
Formen besteht (1, 11, + etc.), die auch in Ritzungen ohne Schriftcharakter
häufig vorkommen, war die Abgrenzung dessen, was in das Corpus aufgenommen
werden sollte, relativ schwierig. Die Auswahl beschränkt sich de
facto auf jene „Inschriften", die aus mindestens zwei Zeichen des libyschberberischen
Inventariums bestehen und in einigermaßen linearer (senkrechter)
Form angeordnet sind.
Bezüglich der Problematik ihrer Dokumentation traten auch hier alle jene
Schwierigkeiten auf, auf die schon bei der Publikation der Ostinsel-Inschriften
hingewiesen wurde (Pichler 1993: 313f): verschiedenes Aussehen bei verschiedenem
Einfallswinkel des Lichtes, hoher Grad der Verwitterung etc.
V ielfache Begehungen zu unterschiedlichen Tages- und Jahreszeiten waren
notwendig, um zu einigermaßen wirklichkeitsgetreuen Abbildungen zu kommen.
Einige schon im Corpus der Ostinsel-Inschriften publizierte Zeilen
müssen aus heutiger Sicht geringfügig korrigiert werden. Überlagernde und
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benachbarte Ritzungen wurden in der Regel weggelassen. Eine Ausnahme
davon stellen nur benachbarte Inschriften in lateinischer Schrift dar. Die Inschriften
werden in unterschiedlichem Maßstab wiedergegeben, die im unteren
Teil jeder Abbildung angegebene Längeneinheit entspricht 10 cm. Die
Numerierung der Paneele erfolgt in der rechten oberen Ecke nach folgendem
Schema:
• Ein Buchstabe bezeichnet die Fundregion (Abkürzungen siehe Tabelle:
Verzeichnis der Fundstellen).
• Eine arabische Zahl bezeichnet das jeweilige Paneel.
4 2 Verzeichnis der Fundst ellen
Fundregion Paneele Zeilen
B Cuchillete de Buenavista 5 6
s Montafieta del Sombrero 6 8
M Morro de Montafia Blanca 6 8
G Morro de la Galera 3 5
C Barranco del Cavadero 4 5
T Morretes de Tierra Mala 1 3
25 35
4.3 L ae d er Fu nd ts e ll en
Fundregion Nördliche Breite Westliche Länge
Cuchillete de Buenavista 28° 23' 50" 13° 56' 30"
Montafieta del Sombrero 28° 25' 10" 13° 56' 25"
Morro de Montafia Blanca 28° 23' 57" 13° 54' 34"
Morro de la Galera 28° 30' 37-39" 13° 57' 0-26"
Barranco del Cavadero 28° 36' 5-15" 13° 50' 45" - 51' 20"
Morretes de Tierra Mala 28° 22' 38" 14° 9' 22"
4.4 Bish erige Veröfentlichungen
Bis 1995 wurden in der spanischen Fachliteratur insgesamt 6 Zeilen (22
Zeichen) publiziert:
M4 „Los Grabados ... " S. 29, Calco 2
Tl „Los Grabados ... " S. 29, Calco 4
G2 „Los Grabados ... " S. 37, Calco 9 (=Tebeto I, S. 195): 3 von 7 Zeichen,
von den Autoren nicht als libysch-berberisch erkannt.
4.5. Orientierung
86 % der Felsflächen mit libysch-berberischen Inschriften sind nach Süden
(einschließlich SW und SO) orientiert. Dieser Befund entspricht exakt den
Ergebnissen der Analyse bei den lateinischen Inschriften Fuerteventuras.
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Ebenso wie bei diesen gilt natürlich auch hier die prägende Beeinflussung der
Gesteinsoberfläche durch den dominierenden NO-Passat zumindest als Hauptgrund
(siehe Pichler 1993f: 319 f).
4.6. Neigung
Die zwei Zeilen des Paneels M4 wurden auf einem relativ kleinen, losen
Felsblock angebracht. Über die Hälfte der übrigen Zeilen ist auf senkrechten,
fast senkrechten oder leicht überhängenden Felsflächen (80° - 100°) zu finden,
ein weiteres Drittel auf Flächen mittlerer Neigung ( 40° - 70°). Nur vier
Zeilen wurden auf flachen und ebenen Felspartien eingeritzt.
4.7. Schreibhöhe
Ganz ähnlich wie bei den lateinischen Inschriften wurden auch hier etwa
70% in geringen Höhen von O - 120 cm angebracht und nur ganz wenige in
bequemer Schreibhöhe (130 - 180 cm). Nur eine einzige Inschrift wurde so
geritzt, daß sie nur kletternd zu erreichen ist (G2).
4.8. Zeilenrichtung
So wie es den Usancen der libysch-berberischen Schrift entspricht, wurden
auch die Inschriften Fuerteventuras in senkrechten Zeilen angebracht.
Eine Ausnahme davon bildet möglicherweise C4, wo die Zeile entsprechend
der daneben angebrachten lateinischen um 90° gedreht wurde. Die Schreibrichtung
von unten nach oben steht bei fast allen außer Zweifel, bei den ebenen
Paneelen (M4, MS, M6) kann sie allerdings nur durch die Orientierung
bzw. Anordnung der Buchstaben bestimmt werden.
4.9. Anbringungstechnik
Im Gegensatz zu den libysch-berberischen Inschriften Hierros konnten auf
Fuerteventura bisher ausschließlich Ritzungen gefunden werden. Etwa die
Hälfte davon besteht aus Rillen, die nur Bruchteile eines Millimeters tief und
breit sind, ein Drittel weist Rillen von etwa 1 mm Tiefe und Breite auf. Größere
Werte sind auch hier - wie bei den lateinischen Inschriften - sehr selten.
4.10. Buchstabengröße
Die Buchstabengröße kann je nach Art des Zeichens auch innerhalb einer
Inschrift stark variieren. Für die Auswertung wurde die maximale Zeichengröße
innerhalb einer Zeile herangezogen. Es ist eine fast gleichmäßige Streuung
der Größen von 2 - 10 cm zu beobachten, der Durchschnitt liegt bei 6 cm.
Extrem große Zeichenfolgen wie bei den lateinischen Inschriften (bis zu 25
cm) konnten nicht gefunden werden.
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4.11. Zeilenlänge
Bei einer durchschnittlichen Länge von 4 Zeichen beschränkt sich die Länge
der Inschriften auf ein Spektrum von 3 - 8 Zeichen. Völlig aus dem Rahmen
fällt einzig und allein Inschrift 13 auf Paneel S6, die aus ca. 20 Zeichen
besteht. Ähnlich wie bei den lateinischen Inschriften ist auch hier nicht mit
großen Botschaften zu rechnen, sondern mit einem Dominieren von Namen
bzw. Minimaltexten.
4.12. Kontext
Die Kontextuntersuchung bezieht sich nur auf den der Inschrift unmittelbar
benachbarten Bereich der Felsoberfläche. Über 60 % der Paneele enthalten
nur eine Zeile der libysch-berberischen Schrift, etwa ein Drittel zwei Zeilen.
Nur in einem Fall (Tl) kommen 3 Zeilen auf einem Paneel vor. Fast 80 %
aller Inschriften finden sich auf Paneelen, auf denen auch lateinische Zeilen
vorkommen. Auf diese enge Verquickung der beiden Inschriftentypen wurde
bereits hingewiesen (Pichler 1994: 187 ff), sie wird auf der semantischen Ebene
noch weiter zu untersuchen sein.
4.13. Mehrfach vorkommende Zeichenfolgen
Trotz der sehr geringen Anzahl von Inschriften gibt es überraschenderweise
einige gleiche bzw. sehr ähnliche Zeichenfolgen:
• B3 und G2 enthalten zwei fast identische Zeichenfolgen.
• Ähnliches ist für Gl zu vermuten (nur fragmentarisch erhalten).
• Die Zeichenfolge von G2 findet sich auch auf S2.
• Die fragmentarisch erhaltene Zeichenfolge aufB2 ist wahrscheinlich identisch
mit der auf Bl.
4.14. Patina und Erhaltungszustand
Fast alle Rillen weisen eine Patina auf, die sich nicht oder kaum von der
umgebenden Felsoberfläche unterscheidet. Der Grund für den sehr unterschiedlichen
Erhaltungszustand ist in sehr unterschiedlichen Verwitterungsbedingungen
zu suchen.
Zusammenfassend kann für die Kapitel 4.5. bis 4.14. festgestellt werden,
daß die Untersuchungsergebnisse nahezu identisch sind mit jenen der lateinischen
Inschriften Fuerteventuras. Alle diese Indizien stützen die 1993 vorgetragene
These eines weit über die Tatsache des gemeinsamen Anbringungsortes
hinausreichenden Zusammenhanges der beiden Inschriftenkomplexe.
4.15. Dokumentation der Paneele (siehe die folgenden 14 Seiten)
19
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Zeile
Nr.
Paneel Inschrift Transkription
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7 1 S 1 II-X III WNT J
8 S2 -]III o ND J R
9 1 S2 H -O-UIII S1NRNM
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12 ss II X \II WT J
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13 S6 -uv- V\V\- J II- NMMNYYNDWN
14 S6 + II 1 /\ TWS2GIK2
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Zeile Paneel Inschrift Transkription
Nr. ·-
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22 M6 III l/1 VI C. V1 J YG/K,,DY
23 Gl IIXIII WT J
24 Gl II XIII WT J
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26 G2 -\tUOW WMRS4
27 G3 2/\\N/ *G/K1YN/S2
28 Cl 11-111 WN J
29 Cl 9=11/\U *LWG/K2M
30 C2 V\ 1 II YS2W
31 C3 +t- N III S 1Y J
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5. Die libysch-berberischen Inschriften der Kanarischen Inseln
5.1. Übersicht über die Fundstellen (Stand der Publikationen 1995)
Hierro:
Gran Canaria:
Lanzarote:
El Julan/Los Letreros I
Barranco del Cuervo
Barranco de Tejeleita
Barranco de Candia
Hoyo Blanco
Cueva del Agua (Letime)
Hoyo de los Muertos
La Caleta
[Los Saltos]
[Barranco de Santiago]
Barranco de Balos
Caldera de Bandama
Roque Bentayga (zum Teil publ.)
[Barranco de la Sierra]
Tejeda
Las Tirajanas
Agüimes
Pefia de Juan del Hierro
Pefia de Luis Cabrera
Montafia Tenezar
Llano de Zonzamas
La Palma: Cueva de Tajodeque
Tenerife: La Centinela/San Miguel
La Esperanza (Mauerstein)
San Bartolome de Geneto (Mauerstein)
Taganana
Anmerkung: Die in eckige Klammem gesetzten Fundorte sind zwar bekannt,
aber noch nicht publiziert.
5.2. Bewertung der Inschriften
Aufgabe dieses Kapitels kann es nicht sein, die gesamte Forschungsgeschichte
zum T hema der libysch-berberischen Inschriften auf den Kanarischen
Inseln wiederzugeben. Ich beschränke mich im folgenden auf drei
Aspekte der Thematik, die für das Verständnis der Inschriften Fuerteventuras
unumgänglich sind:
• die kanarischen Inschriften in Bezug auf die nordafrikanischen
34
© Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017
• ihre Urheber
• ihr Alter.
Diese drei Kernfragen der Bewertung fanden bei verschiedenen Autoren
extrem unterschiedliche Antworten. Die Stellungnahmen bezogen sich bis
vor kurzem ausschließlich auf Hierro und Gran Canaria, da Inschriften auf
den anderen Inseln nicht bekannt bzw. publiziert waren.
Die erste diesbezügliche Äußerung stammt von General Faidherbe (1876),
einem in Bezug auf den damaligen Wissensstand hervorragenden Kenner der
nordafrikanischen Inschriften. Für ihn sind die auf Hierro gefundenen Inschriften
unzweifelhaft libysch. Alle nicht zu diesem System passenden Zeichen
hält er für Irrtümer der Kopisten oder natürliche Zerstörungen am Fels.
Auch Verneau (1887: 254) kommt zu einem ähnlichen Urteil: ,,certainment
numidique". Seiner Meinung nach hätten die Numider die Umgebung von
Karthago verlassen und sich mit den herrschenden Semiten vermischt. Anschließend
seien sie auf den Kanarischen Inseln gelandet und hätten dort die
Inschriften angebracht.
Damit ist die wisenschaftliche Position für lange Zeit festgelegt. Auch der
französische Berberologe Marcy (1936: 130) schließt sich ihr im wesentlichen
an. Er glaubt an eine Bevölkerung berberischer Herkunft, der er trotz
ihrer primitiven Kultur die Kenntnis und Verwendung eines libyschen Alphabetes
zugesteht.
Wölfel (1940: 307f) glaubt zwei Schrifttypen unterscheiden zu können, die
mit dem nordafrikanischen Raum in Verbindung stehen:
1) Eine Transitionsschrift, die einen Übergang von der Westschrift (mit
altkretischen Anklängen) zum Altnumidischen darstellt.
2) Eine altnumidische Schrift, die zuweilen noch unbekannte Zeichen der
Transitionsschrift aufweist.
Zyhlarz (1950: 425ff) sieht sich zu einer noch wesentlich genaueren Unter-gliederung
berechtigt. Er unterscheidet:
1) eine westnumidische
2) eine nordmauretanische
3) eine neupunische und
4) eine junglibysche Schrift.
Das sind tatsächlich sehr kühne Schlußfolgerungen, wenn man bedenkt,
daß Zyhlarz als Basis ofensichtlich nur die wenigen Abbildungen bei Wölfel
(1940) zur Verfügung standen. Wölfel (1957) weist diese Interpretationen
neben anderen „Unwahrheiten und F älschungen" energisch zurück und bezichtigt
Zyhlarz nicht nur des Dilettantismus, sondern der Unkenntnis und
Scharlatanerie.
35
© Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017
Ein weiterer Vertreter der altnumidischen These ist V ycichl. In mehreren
Publikationen (1953, 1973, 1987) präzisiert er, daß es sich bei der Konsonantenschrift
der alten Kanarier um eine Variante des Numidischen handle,
die möglicherweise mit der in Marokko gebräuchlichen identisch sei. Als frühesten
Zeitpunkt, an dem die Schrift die Inseln erreicht haben könne, nennt er
die Römerzeit (wahrscheinlich erst nach Chr. Geb.).
Die erste wirklich umfassende Erörterung der Thematik stammt von
Alvarez Delgado (1964). Nachdem er ursprünglich - unter dem Einfluß von
Marcy - an den „guanchischen Charakter" der Inschriften geglaubt hatte,
revidiert er nach vergleichenden Studien diese Ansicht. Als Urheber der Inschriften
von Hierro und Gran Canaria identifiziert er jene Menschen, die
auch die „saharanischen Inschriften" von Mauretanien angebracht haben.
Trotz des Fehlens punktförmiger Zeichen in den kanarischen Inschriften (abgesehen
vom „tagerit" - dem Punkt mit vokalischer Bedeutung) glaubt er an
eine Identität beider Alphabete. Obwohl er zugesteht, daß das Fehlen von
Zeichen mit zwei oder mehr Punkten einen stärker archaiischen Charakter
der kanarischen Texte anzeige, glaubt er dennoch, ihnen eine gewisse Modernität
zuschreiben zu können. Die Lösung der Probleme sieht er im „geografischen
Umfeld" der Inschriften: in der Beobachtung, daß die Inschriften nicht
auf allen Inseln vorkommen (was zu erwarten wäre, wenn sie den Ureinwohnern
zuzuschreiben wären) und in der zweiten Beobachtung, daß sie - mit
einer Ausnahme - alle in Küstennähe anzutrefen sind. Beide vermeintlich
starken Argumente gegen eine Zuweisung der Inschriften zur Kultur der Inselbewohner
sind durch die Feldforschung der letzten Jahre hinfällig geworden.
Ein Hinweis mehr, wie problematisch es ist, aus dem Fehlen einer Erscheinung,
das immer auch auf mangelndem Wissensstand beruhen kann,
Schlüsse zu ziehen. In der „unbestreitbaren Aussage" von Vemeau, daß zwei
Inschriften von La Caleta/Hierro keinen numidischen Charakter hätten ( eine
Art Helm mit Feder und eine Art Flagge), sie aber nahe den libyschen Zeilen
von derselben Hand ausgeführt seien, sieht Alvarez Delgado ein weiteres
Argument dafür, daß Seefahrer und Soldaten für die Inschriften verantwortlich
seien.
Ich kann dieser Argumentation aus drei Gründen nicht folgen. Abgesehen
davon, daß es sich bei den genannten Darstellungen um keine Inschriften
handelt, bedarf es beträchtlicher Phantasie, in ihnen einen Helm bzw. eine
Flagge zu erkennen. Darüber hinaus liegen keinerlei Beweise vor, daß sie von
derselben Hand wie die Inschriften ausgeführt seien, die benachbarte Lage
ist jedenfalls keiner. Wenig zufriedenstellend sind auch die resümierenden
Schlußfolgerungen Alvarez Delgados: Die Inschriften könnten seiner Mei-
36
© Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017
nung nach von fremden Besuchern oder Invasoren stammen, oder von Seeleuten
Jubas oder auch von saharanischen „moriscos", die im 15. Jh. auf spanischen
oder portugiesischen Schifen auf die Inseln kamen. Zum Zeitpunkt
der Anbringung schreibt er, daß dies nicht vor Chr. Geb. und nicht nach dem
16.Jh. gewesen sein könne . Dieses überaus vage Resümee eines 400-SeitenBuches
hat schon Antonio Tovar in einer Rezension (1967) als „kurios" bezeichnet.
Abgesehen von Hemandez-Rubio Cisneros (1983: 561), der angesichts der
Inschriften an das Gekritzel von Hirtenknaben denkt, lassen sich die Publikationen
der letzten drei Jahrzehnte generell in zwei Lager unterteilen: Befürworter
der These „Eingeborene als Urheber" und Befürworter der These
,,Invasoren oder Besucher als Urheber".
Die Besucher-These wurde vor allem in IC-Publikationen mehrfach vertreten.
So glaubt Biedermann (1985: 62) in den kanarischen Zeichen nur entfernte
Ähnlichkeiten mit epigraphischem Material vom Festland erkennen zu
können und ordnet die küstennahen Inschriften schreibkundigen Seefahrern
zu, die im Landesinneren seien plumpe Nachahmungen durch Insulaner. Auch
Nowak (1985: 70) hält die Zuordnung der Inschriften in den Bereich der Ureinwohner
für „ebenso kühn wie unwahrscheinlich".
Demgegenüber hält es Springer (1987: 125) für nicht mehr möglich, an der
These sporadischer Besucher festzuhalten. Sie schreibt, das Inventar der Zeichen
bekunde die Identität des libyschen und des kanarischen Alphabets,
schränkt aber dan ein, daß man bis jetzt noch nicht feststellen konnte, welches
nordafrikanische Alphabet am verwandtesten mit dem kanarischen sei.
Sehr kritisch muß der Versuch von Militarev (1988) bewertet werden, das
„Guanche" der Ureinwohner mit Hilfe der Tuareg-Sprache zu erklären. Er
glaubt an eine Tuareg (Tamahaq)-Einwanderung auf die Kanarischen Inseln,
die er aufgrund sprachchronologischer Indizien ins 7.-8. Jh. v.Chr. datiert.
1987 äußert sich Hemandez Bautista sehr dezidiert über die strittige Thematik.
Seine „conclusiones" seien hier - leicht gekürzt - wiedergegeben:
1) Die Inschriften sind ein Produkt der autochthonen Bevölkerung und nicht
von sporadisch gelandeten Seefahrern.
2) Die Buchstaben haben, trotz einiger spezieller Züge, ihre Wurzeln in Alphabeten
libysch-berberischer Struktur.
3) Das kanarische Alphabet besitzt vom kontinentalen unterschiedliche Zeichen,
die uns erlauben, die Hypothese einer Evolution innerhalb des libysch-
berberischen Alphabets aufzustellen.
4) Der gegenwärtige Stand der Erforschung der kontinentalen Alphabete läßt
uns die Alphabete des Tifinagh und von Dougga als dem Kanarischen
37
© Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017
verwandteste ablehnen und das "westliche saharanisch" und das der Kabylei
und Südmarokkos als ähnlichste nennen.
5) Die Chronologie der kontinentalen Inschriften erlaubt eine relative Datierung
der kanarischen Inschriften nicht vor dem 1. Jh. n. Chr.
Wesentlich vorsichtiger in der Beurteilung der kanarischen Inschriften ist
Galand. Er stellt fest, daß ganze Serien von Zeichen mit nordafrikanischen
übereinstimmen und nennt sie „Inschriften des libysch-berberischen Typs".
Den Vergleich mit Monods Inschriften der Westsahara hält er wegen des Gebrauchs
von punktförmigen Zeichen nicht für den günstigstenAusgangspunkt
(1983: 53). Für noch heikler hält er die Frage nach der Sprache der Inschriften.
Er gesteht zwar dem Berberischen zu, Arbeitshypothesen für die Lesung
liefern zu können (1973: 68), ist aber sehr skeptisch, was die Parallelen mit
demAltkanarischen betrift: ,,Rien ne prouve que les inscriptions canariennes
de type libycoberbere soient ecrites dans la langue dont nous conservons de
echantillons, bien qu'elle ait cesse d'etre parlee apres la conquete espagnole.
Et rien ne prouve encore, selon moi, que cette langue ait appartenu purement
et simplement a l'ensemble herbere, bien qu'elle presente avec lui des
afinites" (1989a: 70, Anm. 5).
5.3. Bisherige Ansätze zu Transkription und Lesung
Betrachtet man die lange Liste der Autoren, die sich seit dem vorigen Jahrhundert
mit den libysch-berberischen Inschriften der Kanarischen Inseln beschäftigt
haben, so ist die Anzahl derer, die sich an eine Lesung der Inschriften
gewagt haben, erstaunlich gering. Erstaunlich deshalb, weil doch der größte
Teil des Zeichenbestandes identisch ist mit dem der libysch-berberischen
Inschriften Nordafrikas und es daher sehr verlockend ist, deren Lautwerte auf
die kanarischen Zeichenreihen zu übertragen. Daß die wenigen Transkriptionsversuche
nicht immer zufriedenstellende Ergebnisse erbrachten, hat drei
Gründe:
• Sichere Transkriptionen liegen nicht einmal für alle Zeichen der östlichen
Alphabete Nordafrikas vor, geschweige denn für die Inschriften des Westens.
• Solange es keine Bilinguen gab, konnte nur vermutet, aber nicht bewiesen
werden, daß den kanarischen Zeichen derselbe Lautwert zukommt wie den
afrikanischen.
• Der fundamentalste Grund für die berechtigte Skepsis gegenüber vielen
Transkriptionsversuchen lag aber in der Unsicherheit des Untersuchungsmaterials
selbst. Immer wieder hat sich erwiesen, daß Zeichenfolgen unrichtig
bzw. unvollständig publiziert worden waren.
38
© Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017
Schuld daran ist nicht mutwillige Oberflächlichkeit der Autoren, sondern
meist die physische Beschaffenheit der Inschriften. Sie sind ( entgegen der
Meinung einiger Autoren) sehr alt, stark verwittert, vielfach überkritzelt, von
Moosen und Flechten überwuchert, Teile sind abgebröckelt oder durch Vandalen
herausgemeißelt etc. Auf diese Problematik wurde in IC-Publikationen
schon mehrfach hingewiesen. Darüber hinaus hat Nowak (1982: 4) am Beispiel
Tejeleita/Hierro gezeigt, daß Aufnahmen bei unterschiedlichem Sonnenstand
auch zu unterschiedlichen Ergebnissen führen können. Auch Galand
hat in allen seinen Beiträgen zur Thematik sehr deutlich die Notwendigkeit
exakter Feldforschung hervorgehoben.
Dieser Forderung, daß jeder Interpretation eine gewissenhafte Dokumentation
vorauszugehen habe, schließe ich mich vollinhaltlich an. Dennoch bin
ich der Meinung, daß man- etwa nach den jahrzehntelangen dankenswerten
Bemühungen Nowaks um das Corpus der Inschriften Hierros - nun nach der
Phase des Suchens und Dokumentierens mit gutem Gewissen in die Phase des
aktiven Bearbeitens eintreten kann. Auch die Funde neueren Datums (auf
Tenerife, Gran Canaria, Lanzarote und Fuerteventura) sollten in diese
interpretativen Überlegungen einbezogen wegen, allerdings mit großer Vorsicht.
Unverzichtbare Basis dafür ist, daß bei der Publikation der Neufunde
auf jede Unsicherheit bzw. Mehrdeutigkeit hingewiesen wird. Bei jeder
Zeichenfolge (jedem Zeichen) sollte angemerkt werden, mit welchem Sicherheitsgrad
zu rechnen ist.
Daher möchte ich trotz der schlechten Erfahrungen, die man größtenteils
mit bisherigen Lesungsversuchen gemacht hat, der kritischen Betrachtung
dieser Versuche dennoch einige Interpretationsansätze anfügen. In meinem
Wissenschaftsverständnis ist neben dem rein positivistischen Sammeln auch
die Berechtigung des Formulierens von Thesen eingeschlossen.
•
+
a
t
Wölfel (1940) befaßt sich im Anhang III seiner
Torriani Ausgabe, die den kanarischen Siegeln und
Inschriften gewidmet ist, mit zwei Zeilen der Fundstelle
La Caleta/Hierro (Abb. 5). Er transkribiert die
f rechte Zeile als „lrita" und liest sie als „lereita".
N ü Wölfel übersetzt diese Lautfolge mit „ist hier ge-
- wesen" und ergänzt, daß er die linke Zeile für einen
0 r j EWigäehnrneanmde nB iheadleter,m ihann na b(e1r9 7n0ic:h 1t 1le5s)e dna ksö „nlneer.e ita"
noch als „einziges Beispiel einer einwandfreien
I / Entziferung" erwähnt, weist Galand (1983: 55) zu
.._ ______A b_b _. 5, Recht darauf hin, daß das erste Zeichen der Zeile
39
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mit Sicherheit als W und nicht als L zu transkribieren sei. Darüberhinaus ist
es für Galand völlig ungeklärt, wie das Berberische Wölfels Übersetzung
stützen könne. Galand weist auch auf eine nahezu übereinstimmende Zeichenfolge
unter den nordafrikanischen Inschriften hin. RIL 611 aus der Region
Sedrata-Tebessa enthält den Personennamen RYTA, so daß die kanarische
Zeichenfolge wohl ohne großes Risiko als „Sohn des Rita" gelesen werden
kann (darauf hat auch schon Rössler 1941: 290 hingewiesen).
Zyhlarz (1950: 425f) hält die Inschriften von Hierro für „gut lesbar". In
Wirklichkeit beschränkt er sich darauf, in drei Beispielen zweizeiliger Inschriften
die Formel „A., Sohn des B." zu erkennen, wobei er alle Namen nur
mit den Anfangsbuchstaben bezeichnet. Er begründet das damit, daß die richtige
Lautierung bei einem Namen Nebensache sei. Am Beginn einer Zeile
glaubt er vor dem Personennamen den Zusatz „m = Schreiber" erkennen zu
können. Diese Transkription ist insofern unwahrscheinlich, als die beiden
Zeichen für R und N in diesem Falle horizontal nebeneinander stehen würden
(im Gegensatz zu allen übrigen Zeichen). Im übrigen sei angemerkt, daß einige
Zeichenfolgen, die Zyhlarz transkribiert, nicht mehr dem heutigen
Forschungsstand entsprechen. Auf einem weiteren Paneel der Fundstelle La
Caleta glaubt Zyhlarz eine junglibysche (mittelalterliche) Inschrift erkennen
zu können. Neben der Formel „S., Sohn des I." liest er „m (uran) = Schreiber"
und „rbd (arbad) =Fluch".
Delgado (1964) transkribiert über 50 Zeilen von den verschiedensten Fundstellen
Hierros, wobei er bei zahlreichen auf die alten Wiedergaben bei
Vemeau (1887) zurückgreift. Generell muß dazu festgestellt werden, daß heute
mehrere dieser Zeilen nicht mehr aufgefunden werden können, andere aufgrund
langjähriger Feldforschung nicht mehr in dieser Form aufrecht erhalten
werden können. Es erübrigt sich daher, auf Detailfragen der Transkription,
die Delgado nach seinem „saharanischen Alphabet" vorgenommen hat, näher
einzugehen. Nur bei wenigen Zeilen ergänzt Delgado eine Lesung. Auch er
erkennt mehrfach die Formel „A., Sohn des B.", eine Zeile der Fundstelle La
Caleta ( II ON+·) liest er hingegen als „aurraita = este piedra". Eine Zeile des
Barranco de Candia ( e u =) liest er als „bml (aha amali) = necesito un
animal macho". Schließlich meint er in zwei Zeilen Vemeaus eine ähnliche
magische Formel erkennen zu können wie Marcy.
Der neueste Ansatz zur Lesung stammt von Militarev. Er schreibt selbst
über die Problematik seines Transkriptionsversuches: ,,As a first step I chose
the inscriptions containing characters having the same graphic form and
phonetic value in most varieties of the Libyan script (the main dificulty for a
decipherer being certain similar graphemes with quite diferent reading"
40
© Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017
(1988: 203). Er versucht sich an 12 Zeilen von Hierro, wobei er die verläßlichen
Abzeichnungen von Nowak als Basis benützt.
Zu seiner Transkription sei kritisch angemerkt:
• Sein Alphabet kennt keine Zeichen für P/F, K, Z,, ä.
• Er transkribiert : und - als N
• Er transkribiert n und /\ ohne Begründung als D
Zwei Beispiele der von ihm übersetzten Zeilen:
La Caleta: 11 n Z - + :J n u +
W DSN TSDMT
El Julan:
In „Ahaggar language": e wad assan tassada mat
= hey, you! know (or beware): sinking (is) death
(\JuO- rv-uv-vn=
YMRN YNMSDL
= yammaran i n mass adal
= (a) passing (one), anyone of(the) master (or the Lord): come
(and stay) ovemight!
Zum sprachlichen Aspekt dieser Lesungen sei hier nur kurz angemerkt, daß
sie auch in Bezug auf Syntax und Morphologie der Tuareg-Sprache nicht
akzeptabel sind.
5.4. Vergleich der Zeicheninventare
Im folgenden sollen die Zeicheninventare der Kanarischen Inseln untereinander
sowie mit den aus Nordafrika bekannten Inventaren verglichen werden.
Bei allen anderen Inseln außer Hierro und Fuerteventura soll aufgrund
der geringen Anzahl von Funden nur das Vorhandensein, nicht aber das Fehlen
eines Zeichens gewertet werden. Da es wenig sinnvoll erscheint, extrem
häufige und extrem seltene Zeichen auf einer Ebene zu vergleichen, wird
folgende Dreiteilung vorgenommen:
1) Das „Grundgerüst" von 16 Zeichen, die häufiger als 1 % vorkommen und
deren phonetische Bedeutung aufgrund von Bilinguen als weitgehend gesichert
gelten kann.
2) ,,Seltene Zeichen", die weniger als 1 % Häufigkeit aufweisen und die (zumindest
als Arbeitshypothese) einem Phonem zugewiesen werden können.
3) Die „Sonderzeichen", die sehr selten und meist regional sehr gestreut vorkommen
und über deren phonetische Wertigkeit es kaum Anhaltspunkte gibt.
Vorerst ein Vergleich des kanarischen Gesamtinventars mit dem östlichen
(massylischen) Alphabet Nordafrikas:
1) Von den 16 Buchstaben, die das Grundgerüst jedes libysch-berberischen
Alphabets bilden, sind auf den Kanarischen Inseln 12 in graphisch völlig iden-
41
© Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017
tischer Form vertreten (wobei „rund" statt „eckig" als identisch gewertet wird
(siehe Kapitel Systematik):
- LJ + 0 III X = :J II I X W
Zwei weitere Zeichen kommen auf den Kanaren sowohl in identischer Form:
0 auf Hierro und Lanzarote
N auf Fuerteventura und Lanzarote
als auch in leicht variierter Form vor:
N - ru auf Hierro
Für alle 14 bisher genannten Zeichen gilt, daß ihre Häufigkeiten mit denen
des nordafrikanischen Raumes im großen und ganzen gut übereinstimmen,
auf signifikante Abweichungen wird später eingegangen. Die restlichen zwei
Zeichen ( 1 = G, 1 = K) fehlen auf allen Kanarischen Inseln.
2) Die im "massylischen Alphabet" seltenen Zeichen kommen auf den Kanarischen
Inseln zum Teil gar nicht (.,. = ' + = Q), zum Teil wesentlich häufiger
vor (H = ?,, m = Z3 ). Ersteres kann als bedeutungslos übergangen werden,
letzteres wird im Abschnitt über die S-Laute noch zu untersuchen sein.
3) Bei den Sonderzeichen gibt es erwartungsgemäß kaum Übereinstimmungen.
Ihre Existenz dürfte ja lokale und/oder zeitliche Gründe haben.
Der Vergleich mit dem östlichen Alphabet Nordafrikas ergibt also keine
völlige Identität, aber eine überaus starke Ähnlichkeit, die eine enge Verwandtschaft
plausibel macht.
Die Frage, mit welchen weiteren Zeicheninventaren verglichen werden soll,
erweist sich als sehr problematisch. Die meisten Autoren sind sich zwar darüber
einig, daß es neben dem östlichen so etwas wie ein westliches (möglicherweise
masaesylisches) Alphabet gibt. Über die Abgrenzung herrscht allerdings
totale Unklarheit. Galand (1989b) postuliert ein eigenes „alphabet au
chevron". Tatsächlich hebt sich von der Mehrzahl der libysch-berberischen
Inschriften eine kleine Gruppe ab, die das Zeichen V beinhaltet. Ihr Vorkommen
reicht von Tunesien bis an die Nordspitze Marokkos. Diese Gruppe kann
jedoch nicht vergleichend (und schon gar nicht statistisch auswertbar) herangezogen
werden, da das Zeichen V ja nicht in jeder zur Gruppe gehörenden
Inschrift zwangsläufig vorkommen muß. Genauso verzerrend wäre es, bei
den östlichen Inschriften nur jene herauszugreifen, die ein LJ (ein +, ein 0
etc.) enthalten. Auch Galand ist ja weder der Meinung, daß alle Inschriften,
die einen Winkel enthalten, im selben Alphabet geschrieben sind, noch daß
die Abwesenheit des Winkels notwendigerweise ein anderesAlphabet anzeigt.
Eine Spur weniger problematisch ist der Vergleich mit jener Gruppe libysch-
berberischer Inschriften, die Galand in seinen IAM zusammengefaßt
hat. Sie hat den Nachteil der Limitierung durch moderne Staatsgrenzen, die
42
© Del documento, los autores. Digitalización realizada por ULPGC. Biblioteca, 2017
mit den historischen und kulturellen Gegebenheiten des fraglichen Zeitraums
nichts zu tun haben. Das Verlockende daran ist die größere geografische Nähe
zu den Kanarischen Inseln.
1) Vom Grundgerüst der 16 Zeichen sind 10 völlig identisch:
- LJ + 0 III = :J II I W
Eine weiteres kommt in Marokko sowohl in der Normalform als auch in der
von Hierro bekannten Variante vor: N und ru. Während das massylische Zeichen
für G in Marokko vorkommt, fehlt - so wie auf den Kanarischen Inseln
- das Zeichen für K. Die Zeichen Z und X, die dem massylischen und dem
kanarischen Zeicheninventar gemeinsam sind, fehlen in Marokko.
Das "massylische" Zeichen für K (1n fehlt - ebenso wie auf den Kanaren -
auch in Marokko, während das Zeichen für G ( r), das auf den Kanaren fehlt,
in Marokko vorkommt.
Mit 13 von 16 möglichen Übereinstimmungen schneidet dieser Vergleich nur
in einem Punkt schlechter ab als der mit dem östlichen Alphabet.
2) Bei den seltenen Zeichen unterscheidet sich das marokkanische Alphabet
kaum vom kanarischen: H und m kommen in beiden vor, . und + fehlen in
beiden.
3) Bei der V ielfalt der marokkanischen Sonderzeichen (bei Galand etwa 15)
gibt es kaum Übereinstimmungen ( IT1 auf Hierro, vielleicht'< = Y ).
Es gibt also einige auffällige Übereinstimmungen zwischen dem kanarischen
und dem marokkanischen Zeicheninventar, aber auch ebenso viel Trennendes.
Insgesamt kann nicht festgestellt werden, daß das kanarische System
dem marokkanischen wesentlich ähnlicher ist als dem massylischen.
Ein Vergleich mit den saharanischen Inschriften, die Delgado zur Transkription
der kanarischen herangezogen hat, erbringt zwar ebenfalls 11 Übereinstimmungen
innerhalb des „Grundgerüstes", aber beträchtliche Unterschiede
in der Häufigkeit einzelner Zeichen. Die wesentlichste Diskrepanz besteht
jedoch in der häufigen Präsenz punktförmiger Zeichen beim Saharanischen
(etwa 20 % aller Zeichen).
Ähnliches gilt für das wesentlich jüngere Tifinagh. Auch hier gibt es -
bedenkt man die große zeitliche Distanz - noch erstaunlich viele Übereinstimmungen:
6 Zeichen sogar mit gleichem Lautwert, zahlreiche weitere nur
noch mit gleichemAussehen. Aber auch im Tifinagh sind es die punktförmigen
Zeichen, die das Schriftbild ganz wesentlich prägen.
Ein Vergleich der einzelnen Inselalphabete untereinander ergibt eine überaus
große Ähnlichkeit: Fast alle Zeichen sind auf allen Inseln identisch bzw.
mit geringen Variationen vertreten. Auch das Fehlen einzelner Zeichen erstreckt
sich in zwei Fällen über alle Inseln: 1 und 1. Das Fehlen einzelner
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Zeichen auf Lanzarote, Gran Canaria und natürlich vor allem auf Tenerife
und La Palma kann beim gegenwärtigen Forschungsstand mit der geringen
Anzahl der Funde begründet werden. Vorläufig noch nicht erklärbar ist das
Fehlen einiger relativ häufiger Zeichen auf einzelnen Inseln: X auf Lanzarote,
v1 auf Gran Canaria. Auch bei den Sonderzeichen gibt es sowohl aufällige
Übereinstimmungen (z.B. 1--H auf allen Inseln) als auch inselspezifische Erscheinungen:
ITI nur auf Hierro, Y nur auf Fuerteventura.
Insgesamt ergibt der interinsuläre Vergleich folgendes Bild: An der Zugehörigkeit
der Inselalphabete zu einem Schrifttypus kann überhaupt kein Zweifel
bestehen, dennoch gibt es von Insel zu Insel Unterschiede. Diese Situation
erinnert durchaus an das Bild, das wir von der durch die Chronisten überlieferten
altkanarischen Sprache haben. Auch dort erkennen wir eine gemeinsame
Basis, daneben aber zahlreiche inselspezifische Abweichungen.
5.5 Das kanarische Alphabet
Die folgendenAusführungen gehen von der Hypothese aus, daß das Grundgerüst
der kanarischen Zeichen in seiner phonetischen Wertigkeit identisch
ist mit dem des „klassischen" nordafrikanischen Alphabets der libysch-berberischen
Schrift. Sowohl diese Gleichstellungen als auch alle Abweichungen
müssen sich einer Überprüfung durch die Sprachstatistik aber auch einer
Kontextanalyse stellen. D.h. für jedes Zeichen wird zu überprüfen sein, ob
seine Häufigkeit der des vermuteten phonetischen Wertes entspricht, bzw. ob
es sich im Umfeld seiner benachbarten Zeichen zu sinnvollen Lautfolgen ergänzt.
Die Existenz möglicher Varianten einzelner Zeichen ist sowohl nach
dem Aspekt der grafischen Ähnlichkeit (im Sinne des Kapitels Systematik)
als auch dem des sinnvollen Kontextes zu überprüfen.
5.5.1 Das „Grundgerüst" des Alphabets
Ein Vergleich der grafischen Ähnlichkeit von Zeichen sagt im Grunde noch
nichts darüber aus, ob ihnen auch der gleiche phonetische Wert zuzuschreiben
ist.
Bei sechs der sogenannten „Konstanten" (Zakara;Drouin 1988: 87):
lJ = M, + = T, - = N, = = L, 0 = R, v1 = Y
erscheint mir trotzdem eine Diskussion über die phonetische Wertigkeit überflüssig.
Es dürfte als erwiesen gelten, daß diese Zeichen über einen Zeitraum
von über 2000 Jahren (zumindest aus der Zeit des 3. Jhs.v. Chr. bis zum heutigen
Tifinagh) ihre Bedeutung beibehalten haben. Für die Richtigkeit von 4
dieser 6 angenommenen Übereinstimmungen liefern die auf Fuerteventura
gefundenen Digraphien Beweise: M, T, N, R. Auch die aufFuerteventura und
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Hierro ermittelten Häufigkeiten stimmen recht gut mit denen des RIL überem.
Zu zwei Zeichen sind allerdings Anmerkungen notwendig:
• Die Zeichen für Z (-) und N (: ) in den horizontalen Monumentalinschriften
wurden später in den senkrechten Grabinschriften ausgetauscht: - = N, : =
Z. Das haben u.a. schon Delgado (1964: Fig.20) und Galand (1966: 25)
festgestellt. Alle Beobachtungen zeigen, daß das auch für die kanarischen
Inschriften zutrift. Nur Militarev ist hier anderer Meinung: Er wertet sowohl
- als auch : aus unerklärlichen Gründen als N. Da Z im Libyschen
wesentlich seltener vorkommt als N, kann auch die Statistik ein wertvolles
Indiz in dieser Richtung liefern:
- auf den Kanaren: 8 - 17 %
1 auf den Kanaren: 2 - 4 %.
• Das in Nordafrika für Y gebräuchliche Zeichen VI gibt es auch auf Fuerteventura
und Lanzarote. Auf Hierro wird es fast ausschließlich durch die
VariantenN, Vl, ru, Ln, LJ"\, n.J, ru, vi ersetzt. Einen eindrucksvollen Beweis,
daß es sich tatsächlich um Allographe desselben Graphems handelt, liefert
eine Inschrift von La Caleta/Hierro, die aus drei identischen Zeichenfolgen
besteht, von denen aber jede eine andere Variante des Y aufweist (Abb. 6).
In marokkanischen Inschriften der Region Casablanca tauchen diese Formen
ebenfalls (als seltene Varianten) auf: IAM 20. Auch Galand (1966: 27)
hat in Erwägung gezogen, daß es sich dabei um Varianten des v1 handeln
könnte.
Abb. 6
l.n
0
l.J
Es gibt also bisher keinen Hinweis darauf, daß
diese sechs „konstanten" Zeichen auf den Kanarischen
Inseln ihre Bedeutung geändert haben
sollten.
Auch bei fünf weiteren Zeichen soll bis zum
Beweis des Gegenteils an der aus nordafrikanischen
Bilinguen gewonnenen phonetischen Bedeutung
festgehalten werden:
'-
11 = W, 111 = ', X = F /P, :J = D, 0 = B
Durch die Digraphien Fuerteventuras sind da-
-. von allerdings nur W und ' abgesichert
flJ Anmerkung zum B:
0 Die Normalform des B (0) konnte bisher auf
U Fuerteventura nicht nachgewiesen werden. Da-
/ für sind zwei Erklärungen denkbar:
._ _____, _. • In den bisher dokumentierten Zeilen ( ca. 165
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Zeichen) kommt tatsächlich kein B vor. Das ist insofern durchaus möglich,
als bei der latino-kanarischen Schrift selbst zu einem Zeitpunkt der Feldforschung,
als schon mehrere hundert Zeichen dokumentiert waren, noch
kein einziges B auf getaucht war. Die zur Zeit dokumentierten ca. 1300
Zeichen enthalten nur zwei B (0,1 %).
• Es gibt auf Fuerteventura Varianten des Zeichens B. Dafür kommen nur
Kreis bzw. Quadrat mit Innenkreuz in Frage: EB, Hl. Das Kreuz würde in
diesem Fall die Funktion des Punktes übernehmen: die Markierung der
Mitte. Ein Ausweichen in diese Varianten wäre gerade bei Felsinschriften
durchaus plausibel, da bei rauher Felsoberfläche ein Punkt oft nur schwer
zu identifizieren ist.
Auf Lanzarote ist sowohl das O als auch das Hl, auf Hierro das O und das El
belegt. Über eine andere Auslegungsmöglichkeit der beiden Zeichen mit
Innenkreuz siehe Kapitel 5.5.7.
Wenn man von den „seltenen Zeichen" und den „Sonderzeichen" vorläufig
absieht, geht es auf dem Weg zu einem Verständnis der kanarischen Inschriften
primär darum, zwei Zeichengruppen näher zu untersuchen: Zeichen
für Gutturale (G,K) und Zeichen für Sibilanten (S, a, $, Z, ?,, Z).
5.5.2 Zeichen für Guturale
In Nordafrika:
westl. Alohabet östl. Alohabet
K lr.JL 1t 1r. 1r 5%
G 1, r, J 1, l, 1 3%
Auf den Kanaren: Auf Hierro gibt es ein vereinzeltes l, unter den neuesten
Funden auf Gran Canaria möglicherweise vereinzelt L, r und l; insgesamt
jedoch deutlich zu wenig Belege. Die Frage kann also nur lauten: Durch welche
Zeichen wurden 1 und 1 t ersetzt? Plausibel wäre, wenn die Ersatzzeichen
grafisch ähnlich wären ( sich aus den Standardzeichen ableiten ließen) und in
ähnlicher Häufigkeit auftreten würden. Die Wahrscheinlichkeit würde sich noch
erhöhen, wenn sich diese Zeichen auf möglichst vielen Inseln ( und zumindest für
K auch in Marokko, denn dort gibt es ein 1 aber kein 1t) nachweisen ließen.
Nach dem Prinzip der grafischen Ähnlichkeit (Winkel) kämen folgende
Zeichen in Frage:
1) V ( u und Li wohl eher nicht)
2) /\ (und damit auch n und n ?)
3) IV
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4) VI
5) IJ\
6) J\I
Da vorläufig noch völlig unklar ist, ob alle 6 Zeichen Grapheme oder mehrere
davon Allographe sind, hat es zu diesem Zeitpunkt noch wenig Sinn, ihre
Häufigkeit und geografische Verbreitung zu untersuchen. Sie sollen zunächst
in 3 Gruppen getrennt näher betrachtet werden.
1) V
Vorkommen:
Der Winkel mit der Spitze nach unten wird im Französischen „chevron"
(Gefreitenwinkel) genannt. Dieses Zeichen taucht innerhalb der östlichen
Inschriftengruppe Nordafrikas nicht auf. In der von Galand (1989: 75) publizierten
Verbreitungskarte der „chevron"-Inschriften sind als östlichste Vorkommen
einige wenige Inschriften in der Gegend von Guelma und Setif verzeichnet,
ein Schwerpunkt liegt um Algier, ein zweiter in Marokko. Darüber
hinaus taucht dieses Zeichen auch bei den sogenannten saharanischen Inschriften
(Monod 1938, Delgado 1964), bei den libysch-berberischen Inschriften
von Tripolitanien (Brogan 1975) und den rätselhaften Inschriften des
„Libyque de Bu Njem" (Rebufat 1974/75) auf. Auf den Kanarischen Inseln
gibt es nur einige wenige Beispiele.
Bisherige Transkription:
Foucauld (1920: 8) transkribiert das V in seinemAlphabet des „touareg ancien"
als G, ebenso Basset (1948: 172). Neuerdings zieht auch Salama (1993: 133)
in einer Arbeit über die Stele von Kerfala diese Transkription in Erwägung
(,,la lettre-chevron, peut-etre assimilable a un G"). Chabot (1940: IV) lehnt
das als Irrtum ab. Er begründet seine Meinung mit der Feststellung, daß das
Zeichen V auf den Epitaphen häufiger als alle anderen Buchstaben auftauche
und das trefe für G in keiner Sprache zu. Dazu muß aus der Sicht der Sprachstatistik
allerdings angemerkt werden, daß diese Feststellung nur zutrift, wenn
man ausschließlich jene Inschriften heranzieht, in denen V vorkommt. Häufigkeiten
können aber sinnvoll nur innerhalb eines größeren Gesamtkomplexes
verglichen werden. Das Zeichen V muß ja nicht zwingend in jeder Inschrift
des Schriftkomplexes vorkommen, zu dem es gehört. Untersucht man
die Häufigkeit des V innerhalb eines solchen Komplexes (z.B. des IAM), so
ergibt sich ein Wert von etwa 4 %. Tovar (1954: 442) setzt fürv ein K an, nach
Garbini (1966) handelt es sich um einen konsonantischen Bilabial mit unterschiedlicher
Realisation: M, B oderW Galand (1989: 75) hält letztere Version
für wahrscheinlicher als die vorangegangenen und plädiert selbst - aus einem
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„technischen" Grund - für M: So wie das Tuareg-Zeichen< = D eine Variante
des alten C: darstellt, so könnte auch der Winkel V eine Reduktion des Zeichens
LJ sein. Auch Prasse (1972: 153) verzeichnet in seiner Tabelle des Westlibyschen
V als Variante des LJ.
Analyse:
Tatsächlich sprechen einige Argumente für die Transkription Galands: Sprachstatistisch
gesehen kommt das Zeichen LJ zur Bezeichnung des Labiallautes
M in Marokko viel zu selten vor, zusammen mit dem V ergeben sich immerhin
denkbare 7 %. In den saharanischen Inschriften ( dem "tifinagh ancien"
Monods) gibt es, wenn man sich auf die Abzeichnungen verlassen kann, alle
Übergänge von eckigen (LJ) über runde (u) bis zu spitzen Formen (v). W ürde
es sich um Zeichen für zwei oder drei verschiedene Laute handeln, so wäre
eine Abgrenzung bzw. Lesung sehr schwierig.
Setzt man in den Inschriften M für V ein, so ergeben sich in der weitaus
überwiegenden Anzahl der Fälle sinnvolle Lesungen. An erster Stelle ist hier
die für die Inschriften im „alphabet au chevron" besonders typische Sequenz
V C: + zu nennen: Sie kommt in Nordafrika 26 mal vor. Schon Garbini hat
festgestellt, daß die Lesung MDT sehr nahe an das im östlichen Alphabet gut
belegte Wort MDYTH herankommt (im RIL über 20 mal). Demgegenüber
gibt es keine einzige Parallele für die alternativen Lesungen GDT, KDT, BDT
und W DT. Die auch von Galand akzeptierte Gleichung MDT = MDYTH kann
bei genauerer Analyse des Inschriftenmaterials durch weitere Beispiele ergänzt
werden:
IAM 8: VLJO RIL 560: LJ LJ 0
IAM 5: vr RIL 827: ur
IAM 2: VIIH RIL 449: LJ II X
RIL 867: IV+ RIL 430: 1 LJ +
Lanzarote: vox RIL 364: LJOX
Auch die im östlichen Alphabet sehr häufigen kurzen Sequenzen LJ X (MS)
undLJ + (MT) finden ihre Entsprechungen: Vt><l (RIL 865) und v + (RIL 875).
In den „chevron"-Inschriften fehlen ganz ofensichtlich andere für das östliche
Alphabet typische Zeichenfolgen wie BNS oder RCH. Andererseits glaubt
Galand, für das „alphabet au chevron" typische Sequenzen erkennen zu können,
die er für „termes usuels ou rituels" (1989: 74) hält und von denen er
schreibt, sie seien bei den östlichen Inschriften unbekannt:
V 1111 (RIL 646, 839)
II JL IIV (RIL 645, 839)
V 1111 0 (RIL 645, 646, 839)
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H = H (RIL 645,646)
Abgesehen davon, daß RIL 645 laut Chabot V III O enthält und nicht V 1111 D
( dafür aber wahrscheinlich die Stele von Algier V 1111 D), erscheint es problematisch,
vom zweimaligen Vorkommen einer Zeichenfolge auf „gebräuchliche
oder rituelle Ausdrücke" zu schließen. Es könnte sich genausogut um
Namen handeln. Die Zeichenfolge V 11 11 gibt es übrigens auch zweimal mit
dem M-Zeichen des östlichen Alphabets: LJ 11 11 (RIL 672, 844). Es scheint
doch so zu sein, daß es innerhalb der „chevron"-Inschriften typische Sequenzen
gibt, die im östlichen „Standardalphabet" nicht vorkommen und umgekehrt,
aber auch solche, die in beiden lnschriftenkomplexen auftauchen.
Alle genannten Beispiele stellen zwar keinen Beweis für die Gleichung V
= M dar, aber sehr starke Indizien. Wenn V wirklich nur eine Variante des LJ
ist, dann ist es allerdings fraglich, ob es berechtigt ist, ein eigenes „alphabet
au chevron" zu postulieren, noch dazu wo es Inschriften gibt, in denen beide
Zeichen zugleich vorkommen. Galand meint, daß diese Koexistenz, über die
sich Garbini nicht äußert, eine Erklärung verlange. Für ähnliche Koexistenzen
lassen sich jedoch ausreichend Beispiele nennen: :J und C,+ und X,JL und
u innerhalb einer Inschrift sind keine Seltenheit. Daß V aber mehr ist als eine
bloß regionale Variante, das beweist die Verbreitung des Zeichens von Tunesien
bis zu den Kanarischen Inseln.
Resümee:
Meine Präferenz geht also eindeutig in die Richtung, im „chevron" ein Zeichen
für den Labiallaut M zu sehen.
2) /\
Vorkommen:
Der W inkel mit der Spitze nach oben ist im östlichen Alphabet unbekannt.
Auch in den „chevron"-Inschriften kommt er nur einmal vor,i n den marokkanischen
dreimal (1AM 2, 6, 26), vereinzelt auch in den Inschriften von
Tripolitanien und von Bu Njem.
Auf den Kanarischen Inseln (Hierro, Fuerteventura, Lanzarote) ist das Zeichen
- absolut und relativ gesehen - wesentlich häufiger, vor allem wenn
man auch die wahrscheinlichen Varianten n und n einbezieht.
Bisherige Transkription:
Im „tifinagh ancien" gelten V und /\ als Varianten des r (G), z.B. für Basset
(1948: 172). Für Galand ist die Gleichwertigkeit der beiden Zeichen auch für
die marokkanischen Inschriften akzeptabel, ihre phonetische Wertigkeit bleibt
aber für ihn problematisch. Das Zeichenn hält er für eine Variante oder einen
Irrtum von U.
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Analyse:
Interessant sind in diesem Zusammenhang 3 Inschriften des RIL:
• In einer Bilingue aus Constantine (RIL 252) steht das Zeichen 1 für das
lateinische C.
• In einer anderen Bilingue aus Constantine (RIL 145) wurde für das lateinische
C ein /\ eingesetzt.
• In einer Inschrift von Souk Ahras (RIL 570) findet sich das Zeichen Tovar
deutet das 1 als Verdopplung von 1 und sieht darin ein charakteristisches
Merkmal der libyschen Schrift, einen okklusiven Laut durch eine
Verdopplung des Zeichens für den sonoren Laut darzustellen. In diesem
Sinne liest er auch als K.
Resümee:
Es gibt also mehrere brauchbare Indizien dafür, daß das /\ einen Gutturallaut
darstellen könnte.
3) Al, lt\, IV, VI
Auch diese Zeichen kommen im „klassischen" massylischenAlphabet nicht
vor. Dennoch tauchen sie in nordafrikanischen Inschriften - regional und
wahrscheinlich auch zeitlich weit gestreut - immer wieder auf. In der Inschrift
von SoukAhras (RIL 570) gibt es ein IV, das Chabot als fehlerhaftes N
(=Y) interpretiert, in einer Inschrift aus Ouezzan (RIL 70) ein/\\,. Auf einer
Stele von Torba, die Camps (1974/75: 166) ins 5. - 6. Jh. n. Chr. datiert, erscheint
einmal das Zeichen Al, dreimal das Zeichen lt\. Marcy hat vorgeschlagen,
darin eine Variante von 1 (= K) zu sehen. Galand lehnt diese Gleichstellung
ab, ebenso wie für das Zeichen lh in einer Inschrift aus der Gegend von
Casablanca (1AM 21). Er argumentiert, daß nur die Hälfte des Zeichens gleich
aussehe und das Vorkommen eines einzigen Ir in Marokko seltsam wäre (1966:
33).Auch bei der Besprechung der Stele vonAlgier (Galand 1989: 79) schließt
er sich der Auslegung Chabots an, in dem zweimal vorkommenden Al ein N zu
sehen, ebenso Salama (1993: 135). Die Variante IV erscheint auch zweimal auf
einer Amphore von Germa/Fezzan, die von Camps (1974/75: 166) ins 1. Jh.
n.Chr. datiert wird. In den Inschriften von Ghirza/T ripolitanien (Brogan 1975)
kommen folgende Varianten vor: \/,Ir, VI. Besonders häufig ist dieser Zeichenkomplex
in den saharanischen Inschriften (Monod 1938) vertreten:
IV: 1864, 1888, 1918, 1938,2015
VI: 1866, 1916, 1928, 1931, 1993,2009 .
Möglicherweise gehört auch das Zeichen Ir (Monod Nr. 2018) dazu.
Auf den östlichen Kanarischen Inseln ist die Zeichengruppe recht deutlich
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vertreten (Lanzarote fünfmal, Fuerteventura elfmal). Alvarez Delgado (1964:
402) verzeichnet unter den Inschriften des Barranco de Balos/Gran Canaria
ein /\1, bei Beltran Martinez (1971) und Hemandez Bautista (1987) ist die
betrefende Zeile jedoch nicht vorhanden. Aufällig an der Verteilung der
Varianten ist, daß auf den Kanarischen Inseln alle vier Möglichkeiten vertreten
sind, während in den saharanischen Inschriften nur die beiden mit nach
oben ofenem Winkel, in den sonstigen nordafrikanischen Inschriften nur die
beiden mit nach unten ofenem Winkel dokumentiert sind.
Zu den schon oben genannten Auslegungen seien noch folgende ergänzt:
Basset (1948:172) Libysch 1 1 K
Galand (1973:76) Libysch (Dougga) 1r K,
Mukarovskv (1981:38) Numidisch 1 r K
Prasse (1975:153) Saharanisch 1 1 K
Bates (1914:87) Libysch 1 1 K
Delgado (1964:Fig.52) Saharanisch 1 r, IV, \I K
Delgado (1964:Fig.21) Numidisch Y, \I K
Mauny (1954:33) Libysch 1r K
Gegen die Gleichung 1/\ = v1 (Y) gibt es einige gute Argumente:
• Der einzelne Strich verläuft in mehreren Fällen parallel zu dem des Winkels:
t/\
• Im Saharanischen sind zahlreiche Übergänge vertreten: \V, UI
• v1 plusl/\-Varianten würden auf Fuerteventura eine unwahrscheinliche Häufigkeit
von 20 % für den Laut Y ergeben.
• Die an der Fundstelle Buenavista (B 3/4) zweimal vertretene Zeichenfolge
N 1/\ 1/\ N würde viermal hintereinander Y ergeben.
Als Resümee aller dieser Überlegungen kann V als mögliches Zeichen für
Gutturallaute ausgeschieden werden, während alle übrigen fünf Zeichen mit
beträchtlicher Wahrscheinlichkeit als solche angenommen werden können.
Auf große Probleme stößt die Beantwortung der Frage, welches ( oder welche)
Zeichen nun konkret für G und welches (welche) für K anzunehmen ist
(sind). Eine plausible Trennung (im Sinne der oben genannten These Tovars)
wäre die, daß das einfache Zeichen /\ ( eventuell mit den Varianten n und n)
G bezeichnet, während die „verdoppelten" Zeichen K bezeichnen.
Tatsächlich bestätigen die Digraphien Fuerteventuras diese Annahme: Cl:/\
= G, /\I = C. Auch die Häufigkeiten stimmen bei dieser Aufteilung mit denen
Nordafrikas überein:
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Nordafrika Fuerteventura
G 3% 5%
K 4% 7%
AufHierro würde die Häufigkeit gegen die angenommene Aufteilung sprechen:
Nach bisherigen Dokumentationen gibt es zwar über 30 /\-Zeichen,
aber nur 2 lt\ (bzw. In). In zwei Fällen von Inschriften des EI Julan mußten
allerdings nach neuesten Fotografien Korrrekturen von n auf n I bzw. von n
aufnl vorgenommen werden. Vielleicht sind auch noch weitere Korrekturen
notwendig, da der senkrechte Strich manchmal kürzer oder schlechter sichtbar
ist. Fraglich ist, ob überhaupt in allen Fällen säuberlich zwischen G und K
unterschieden wurde. Zwei (fast) identische Inschriften aus dem Süden
Hierros sprechen dagegen:
Los Letreros: ru - U u nl =
Los Saltos: ru - u u n =
Eine Übereinstimmung ist auch zwischen zwei Inschriften von Hoyo Blanco/
Hierro und Montafia Blanca/Fuerteventura (Zeile! 21) anzunehmen:
Hoyo Blanco: X n - X
Montafia Blanca: x Al - X
Eine ähnlich lockere Umgangsweise ist auch in nordafrikanischen Bilinguen
belegt: RIL 252 - libysch G für lateinisch C.
Ofen bleibt die Frage, ob die auf den Kanarischen Inseln sehr seltene
Zeichengruppe IV/ VI (auf Hierro auch UI) ebenfalls zum Komplex G/K gehört.
Zwei der vier Beispiele aufFuerteventura lassen auch eine Lesung als Al
zu, da auf dem flachen Paneel beide Schreibrichtungen denkbar sind. Die
wenigen übrigen Beispiele erlauben keine brauchbaren Rückschlüsse auf die
phonetische Wertigkeit der Zeichen.
Resümee:
T rotz der berechtigten Annahme, daß die Zeichen t\, n, n bei korrekter
Schreibweise für G und die Zeichen/\!, lt\ für K stehen, sollen die Zeichen für
Gutturallaute bis auf weiteres neutral bezeichnet werden:
Al, l t\ (In, nl, n,, In)= G/K 1
t\, n, n = G/K2
Die Zuordnung der Zeichen IV, VI kann vorläufig nur als möglich erachtet
werden: G/K7
5.5.3 Zeichen für Sibilanten
Die Problematik der Zischlaute ist mit Sicherheit der schwierigste Teilas-
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pekt innerhalb des kanarischen Alphabets. Abb. 7 zeigt, daß es hier sogar in
Bezug auf das relativ gut bekannte massylische Alphabet beträchtliche Auffassungsunterschiede
bei verschiedenen Autoren gibt. Diese beziehen sich:
• auf die unterschiedliche Bezeichnung der Laute (z.B.: Z - Z)
• auf die Orientierung der Zeichen (z.B.: 1 oder-)
• auf die Zuordnung einzelner Zeichen zu Lauten (z.B. w, n).
Schriftrichtung:i s z s $ z z
stimmlos stimmhaft emphatisch stimmlos stimmhaft emohatisch
Chabot X (n) s - z C W,L.J.J $ H.I z rn z
Rössler !XI (n) S1.S3
- Z1 -? W,L.J...J $,S2 I z (rn) Z3
Prasse C><I, r, s 1 z -? W,L.J.J $ T z =3 ?'.
Meinhof X (n) S, Sz -
z C M, $ H.I z L.J.J z
Delgado X, !XI s 1 z C W,M,U $ H,I ?'. L.J.J,=3,z
Mauny X, !XI s 1 Ä s W,M $ I z =3 z
Mukarovsky X s - z s M.U $ H,I z UJ,/T\ z
Galand !XI, n S1,S2 1 21 -? w $ I Z2 =3 Z3
Harman x,n S,S2
-
z H M. $ H,I z UJ z
Abb. 7
Zusätzlich scheinen einzelne Zeichen im Laufe der Zeit ihren phonetischen
Wert getauscht zu haben, andere sind in ihrem Gebrauch nur schwer abgrenzbar.
Laut Rössler (1958:99f) hat Z. das n als Zeichen für S verdrängt, Z und E
werden in den Epitaphen vermischt gebraucht.
Noch viel weniger Übereinstimmungen in der Zuordnung von Zischlauten
gibt es beim saharanischenAlphabet. Die Aufassungen vonAlvarez Delgado
(1964: Fig. 52) und Prasse (1972: 153f) stimmen in kaum einem Punkt überein.
Eine Rekonstruktion des westlibyschenAlphabets hat bisher kaum jemand
gewagt. Prasse ordnet 13 verschiedene Zeichen dem Bereich der Sibilanten
zu:
S: n l><l X 8 t
Z:
: .,.
s: w -ww
?,: :3 #
Von den Kanarischen Inseln soll hier zunächst Hierro behandelt werden,
da es als einzige Insel in dieser Frage auch statistisch auswertbar ist. In Abb.
8 wurde versucht, Zeichen der Hierro-Inschriften nach der grafischen Ähnlichkeit
den entsprechenden Zeichen des östlichen Alphabets (nach RIL) zuzuordnen
und ihre Häufigkeit zu vergleichen. Auffällig ist, daß mit Ausnahme
des sehr seltenen .,. alle Zeichen vertreten sind, zum Teil in mehreren
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unschwer als Allographe erkennbaren Varianten. Noch auffälliger ist jedoch,
daß die beiden Untergruppen (Dental- und Alveolarlaute) komplementäre
Häufigkeitswerte aufweisen. Der Verdacht, daß hier ein Austausch der Zeichen
stattgefunden hat, erhärtet sich, wenn man die beiden Zeichengruppen
noch einmal unterteilt in stimmhafte und stimmlose. Auch in dieser Untergliederung
sind die Häufigkeitswerte komplementär: Es sieht so aus, als sei
der stimmlose Dentallaut mit dem stimmlosen Alveolarlaut und der stimmhafte
Dentallaut mit dem stimmhaften Alveolarlaut vertauscht worden.
RIL HIERO
s X8 7% 2% X8Brn S3
z 1 4% 2% 1 S2
s "T" 1% <1 % m rn M S5
s E 2% 7% w UJ \JV l) \JI S4
z H 2% 5% HI SI
z m <1 % <1% "T" S6
Abb. 8
Auf allen übrigen Inseln ist aufgrund der geringen Anzahl von bisher bekannten
Inschriften keine vollständige Repräsentanz der Zeichen zu erwarten.
Dementsprechend weisen Fuerteventura u_nd GranCanaria vier, Lanzarote
zwei Übereinstimmungen auf. Häufigkeitswerte können bei der geringen
Basismenge noch nicht signifikant sein. Jedenfalls ist auch auf Gran Canaria
und Lanzarote das w bzw. w das häufigste Zeichen, nur auf Fuerteventura
nicht.
Die Frage, ob nicht weitere Zeichen der Gruppe der Sibilanten zuzuordnen
sind, ist durchaus berechtigt (nicht nur für die Kanarischen Inseln, sondern
auch für Marokko, wo sowohl Z als auch-. fehlen).
Prasse ordnet im westlichen Alphabet den Sibilanten die Zeichen t = S
und # = ?, zu, ähnlich Delgado im Saharanischen: t = S, # = Z. Für das
Saharanische werden bei Prasse auch die Zeichen ;=; = S, o< = und §:1 = ?,
einbezogen, bei Delgado t = ä, Y = Z und 3f = Z . Militarev deutet auch die
kanarischen Zeichen :) und C als S und Y als - Es gibt allerdings nicht den
geringsten Hinweis, daß diese beiden Zeichen nicht auch im Kanarischen die
runden Varianten von :J und C (= D) sein sollten. Abb. 9 zeigt die Verbreitung
aller übrigen Zeichen.
Abgesehen von den jeweils nur einmal dokumentierten Zeichen Y (Buenavista/Fuerteventura)
und -l bzw. (Julan/Hierro) gibt es also nur ein Zeichen,
das auf allen Kanarischen Inseln vorkommt (und auch in Marokko: 1AM 14).
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Abb. 9 ttt :#=
......
;;= <o ]§ t y -3E -/1'i
Hierro X X
Fuerteventura X X
Lanzarote X
Gran Canaria X
La Palma X
Die Frage, ob dieses Zeichen tatsächlich der Gruppe der Sibilanten zugehört,
ist damit noch in keiner Weise berührt. Unter den Zeichen der Inschriften
Fuerteventuras kommt theoretisch ein weiteres dafür in Betracht, einen Zischlaut
zu bezeichnen. Es ist das blitzartige Zeichen W bzw. , das an den Fundstellen
Buenavista und Enmedio belegt ist und als Variante von denkbar
wäre.
Als Resümee dieser Untersuchung kann nur vorsichtig festgestellt werden,
daß im kanarischen Alphabet eine Gruppe von Zeichen mit großer Wahrscheinlichkeit
der Gruppe der Zischlaute zugeordnet werden kann, eine weitere
kleine Gruppe nur als Arbeitshypothese. Welcher phonetische Wert den
einzelnen Zeichen zukommt, ist vorläufig völlig unklar. Die Häufigkeitsverteilung
bei den Inschriften Hierros spricht dagegen, daß es sich um den
jeweils gleichen Wert wie im östlichen Alphabet Nordafrikas handelt. Hierzu
kommt ein weiteres Element der Unsicherheit: Ich bin zwar davon überzeugt,
daß der Durchschnittssprecher sechs Zischlaute unterscheiden konnte, weniger
überzeugt bin ich aber davon, daß der Durchschnittsschreiber sechs entsprechende
Grapheme fehlerfrei unterscheiden konnte, noch dazu, wo es so
aussieht, als hätten einzelne Zeichen - zeitlich oder räumlich bedingt - ihre
Bedeutung gewechselt.
Si S?
S2 Z?
SJ S?
S4 Z?
Ss S?
S6 Z?
s?
s?
s?
HI
1
X8m8DJ
Www'V \fV
M rn m
-. 'i
y
t
Daraus ergibt sich für mich die Forderung,
vorläufig auf eine phonetische
Zuordnung der Zeichen zu verzichten
und sich mit einer neutralen Numerierung
zu begnügen. Die Annahme eines
hypothetischen phonetischen Wertes
beruht einzig und allein auf ihrer
statistischen Häufigkeit auf Hierro,
gereiht werden sie im folgenden allerdings
nach ihrer Häufigkeit auf Fuerteventura
(siehe Tabelle links).
Abb. 10
55
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5.5.4 Die Problematik der Vokalschreibung
Es wird heute allgemein angenommen, daß die libysche Sprache ursprünglich
ein dreistufiges Vokalsystem besaß( Rössler 1958:100, Prasse 1972:119f):
A - I - U. Die libysch-berberische Schrift jedenfalls stellt von ihren ersten
überlieferten Zeugnissen an nur drei Zeichen zur Vokalbezeichnung zur Verfügung:
1) III(=)
2) N( Z)
3) II
ad 1) Die Häufigkeit dieses Zeichens bei den Inschriften Fuerteventuras
( 6%) stimmt recht gut mit der Häufigkeit in nordafrikanischen Inschriften( 7-
8 % ) überein. Bei korrekter Orthographie wird dieses Zeichen ausschließlich
am Wortende verwendet. Das hieße für längere Zeichenketten, innerhalb derer
ein 111 vorkommt , daß an dieser Stelle Worttrennung anzunehmen wäre. Es
gibt jedoch auch unter den nordafrikanischen Inschriftendes RIL einige wenige
Beispiele fürI II im Anlaut( laut Lafuente 1957:388 sechs) und zahlreiche
für III im Inlaut (etwa hundert). Rössler (1958:96) sieht darin eine Nachahmung
neupunischer Schreibgewohnheiten.
Bei den Inschriften Fuerteventuras findet es sich fast ausschließlich im
Auslaut, bei dem einzigen Beispiel für ein Vorkommen innerhalb einer
Zeichenkette ist die Position Wortende gut denkbar. Über die phonetische
Wertigkeit des Zeichens herrscht eine große Bandbreite von Meinungen.
Chabot und Prasse transkribieren es mit H, Mauny und Marcy mit G , Meinhof
mit g und Q, Mukarovsky mit GH und Q, Basset mit I und Delgado mit Y.
Rössler hält es für einen außerordentlich lautschwachen Laryngal und transkribiert
es mit'. Lafuente glaubt in einigen Fällen( RIL 1) die Funktion einer
,,ponctuation, l'equivalent de notre double point" erkennen zu können( 1957:
389). Galand (1966: 23) meint, daß es im „touareg ancien" einen fricative
velaire sonore g bezeichne, im „libyque oriental" aber einen auslautenden
Vokal. Über die tatsächliche Funktion können die Bilinguen am besten Aufschluß
geben:
RIL 31
RIL 451
RIL 85
MDYT=
NMRS:
FW STIII
pun. MDYTA
pun. NMRSY
lat. FAUSTUS
Parallele Beispiele lassen sich aber auch aus anderen libyschen Inschriften
erbringen:
RIL 632
56
III NIII lat. HANNO
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RIL 378
RIL 1116
MNTN=
SRBK=
lat. MONTANUS
lat. SERBUCA
Durch zahlreiche weitere Belege kann es als erwiesen gelten, daß das Zeichen
III (so wie das punische') im Falle der Übersetzung lateinischer Eigennamen
die Endung -US ersetzt. Laut Fevrier (1956:266) wurde es in diesen Fällen
wie U (franz. OU) oder O ausgesprochen, jedenfalls nicht wie E (was
Friedrich für die punischen Übersetzungen angenommen hat). Daneben gibt
es aber auch zahlreiche Belege dafür, daß 111 für auslautendes A und I eingesetzt
wurde.
Für das kanarische Alphabet sei an dieser Stelle die These formuliert, daß
es sich bei 111 um ein allgemeines Zeichen für den auslautenden Vokal handelt,
er wird in der Folge mit ' transkribiert. Innerhalb der Digraphien Fuerteventuras
entspricht dem libyschen 111 im Lateinischen einmal ein A, einmal ein I.
ad 2 und 3) Über die phonetische Wertigkeit der beiden Zeichen gibt es
wenig Diskussion. Rössler, Prasse und Galand bevorzugen gegenüber Delgado,
Chabot und Meinhof (I bzw. U) die Transkription mit Y bzw. W, um die
Wertigkeit als Halbvokal zu verdeutlichen. Es gibt keinerlei Indiz, daß diesen
beiden Zeichen auf den Kanarischen Inseln eine andere phonetische Bedeutung
zugeschrieben werden sollte. Innerhalb der Digraphien ist N nicht vertreten,
III wird im Lateinischen in vier Fällen als V (=U) wiedergegeben.
N ist in allen Positionen innerhalb von Zeichenketten vertreten, am häufigsten
in Mittel-, am seltensten in Endposition. Die entsprechenden statistischen
Werte der Inschriften Fuerteventuras passen recht gut zu denen nordafrikanischer
Inschriften, ebenso bei 11.11 kommt ebenfalls in allen Positionen
vor, hier dominiert allerdings ganz klar die Stellung am Anfang von Zeichenketten
(60-70 %).
Zur gesamten Häufigkeit des 11 innerhalb des j eweiligen Alphabetes: Nimmt
man für die nordafrikanischen Inschriften Chabots „ Table de noms propres"
(1940:XV II-XXIII), so ergibt sich eine Häufigkeit von nur 4 %. Das ist darauf
zurückzuführen, daß Chabot in vielen Fällen das anlautende II als „Sohn
des" identifiziert und daher in der Namensliste weggelassen hat. Die Abstammungsbezeichnung
„Sohn des" dürfte also in den kanarischen Felsinschriften
noch wesentlich häufiger vorkommen als in den nordafrikanischen Grabinschriften.
5.5.5 Sonderzeichen
Sonderzeichen im Sinne der Definition von S. 41 gibt es in allen libyschberberischen
Alphabeten: Chabot nennt für die Inschriften des RIL zwölf
57
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(1940: V I), bei genauerer Analyse des Corpus sind es sogar etwa zwanzig.
Galand unterscheidet im Corpus der IAM ebenfalls etwa fünfzehn. Da sie
meist nur einmal vorkommen, ist es unmöglich zu unterscheiden, ob es sich
um lokale Variationen oder schlicht und einfach um Schreibfehler handelt.
Daß sie einen eigenen Laut bezeichnen, ist aufgrund ihrer Seltenheit sehr
unwahrscheinlich. Da es in diesem Zusammenhang primär um die Inschriften
Fuerteventuras geht, sollen im folgenden nur die Sonderzeichen dieser Insel
behandelt werden.
• Y (Bl,B2):
Y-ähnliche Zeichen kommen innerhalb libysch-berberischer Inschriften äußerst
selten vor. RIL 309, 310 und 311 weisen innerhalb des gleichen Wortes
(GN*TF) die Varianten LJ und I' auf. Da diese Zeichenreihe sonst nirgends
vorkommt, ist eine Zuordnung außerordentlich schwierig. Rössler (1958:98)
glaubt nicht an die Existenz eines besonderen Zeichens mit noch unbekanntem
Lautwert und plädiert dafür, daß es sich um loakle Varianten des Zeichens
für ( .-) handelt. Ein ähnliches Zeichen in der zweiten Bilingue von
Dugga (RIL 2) hält er für ein mißratenes N. In RIL 923 steht es am Ende der
Reihe MSU*, Chabot (1940:V u.202) schließt nach dem in Nordafrika vielfach
vorkommenden MSUH auf eine Identität vonl' und III. Unter den marokkanischen
Inschriften kommt ein Y-förmiges Zeichen nur einmal vor (IAM
5). Militarev (1988:204) schließt sich in seinem kanarischen Alphabet der
Meinung Rösslers an(), Delgado (1964: Fig.52) hält das Y in seinem saharanischen
Alphabet für ein Z oder <;.
Da die Inschrift Bl (sieht man von der fragmentarischen und wahrscheinlich
identischen B2 ab) nicht nur auf den Kanarischen Inseln isoliert dasteht, sondern
auch mit keiner Zeichenreihe der nordafrikanischen Inschriften vergleichbar
ist, gibt es vorläufig keinerlei Anhaltspunkte für eine Transkription
des Y.
• I\, A (M3):
Bei diesem Zeichen könnte es sich entweder um ein schlampig geritztes /\,
oder um Varianten von Al bzw. II\ handeln. Meines Wissens gibt es dafür keine
Parallele an anderen Fundorten. Ulbrich hat zwar auf Lanzarote ein weiteres
Beispiel dokumentiert (1991: 103), nach mehrmaliger genauer Betrachtung des
Paneels neige ich jedoch dazu, den linken Strich als nicht zur Schriftzeile
gehörig zu betrachten.
• 9 (Cl):
Einerseits kann es leicht sein, daß es sich dabei um die beiden Zeichen - und
0 handelt und der Verbindungsstrich ein ungewollter Ausrutscher ist. Andererseits
hat Nowak an der Fundstelle La Caleta/Hierro dieses Zeichen in waag-
58
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rechter Form dokumentiert: LD. Da es sonst nirgends vorkommt, ist eine Transkription
derzeit unmöglich.
In diesem Zusammenhang sei noch auf ein Zeichen hingewiesen, daß als
Einzelzeichen nicht in die Liste der Inschriften aufgenommen wurde. Es findet
sich auf dem Paneel Buenavista II 5 (Pichler 1993:419) unter einer lateinischen
Zeile und zwischen einigen nicht mehr identifizierbaren Zeichen und
einem Pentagramm. Es hat eine frappante Ähnlichkeit mit einem Fabrikstempel
auf einem römischen Bleibarren, der in Arbon am Bodensee gefunden
und von Meyer-Boulenaz (Ur-Schweiz 16/1952,51-53) veröfentlicht
wurde: - Friedrich (1964:231) nimmt zu der vom Verfasser brieflich an ihn
herangetragenen Meinung, daß es sich dabei um die Verknüpfung der beiden
numidischen Zeichen für ä und T handle, allerdings nicht Stellung.
Darüber hinaus gibt es unter den Inschriften der Kanarischen Inseln nur
eine ganz geringe Zahl weiterer Zeichen, die vom „Standardalphabet" abweichen:
Auf Hierro sind dies: ' -l, und ITI, auf Lanzarote möglicherweise ,1\.
5.5.6 Punktzeichen:
In Kapitel 5.4 wurde als wesentlichstes Unterscheidungsmerkmal zu den
saharanischen Inschriften und dem Tifinagh das Fehlen punktförmiger Zeichen
im kanarischen Alphabet betont. Dies gilt mit einer Einschränkung: Auf
Hierro konnte (als bisher einziger Insel) ein Zeichen in Form eines einzelnen
Punktes mit Sicherheit nachgewiesen werden. Daß es sich wie im Tifinagh
um die Bezeichnung eines auslautenden Vokals handelt, ist aus mehreren
Gründen nicht anzunehmen. Vor allem aber deshalb, weil in dieser Funktion
auf allen Inseln des Zeichen III vertreten ist.
5.5.7 Ligaturen:
In der bisher publizierten Literatur wird nicht angenommen, daß die libysch-
berberische Schrift über Ligaturen verfügte. Als Beleg mögen zwei
Zitate genügen. Rössler (1979:91): ,,In den alten numidischen Inschriften
wurde Ligierung ... nicht geübt". Prasse (1972:147): ,,Les ligatures paraissant
etre une innovation assez moderne".
Im „klassischen" Alphabet der Monumentalinschriften von Dougga gibt
es tatsächlich keinen Hinweis auf eventuelle Ligaturen. Im heutigen Tifinagh
ist diese grafische Abkürzungsmethode allerdings sehr gebräuchlich: Von
Region zu Region unterschiedlich in Form, Bedeutung und Anzahl werden
heute bis zu 20 Bi-Konsonanten - Zakara/Drouin (1988) bevorzugen diese
Bezeichnung- unterschieden. Da es bisher keinerlei Anhaltspunkt gibt, wann
diese Technik (möglicherweise unter dem Einfluß einer anderen Schrift?) ein-
59
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geführt wurde, ist die Frage legitim, ob es Ansätze dazu schon in antiker Zeit
gegeben hat.
Im hier zur Diskussion stehenden kanarischen Alphabet der libysch-ber-berischen
Schrift kämen dafür auch theoretisch nur wenige Zeichen in Frage:
fi, EB D, 0 mit+ (RT) - im Tifinagh gebräuchlich!
rn, CD D, 0 mit 1 (RS)
B, 8 D, 0 mit - (RN)
t mit III (N ')
Die bisher dokumentierten Beispiele dieser Zeichen erlauben noch keinerlei
Rückschluß auf das Vorhandensein einer Buchstabenkombination. Ich halte
sie eher für Varianten von Einzelbuchstaben. Die Frage der Möglichkeit von
Ligaturen für die libysch-berberische Schrift muß daher nach wie vor ofen
bleiben.
Abb. 11: Das kanarische Alphabet der libysch-berberischen Schrift - siehe
nebenstehende Seite (Anmerkung: die Häufigkeitswerte beziehen sich ausschließlich
auf die Inschriften Fuerteventuras.)
Resümee:
• Das kanarische Alphabet hat eine breite gemeinsame Basis mit den nordafrikanischen
Alphabeten des libysch-berberischen Typs.
• Die Unterschiede beziehen sich vor allem auf eine größere Bandbreite grafischer
Varianten eines Zeichens im Kanarischen (besonders bei Y, G/K
und S).
• Beim bisherigen Stand des Wissens muß man 3 Gruppen von Zeichen unterscheiden:
1 - 11: Ihre phonetische Wertigkeit kann als gesichert gelten. Nur für das B
gibt es noch zu wenige Belege.
12 - 19: Die Zuordnung der Zeichen zu einer Lautgruppe ist durch überzeugende
Argumente abgesichert, ihr genauer Lautwert jedoch nicht.
20 - 30: Der Lautwert dieser sehr seltenen „Sonderzeichen" ist völlig unklar.
5.6. Transkription der Inschriften Fuerteventuras (siehe Tabellen S. 20-21)
Kommentar zu einzelnen Zeilen
1: Diese Zeile enthält zwei Zeichen, die auf den Kanaren bisher nirgends in
dieser Form belegt sind.
2: Fragmentarisch. Da die unmittelbar darüber positionierte lateinische Zeile
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Grafische Zeichen Häufigkeit
1 \V II 28 17%
28
2 N - 17 10%
17
3 y N VI N \1\ ru U1 Ln rv (\J V1 Vl N 15 9%
5 4 2 4
4 M u V u 14 9%
12 2
5 R 0 D 12 7%
lO 2
6 J III = 12 7%
II 1
7 T + X 10 6%
3 7
8 L - 5 3 o/o
5
9 D :J C J C > < 4 2%
4
lO FIP )( )(' )5 2 1%
2
II B () 8 tB fi 0/3 0/2%
2 1
12 G/K1 Al lt\ In n1 nl In rv VI 12 7%
4 6 2
13 G/K2 /\ n n 6 4%
6
14 St H I 6 4%
5 1
15 S2 1 5 3%
5
16 Si X 8 (X) E3 [l] CD e 4 2%
3 1
17 S• Ll..J V'-) w UJ \V 2 1%
2
18 S5 rn M "' ,1' 1 1%
1
19 S6 1 0 0%
20 y 2
21 I\ A 2
22 l 1
23 t 1
24 9 1
25
26 1111 -
27 1 L
28 l1TI
29 t
Abb.11 30 3 E
61
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identisch ist mit der auf Paneel BI, ist mit großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen,
daß auch die libysch-berberischen Zeilen identisch sind.
5: Digraphie !
7: Fast nicht mehr sichtbar, besonders die ersten beiden Zeichen sind unsicher.
Ursprünglich als II:J X III( Pichler 1993: 377) undJL ::J X III( Pichler 1994:
Abb. 16) dokumentiert. Nach zahlreichen weiteren Begehungen der Fundstelle
nun doch wahrscheinlichste Version: II - X III.
8/9: Zwar tief graviert, aber sehr rauhe Felsoberfläche mit tiefen Rissen. Der
Unterschied zwischen natürlichen und künstlichen Vertiefungen ist nur sehr
schwer festzustellen. Rekonstruktionsversuch: linguistischeAuswertung nicht
sinnvoll.
10: Das Paneel ist flächig von Ritzungen bedeckt, die durchwegs libyschberberische
Schriftzeichen darstellen können, jedoch ist keine klare Zeilenführung
zu erkennen. Herausgegriffen wurde eine Abfolge von 5 Zeichen,
die im Mittelteil senkrecht übereinander angeordnet sind. Der große Abstand
nach dem dritten Zeichen könnte auch eine Worttrennung andeuten. Großer
Unsicherheitsgrad, daher nicht auswertbar.
13: Längste bisher auf Fuerteventura dokumentierte Zeichenfolge. Zwei
Umstände erschweren Dokumentation und Auswertung: die rauhe, rissige
Felsoberfläche und die Überlagerung mit lateinischen Buchstaben. Die ersten
vier Zeichen sind sehr unsicher, das 13. Zeichen ist beschädigt.
14: Es ist nicht sicher, ob diese vier Zeichen eine bewußte Zeichenkette darstellen.
16: 2. Zeichen: das innere Kreuz ist nur andeutungsweise zu erkennen. Der
große Abstand danach deutet möglicherweise eine Worttrennung an.
17: 4. Zeichen: es ist unklar, ob es sich um ein mißglücktes = handelt, ein
eigenes Graphem ist wohl nicht anzunehmen. 5./6. Zeichen: in dieser Form
sonst nirgends dokumentiert. Mehrere Auslegungen sind möglich: II\ bzw.!\\,
schlampig geritztes f\ oder /\?
18/19: Sehr deutlich, aber auf fast waagrechtem Stein, daher Schreibrichtung
nicht eindeutig.
20: Unsicher durch Überlagerung mit anderen Ritzungen, 3. und 5. Zeichen
mit aufällig langer Haste nach links oben.
21: Sehr flaches Paneel - beide Schreibrichtungen sind möglich. Wegen des
großen Abstandes nach (oder vor) dem Zeichen II ist nicht sicher, ob dieses
zur Schriftzeile gehört.
22: Zur Schreibrichtung siehe 21. Durch andere Ritzungen überlagert. Beim
2., 3. und 5. Zeichen ist nicht mit absoluter Sicherheit festzustellen, ob es sich
umv1 oder VI handelt. Rechts neben der Zeile zwei kleinere Zeichen, die eben-
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falls libysch-berberische Buchstaben sein könnten: E, CD.
23/24: Fast nicht mehr sichtbar. Von Le6n Hernandez (1988:195) ursprünglich
als V III II dokumentiert, von mir (1993:439) auf X III II 1 111, schließlich
1994 bei optimalen Lichtverhältnissen auf II X III II x III korrigiert: doppelte
Digraphie der unmittelbar daneben angebrachten lateinischen Zeile.
25/26: linke Zeile fragmentarisch (abgebrochen), vermutlich identisch mit
rechter Zeile. Daher 1. Zeichen der rechten Zeile vermutlich als II zu lesen .
27: Fragmentarisch, sehr unsicher.
28/29: Fast nicht mehr sichtbar. Ursprünglich von mir (1993:387) ebenso wie
die dazwischen angebrachte lateinische Zeile fehlerhaft dokumentiert. Zeile
28 und die Zeichen 3 bis 5 der Zeile 29 stellen zusammen mit der lateinischen
Zeile eine Digraphie dar.
30: fragmentarisch, sehr unsicher.
31: wahrscheinlich fragmentarisch
33: Bei Hernandez Diaz (o.J: 29):
Bei Pichler (1993: 367):
Wahrscheinlichste Version 1994:
34: Bei Hernandez Diaz:
Bei Pichler 1993:
Wahrscheinlichste Version 1994:
35: Bei Hernandez Diaz:
Bei Pichler 1993:
5. 7. Semantische Aspekte
II vHE - X
llE-X
II E X= (letztes Zeichen fraglich)
N VI X E
/\1 VI X E
11/\I VIX E
VI X
v1 VI X
Bislang ist noch völlig ungeklärt, in welcher Sprache die libysch-berberischen
Texte der Kanarischen Inseln geschrieben sind: Ist es eine nordafrikanische
(libysche)? Ist es Altkanarisch? V iel zu wenig wissen wir über Vokabular
und Grammatik dieser Sprachen, um eindeutige Aussagen machen zu
können. Die sprachstatistische Struktur der libysch-berberischen Texte der
Kanaren kann zwar nichts beweisen, liefert jedoch wertvolle Hinweise, in
welcher Richtung sinnvoll weiter gesucht werden kann. So wie schon die
latino-kanarischen Inschriften verweisen auch die libysch-berberischen in die
Nähe der libyschen bzw. altkanarischen Sprache(n). Es empfiehlt sich auch
hier eine ähnliche Vorgangsweise, wie sie schon bei der Entziferung der
Ostinsel-Texte angewendet wurde (Pichler 1993): die Suche nach Personennamen
durch den Vergleich mit anderen Texten. In zweiter Linie ist an das
Aufsuchen von kurzen Formeln zu denken. Ich halte es für einen grundsätzlichen
Fehler, in den vorliegenden Texten große Botschaften zu erwarten,
zumal es sich auch hier wie bei den Ostinsel-Texten um sehr kurze, meist
63
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einzeilige Inschriften handelt. Unsichere Zeilen sollen nur in Ausnahmefällen
in die Betrachtung einbezogen werden.
5.7.1 Personennamen
Auch wenn man die kanarischen Felsinschriften inhaltlich nur mit großer
Vorsicht mit den nordafrikanischen Epitaphen vergleichen kann, so kann man
doch aus ihnen Grundsätzliches lernen. Etwa über ihre Struktur: Auch die
Mehrzahl der nordafrikanischen Epitaphe besteht aus zwei- bis dreizeiligen
Texten. Bei vielen der zweizeiligen beginnt eine Zeile mit W-. Da anlautende
Vokale im Libysch-Berberischen in der Regel nicht geschrieben werden, kann
man mit großer Wahrscheinlichkeit annehmen, daß es sich dabei meist um die
Formel „A., Sohn des B." handelt. Wenn die Zeichenfolge nach dem W- in
einer anderen Inschrift ohne W- vorkommt, so ist das ein brauchbares Indiz,
daß es sich um einen Personennamen handelt. Eine Analyse der diesbezüglichen
Inschriften des RIL ergibt, daß die mit W- beginnende Zeile etwa gleich
häufig links und rechts steht. Das korrespondiert mit der für die nordafrikanischen
Grabinschriften allgemein gültigen Aussage, daß die vertikalen Zeilen
von links oder von rechts gelesen werden können. Bei den dreizeiligen Inschriften
steht die mit W- beginnende Zeile meist in der Mitte, so daß die
Textstruktur „A., Sohn des B., Text" anzunehmen ist, wobei damit noch nicht
geklärt ist, ob der Personenname rechts oder links steht. Denkbar ist natürlich
auch die Struktur „Text, A., Sohn des B.". Ein erster Ansatz zur Analyse der
kanarischen Felsinschriften ist es also, folgende Textstrukturen aufzusuchen:
1 2 3 4 5
u u u u u
Solche Strukturen konnten bis her einzig und allein auf Hierro dokumentiert
werden. Da die Inschriften auf den übrigen Inseln meist nur aus einer
Zeile bestehen, erscheint es legitim, in diese Betrachtung zumindest jene einzubeziehen,
die mit W- beginnen, da die Zeichenfolgen danach ja ebenfalls
mit großer Wahrscheinlichkeit Personennamen sind.
Der nächste Schritt besteht darin, diese als potentielle Personennamen identifizierten
Zeichenfolgen mit den über 1000 Inschriften des RIL (und den 27
des IAM) zu vergleichen. Sollten sich Übereinstimmungen ergeben, so wäre
das ein starker Hinweis darauf, daß es sich bei den verglichenen Zeichenfolgen
um Personennamen handelt. Da dieser Weg schon ansatzweise von
Zyhlarz (1950) und Delgado (1964) eingeschlagen wurde, ist es umso er-
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staunlicher, wieso man ihn nicht konsequent weiterverfolgt hat.
Der dritte Schritt der vergleichenden Analyse besteht darin, nachzuforschen,
ob es für die nun schon sehr wahrscheinlich gewordenen Namen Entsprechungen
in anderen Inschriftenkomplexen ( bzw. Sprachen) gibt. Beispiele
der lateinisch-libyschen Bilinguen Nordafrikas zeigen, daß man dabei nicht
immer völlige Identität der Konsonanten erwarten darf:
RIL 145: lat. NABDHSEN -
RIL 252: lat. MISICIT
RIL 252: lat. CHINIDIAL
lib. NBDDSN
lib. MSGT
lib. KNDIL
Beispiele für die Textstrukturen 1.1 bis 1.4 (Abb. 12):
1.1 La Caleta/Hierro:
+:Jn+ II nX-T
D G/K T W G/K SN
n§ II/\ X-G/
K T WG/K SN
Die rechten Zeilen der beiden Inschriften sind ein weiteres Indiz für die Vermutung,
daß es sich bei n und /\ um Allomorphe handelt.
G/K SN: libysch: KSN (RIL 719)
lateinisch: ACASAN (CIL VIII 16922)
T D G/K T: libysch:
KT: libysch:
lateinisch:
1.2 La Caleta/Hierro:
KAS* NI (FU E 2 7)
am ähnlichsten TKDT (RIL 730)
KT' (RIL 146)
CATA (CIL VIII 7279)
-I- IIC:JUL.LJ
N SN W D D M S
NSN: libysch: NSN (RIL 977)
DDMS: lateinisch: D ECIMUS ? (CIL VIII 2529)
1.3 La Caleta/Hierro:
U\ H - :J O II/\ X - n H -u O ru =
Y SN D R W G/K S N G/K SN MR Y L
G/K S N: siehe 1.1
1.4 Hoyo Blanco/Hierro:
-uO +n-+ IIOn=
N MR TG/K N T WRG/K L
65
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66
lJl
H
-
II C
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II .•.• V Ü
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II +
O v u_
n = + 0
,,
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rc
n
m
II +
V C
z u
+ -
Abb. 12
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NMR:
T G/KNT:
RKL:
libysch:
lateinisch:
libysch:
libysch:
lateinisch:
NMR (RlL 1022)
NIMMIRA ? (CIL VIII 8694)
TKN' (RIL 444)
RK' L (RlL 727)
ROCILLA? (CIL VIII 8360)
Beispiele für Personennamen in Einzelzeilen Fuerteventuras:
B4: WMG/KR N
libysch: MKRN (RlL 650)
lateinisch: AU-MAKURAN (FUE 143)
MAKKUR, MACURASENIS, (M)ACCURASAN etc.
B5: WS M'
libysch:
lateinisch:
S YM ' (RIL 297)
UA-SIMA (FUE 66)
TA-SIMA-T (FUE 187-Korrektur)
Sl: WNT'
S4:
S5/Gl:
G2:
libysch:
lateinisch:
WG/KR
libysch:
lateinisch:
WT'
libysch:
lateinisch:
WM R S
NTN (RlL 827)
U-NETAN (FUE 191)
KR' (RlL 503)
CARA (CIL VIII 128 etc.)
WT' (RlL 331)
AUA-T I oder AU-ATI (FUE 211)
libysch: MRS (RlL 108)
lateinisch: MAR1S (IRT 300)
M5: WR T'MWR
libysch: RlT' (RlL 611)
RYT* (La Caleta/Hierro)
M6: WTG/KNT
libysch: TKNT (RlL 444)
Ermutigt durch die Ergebnisse bei der Analyse der latino-kanarischen Inschriften
auf Fuerteventura soll schließlich auch unter den nicht mit W- beginnenden
Zeilen nach Personennamen gesucht werden:
M4: M SWN S RG/KN
67
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libysch:
lateinisch:
Tl: Y G/K S
libysch:
MS WN (RIL 631)
MASUN (FUE 234)
MASUNA (CIL V III 9835)
YKS (RIL 655)
Diese Ergebnisse korrespondieren in ganz auffälliger Weise mit denen der
Analyse der lateinischen Inschriften Fuerteventuras (Pichler 1994). Hier wie
dort ein weit über jede Zufälligkeit hinausgehendes Vorkommen nordafrikanischer
Namen: in 11 von etwa 24 auswertbaren Zeilen finden sich belegbare
Personennamen. Damit ist noch gar nicht gesagt, daß die übrigen Zeilen keine
Personennamen enthalten, nur sind sie ofensichtlich in Nordafrika nicht belegt.
Der u.a. durch mehrere Digraphien gelungene Nachweis, daß einige der
libysch-berberisch geschriebenen Namen mit lateinisch geschriebenen identisch
sind, stützt wiederum die T hese, daß die Urheber der beiden Inschriftenkomplexe
identisch sind.
Alle diese Erkenntnisse beantworten aber noch immer nicht die Frage nach
der Sprache der Texte. Die Präsenz nordafrikanischer Namen beweist ja noch
lange nicht das Vorhandensein der libyschen Sprache. Selbst der häufige
Wortbeginn mit W- muß nicht zwingend - so wie oben angenommen - in
allen Fällen dem libyschen „Sohn des" entsprechen. Sogar im Libyschen könnte
es genausogut WA = ,,derjenige" oder AWA = ,,das" bedeuten, von anderen
Sprachen ganz abgesehen. Da sowohl die lateinischen als auch die libyschberberischen
Inschriften keine längeren Texte anbieten, kann sich die Suche
nach der Sprache der Texte nur auf folgende Aspekte beschränken:
• Sind die Namen durch kurze wiederkehrende Formeln ergänzt?
• Sind in den Namen lexikalische oder grammatikalische Morpheme erken-bar,
die für eine bestimmte Sprache typisch sind?
Da eine schon mehrfach formulierte T hese meiner Untersuchungen ja darin
besteht, daß es sich tatsächlich um die libysche Sprache (bzw. eine dem Libyschen
sehr nahestehende Sprache) handelt, zielen die folgenden Vergleiche
natürlich in diese Richtung. Es ist in diesem Zusammenhang für mich auch
sehr schwer vorstellbar, in welche Richtung sie sonst zielen sollten.
5. 7 .2 Formeln
Die Suche nach vergleichbaren Formeln wird dadurch sehr stark erschwert,
daß es sich bei den Vergleichstexten des RIL fast ausschließlich um Grabin-
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schriften handelt. Von den Inschriften Fuerteventuras (und auch von denen
der anderen Kanarischen Inseln) kann dies nicht von vomeherein angenommen
werden, die Anbringungsorte sprechen sogar stark dagegen. Inhaltlich
ist also gar keine große Übereinstimmung zu erwarten. Darüberhinaus ist
auch die Lesung der häufigsten Formeln des RIL nicht unumstritten.
Die in afroasiatischen Sprachen gebräuchlichste Initialformel von Inschriften
besteht seit alters her darin, dem Namen des Schreibers (oder desjenigen,
der sie veranlaßt hat) das Wort „ich" voranzustellen. Schon in der aramäischen
Sprache des 9. und 8. Jhs. v. Chr. lautete diese Formel 'NK, z.B.: 'NK PNM W
BR QRL = Ich, Panammu, Sohn des Qaral (Földes-Papp 1966:125). Auch die
in althebräischer Sprache verfaßte Stele des Mesa (9.Jh. v.Chr.) beginnt mit
dieser Formel: 'NK MSc BN KMSMLK (Földes-Papp 1966:116). Diese Gepflogenheit
konnte in Nordafrika ofensichtlich bis in die Gegenwart tradiert
werden, denn unzählige der rezenten Tifinagh-Inschriften der Sahara beginnen
mit der Formel: W NK = AWA NEK = das (bin) ich. Eine Analyse der
Tifinagh-Inschriften der zentralen Sahara zeigt, daß auch ein Beginn mit ausschließlich
„NK = ich" mehrfach nachweisbar ist (Trost 1981: Fig375,433,434
etc.). Für das Tuareg-Pronomen „ich" (bei Prasse näk, bei Zakara/Drouin nsk)
gibt es imTamazight die Entsprechung nkk (bei Abdel-Massih nk:, bei Galand
nK). Für die Grabstelen des RIL ist ein solcher Beginn tatsächlich nicht zu
erwarten. So beginnt zwar RIL 261 mit NK, aber die Lesung als „Ich, TD,
Sohn des DFL" ergibt in diesem Kontext wenig Sinn. Dasselbe gilt für die
Monumentalinschriften von Dougga. Auffällig ist aber, daß unter den nur 27
Inschriften der 1AM immerhin drei bis vier mit NK beginnen, wenn man akzeptiert,
daß das Zeichen n auch in Marokko für einen Gutturallaut steht.
Auch unter den wenigen Inschriften der Kanarischen Inseln finden sich
immerhin 7, die mit NK beginnen. In allen Fällen folgen auf das NK unterschiedliche
Zeichenreihen. Daß es sich dabei um 7 verschiedene, mit NK
beginnende Namen handeln sollte, ist äußerst unwahrscheinlich. Chabot hat
in den über 1000 Inschriften Nordafrikas auch nur 7 mit NK beginnende
Zeichenreihen gefunden, die er für Personennamen hält. Es spricht also sehr
viel dafür, daß es sich bei diesen NK doch um eine Initialformel handelt. Sie
liegt in den drei grafischen Varianten - n, - n und - /\ vor. In einem Fall
ergibt die darauf folgende Zeichenreihe eine verlockende Parallele zu einer
lateinischen Inschrift Fuerteventuras:
La Caleta/Hierro: NK WSL - F UE 12: UASEL *
Als zweite potentielle Formel sei auf das schon bei der Analyse der latinokanarische
Inschriften erwähnte AUN (Pichler 1994: 196) verwiesen:
Paneel C 1: libysch: WN' - lateinisch: AUNA
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weitere Beispiele: AUNI (FUE 83), AU f:lI (FUE 78), AUN (FUE
159), AUNA (FUE 255), vielleicht auch U-AUNU (FUE 13,14).
Ähnliches gilt für die Buchstabenfolge IIG. Sie ist in den latino-kanarischen
Inschriften mehrfach belegt (FUE 173,176,226). Die auf Paneel B 3
vorkommende libysche Zeile YKKY W ist fast identisch mit der lateinischen
Zeile IKI-D-AUA (FUE 225,231,232). Ungewöhnlich ist allerdings die im
Libyschen sonst unübliche Konsonantenverdopplung. Zwei aufeinanderfolgende
identische Konsonanten sind normalerweise ein klarer Hinweis auf
einen dazwischenliegenden Vokal.
6. Zusammenfassung
Aufgrund der Inschriftenfunde der letzten Jahre können einige Revisionen
an der von Wölfel in den 40er-Jahren vorgenommenen und bis heute im wesentlichen
unwidersprochenen Einteilung der Inschriftentypen der Kanarischen
Inseln vorgenommen werden. Für zwei der von ihm postulierten Typen
gibt es bis heute keinen schlüssigen Nachweis:
• Transitionsschrift
Wölfel nennt diesen Schrifttypus deshalb so, ,,weil er unverkennbar in seinem
Zeichenbestand einen Übergang von der zeichenreichen Westschrift mit
ihrem kretischen Gepräge zu der reinen Alphabetschrift des Altnumidischen
darstellt" (1940: 309). Bei genauerer Betrachtungsweise gibt es allerdings
kaum „fremde" Zeichen zwischen den „numidischen". Diese Annahme beruht
im wesentlichen auf Fehlern bei der Dokumentation sowie auf Unkenntnis
von Zeichenvarianten. Damit soll nicht geleugnet werden, daß es sehr
wohl Zeichengruppen gibt, die sehr ähnlich wie libysch-berberische aussehen,
aber doch nicht als solche sinnvoll lesbar sind. Ich glaube, daß für sie die
Vermutung zutrift, die Biedermann (1985: 62) geäußert hat, nämlich daß es
sich hier um das Nachahmen eines nur teilweise oder gar nicht bekannten
Zeichenrepertoires handelt. Typische Kennzeichen dieser Zeichengruppen
sind: die Auflösung der strengen Zeilenform, eine ungenaue Zeichenwiedergabe,
das Vorkommen fremder Zeichen, eine weniger sorgfältige
Punzierung. Ich glaube allerdings nicht, daß man generell die küstenfernen
Fundorte diesem Typus zuordnen kann. Auf Hierro z.B. zeichnen sich gerade
die ( erst 1994 gefundenen) durchaus nicht küstennahen Inschriften des
Barranco de Santiago nicht durch die oben genannten Merkmale aus. Meiner
Ansicht nach gehören u.a. folgende „Inschriften" zu dieser Gruppe: Barranco
del Cuervo/Hierro, z.T. Barranco de Candia/Hierro, z.T. La Caleta/Hierro,
auf Fuerteventura am ehesten die Paneele S3 und G3, auf Lanzarote ein Teil
der Pefia de Luis Cabrera.
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• Westschrift
W ölfel nahm an, daß es sich bei einem Teil der Petroglyphen von El Julan/
Hierro um einen eigenen Schrifttypus mit kretischen Anklängen handle und
schrieb ihn der „Westkultur" zu, ,jener bisher unbekannten Hochkultur, die
auf den Kanarischen Inseln einen bescheidenen Ableger hatte" (1940:309).
Wölfels Hofnung, man werde in Zukunft auf eines ihrer Zentren stoßen, hat
sich bis heute nicht erfüllt. So gibt es auch keine weiteren Indizien für die
Existenz einer solchen Schrift. Die von Wölfel und auch von Biedermann
(1985:68) zitierten Parallelen zwischen kanarischen und kretischen Schriftzeichen
vermögen mich nicht zu überzeugen.
Auch für die von Zyhlarz (1950: 425) angenommenen neupunischen und
junglibyschen Schriften gibt es bis heute keine ernsthaften Belege. Es gibt
zwar immer wieder Einzelzeichen und auch kleinere Zeichengruppen ( auch
auf Fuerteventura), die an phönizische oder punische Buchstaben erinnern,
aber bisher keine einzige lesbare Zeile.
Nach heutigem Stand des Wissens lassen sich für die Kanarischen Inseln
folgende nachgewiesene Schriftsysteme unterscheiden:
1) Wölfels „megalithische Sinnschrift"
Darunter versteht man eine Gruppe von Punzierungen, die vor allem auf
La Palma (z.B. Belmaco) und Hierro (z.B. El Julan) vertreten sind. Sie zeichnen
sich durch immer wiederkehrende Formen (Kreise, Mäander, Spiralen
etc.) aus, die sehr stark an die Formenwelt megalithischer Bauten (Bretagne,
Irland etc.) erinnern. Ob diesen Zeichen Schriftcharakter zukommt, könnte
erst nach genauer Analyse des Zeichenrepertoires beurteilt werden. Grundvoraussetzung
dafür wäre eine vollständige Publikation der Bildflächen des
El Julan.
2) Latino-kanarische Schrift
Dieser erstmals zu Beginn der 80er Jahre aufgefundene Schrifttypus ist
bisher zweifelsfrei nur für die Inseln Lanzarote und Fuerteventura nachgewiesen.
Ein Neufund aufHierro (Nowak 1994: 113f) ist zwar lateinisch, sein
Alter jedoch fraglich.
3) Tifinagh
Für die rezente berberische Schrift Nordafrikas sind auf den Kanarischen
Inseln bisher nur sehr dürftige Belege publiziert worden. Die eine von Pallares
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Padilla (1991) unter der Fundortbezeichnung Llano de Zonzamas/Lanzarote
veröfentlichte Zeile, die wegen der Verwendung punktförmiger Zeichen am
ehesten in Frage kommt, konnte bisher bei keiner weiteren Begehung des
Geländes aufgefunden werden (sie soll allerdings nur ca. 3 cm hoch sein).
4) Libysch-berberische Schrift
Die autochthone antike Schrift Nordafrikas konnte bisher mit Ausnahme von
La Gomera für alle Kanarischen Inseln nachgewiesen werden.
• Nach jahrzehntelanger, sehr kontroverser Diskussion ( erste Funde vor über
100 Jahren!) kann nun der Nachweis erbracht werden, daß es sich sehr
wohl um „echte" libysch-berberische Inschriften handelt.
• Durch mehrere Digraphien kann weiters nachgewiesen werden, daß der
Großteil der Zeichen so zu transkribieren ist wie das massylische Alphabet.
• Durch statistische und linguistische Vergleiche können die nur für die Kanarischen
Inseln typischen Zeichen mit hoher Wahrscheinlichkeit transkribiert
werden.
• Damit ist es erstmals möglich, von einem kanarischen Alphabet der libysch-
berberischen Schrift zu sprechen und die z.T. schon seit vielen Jahrzehnten
bekannten Inschriften aber auch die Neufunde seriös zu lesen.
• Die These, daß die Schöpfer der latino-kanarischen und der libysch-berberischen
Inschriften identisch sind, wurde neben der syntaktischen Ebene
nun auch auf semantischer Ebene bekräftigt (z.B. durch das Vorkommen
identischer Personennamen).
• Auch die libysch-berberischen Inschriften ergeben ebenso wie die latinokanarischen
zahlreiche Personennamen, die in Nordafrika bestens dokumentiert
sind.
• Weiterhin spricht nichts dagegen, daß auch die libysch-berberische Schrift
zugleich mit der lateinischen (wahrscheinlich im 1.Jh. n.Chr.) aus Nordafrika
importiert wurde.
• Es wäre sicher noch viel zu früh, das Verhältnis des kanarischen Alphabets
zu den nordafrikanischen exakt definieren zu wollen. Nach gegenwärtigem
Wissensstand scheint es sich eher um eine eigene Gruppe innerhalb
der Alphabete des libysch-berberischen Typs zu handeln, die bisher keiner
der in Nordafrika bekannten zuzuordnen ist.
• Wenn die These stimmt, daß die Schöpfer der Inschriften (zumindest auf
Lanzarote und Fuerteventura) auch die lateinische Schrift beherrschten, so
kann es sich nur um ein Volk ( eine Volksgruppe etc.) handeln, das in engen
Kontakt zur römischen Besatzungsmacht geriet. Wenn man schon - auf
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einer Makro-Ebene - die östlichen Alphabete der Massylem und die westlichen
des Masaesylem zuordnen will, so wären in Hinsicht auf das kanarische
Alphabet zwei Modelle denkbar: 1) Es handelt sich auf der MakroEbene
um die Schrift eines weiteren nordafrikanischen Volkes (z.B. der
Gaetuler). 2) Es handelt sich auf einer Mikro-Ebene um die Schrift einer
der zahlreichen Volksgruppen der Massyler oder Masaesyler.
• Da die Inschriften außer den Personennamen ofensichtlich sehr wenige
Inhalte transportieren, sind klare Aussagen über die verwendete Sprache
äußerst problematisch. Dennoch gibt es Indizien dafür, daß es sich um die
antike libysche Sprache, bzw. eine dieser Sprache eng verwandte ( das Altkanarische
?) handelt. Leider sind unsere Kenntnisse vom Libyschen äußerst
fragmentarisch und es gibt auch keine inhaltlich vergleichbaren Felsinschriften
in Nordafrika. Allerdings besteht die Hofnung, daß Berberologen
dem spärlichen Sprachmaterial weitere Erkenntnisse entlocken
können.
Mit Spannung kann darauf gewartet werden, ob die gemeldeten, aber noch
nicht publizierten Neufunde aufTenerife und Gran Canaria die von mir formulierten
Thesen bekräftigen oder nicht.
Anhang: Versuch einer Systematik der libysch-berberischen Schrift
Bei den folgenden Betrachtungen wird im speziellen auf das „klassische"
massylische Alphabet Bezug genommen, die formulierten Aussagen bzw.
Thesen gelten aber auch für andere Alphabete der libysch-berberischen Gruppe,
also auch für das der kanarischen Inschriften.
Die libysch-berberische Schrift ist ein extrem stark auf Prinzipien der Geometrie
und Symmetrie aufgebautes Schriftsystem. Ein relativ geringes Basisrepertoire
an Zeichen erlaubt durch Drehungen um vertikale oder horizontale
Symmetrieachsen (90°) bzw. Drehung um 180° eine große Anzahl von Variationen.
Entscheidend dabei ist die Frage, ob die jeweilige Drehung auch mit
einer Änderung des phonetischen Wertes korrespondiert oder nicht. Mit diesen
Fragen der Gesetzmäßigkeiten, die der libysch-berberischen Schrift zugrundeliegen,
haben sich ansatzweise schon Marcy (1936:142f), Alvarez
Delgado (1964:59) und Galand (1966:16ff) beschäftigt.
Die Variationsmöglichkeiten eines Zeichens hängen von der Anzahl seiner
Symmetrieachsen ab: Je weniger Symmetrieachsen ein Zeichen hat, desto
mehr grafische Möglichkeiten der Darstellung gibt es.
1. Zeichen ohne Symmetrieachse:
• verhalten sich sensibel auf jede Art von Drehung
• zahlreiche Varianten sind möglich
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These 1:Alle Varianten eines Zeichens ohne Symmetrieachse sindAllographe
eines Graphems
Zeichen ohne Symmetrieachse sind im Libysch-Berberischen eine absolute
Ausnahmeerscheinung.
1.1 L
l -+ l
r- -+ r
J
l r
Dieser Buchstabe beruht auf einem Zeichen mit schräger Symmetrieachse,
wurde in dieser Form jedoch äußerst selten geschrieben. In der Praxis
wurden die waagrechten Hasten fast immer kürzer gehalten und nur jene
Varianten realisiert, bei denen diese Hasten in Schreibrichtung zeigen. Innerhalb
des RIL-Corpus sind die Varianten links und rechts (l, 1) etwa gleich
häufig vertreten.
1.2 N = VI = Z = :S:
Dieser Buchstabe wurde nicht nur in diesen vier Varianten, sondern auch in
schräggestellten (z.B. N oder V\) realisiert.
2. Zeichen mit einer Symmetrieachse:
• verhalten sich sensibel auf eine Drehung von 90° und 180°
• vier Varianten sind möglich
These 2: Alle Varianten mit horizontaler Symmetrieachse sind Allographe
eines Graphems. Eine Drehung um 180° bewirkt also keine Veränderung des
phonetischen Wertes:
2.1 :J = C:
2.2 3 = E
These 3: Eine Drehung um 90° bewirkt eine Änderung des phonetischen
Wertes. Die daraus resultierenden Varianten mit vertikaler Symmetrieachse
bezeichnen eigene Grapheme:
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2.3 LJ -:t- :J, C:
2.4 n * :::i, c:
2.5 LI -:t- 3, E
2.6 rn -:t- 3, E
These 4: Für alle übrigen Zeichen mit einer Symmetrieachse gilt theoretisch,
daß alle vier möglichen Varianten Allographe eines Graphems sind.
2.7 }:{ = X =:xi = 1><
2.8 1 = Jl = *= =
2.9 -r = . = = -1
In der Praxis wurde jedoch fast ausnahmslos nur eine Variante ( die mit
vertikaler Symmetrieachse) realisiert. Eine kleine Ausnahme bilden in dieser
Hinsicht die Varianten :xi und 1><: Unter den etwa 100 P/F-Zeichen in den Inschriften
des RIL gibt es diese Varianten jeweils etwa viermal. Darunter sind
allerdings einige sehr zweifelhafte Fälle, möglicherweise auch einige defekte
M. Aus eigener Erfahrung in der Dokumentationsarbeit weiß ich, daß die beiden
Zeichen 1>< und M gerade bei rauher Felsoberfläche bzw. hohem Verwitterungsgrad
sehr schwer zu unterscheiden sind. Daß :xi und 1>< einen eigenen
Laut bezeichnen, ist sehr unwahrscheinlich, möglicherweise handelt es sich
um Schreibfehler.
Im übrigen gilt für alle drei Zeichen, daß sie durch ihre Besonderheit der
selektiven Verwendung nur einer vertikalen Variante zur Bestimmung der
Schreibrichtung herangezogen werden können:
2.7: }:{ - die Öfnung weist in Schreibrichtung
2.8: 1 - der Pfeil weist in Schreibrichtung
2.9: -r - die waagrechte Haste weist in Schreibrichtung.
3. Zeichen mit zwei Symmetrieachsen:
• verhalten sich indiferent auf eine Drehung um 180°, jedoch sensibel auf
eine Drehung um 90°
• zwei Varianten sind möglich
These 5: Bei I und II bewirkt eine Drehung um 90° eine Änderung des phonetischen
Wertes
3.1 1 -:t- -
3.2
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3.3 11-:p. =
3.4
These 6: Bei den übrigen Zeichen bewirkt eine Drehung um 90° keine Änderung
des phonetischen Wertes
Realisiert wurden jedoch auch hier überwiegend die vertikalen Versionen:
bei H und 1111 ausschließlich, bei X und III sind sie deutlich häufiger als die
horizontalen.
3.5 H = I
3.6 1111 = §
3.7 III = =
3.8 Z =
3.9 + =-:-
4. Zeichen mit vier Symmetrieachsen:
• verhalten sich indifferent auf Drehungen um 90° und 180°
• es ist nur eine Version möglich
4.1 D
4.2 D
4.3 +
Drehungen um 45° wurden nur bei+ realisiert: x. Vieles spricht dafür, daß
es sich dabei um Allographe handelt. Schon in den südsemitischen Alphabeten
(Lihyanisch, Thamudisch etc.) sind beide Zeichen als Allographe eines
Graphems üblich. Der Hinweis Galands (1966:21), daß in IAM 5 beide Zeichen
unmittelbar nacheinander stehen, kann dadurch entkräftet werden, daß
das auch bei anderen Zeichenvarianten vorkommt: Auch der Vergleich von
IAM 2: W II+ und IAM 8: W II X spricht für die oben geäußerte Meinung.
Außer der Drehung um Symmetrie- und Mittelachsen sind im LibyschBerberischen
zwei weitere Möglichkeiten der Variation eines Zeichens zu
beobachten (Abb. 13).
a) rund statt eckig:
Diese Variation ist bei vielen Zeichen möglich und wurde auch bei fast allen
realisiert.
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These 7: Eckige und runde Varia